Von Walter Burkhardt – Schorndorf. Im Club Manufaktur in Schorndorf gab es am Sonntag, 20. März, eine szenische Lesung mit Kutlu Yurtseven, Gründungsmitglied der Kölner Rap-Band Microphone Mafia. Die Lesung war Teil des Rahmenprogramms zur Ausstellung „Die Opfer des NSU – und die Aufarbeitung der Verbrechen“ vom 14. bis zum 27. März an der Bilderwand der Manufaktur. Die Ausstellung fand parallel zu den internationalen Wochen gegen Rassismus statt.
Veranstalter waren das Schorndorfer Bündnis gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in Kooperation mit dem Club Manufaktur. Unterstützt wurde die Lesung vom Bündnis Zusammen gegen Rechts Rems Murr (ZgR) und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) Kreisvereinigung Rems-Murr.
Kutlu Yurtseven stellte sich dem Publikum als Gründungsmitglied der Rap-Band Microphone Mafia und als antifaschistischen Aktivisten vor. Beruflich arbeitet er als Ganztagskoordinator an einer Kölner Schule. Das autobiographische Buchprojekt „Eine ehrenwerte Familie“ sehen die beiden Autoren Kutlu Yurtseven und Rossi Pennino als musikalische Würdigung der Gastarbeiter-Generation und als antifaschistischen Kampf.
Kutlus Eltern kamen in der Zeit der „Gastarbeiter“-Anwerbung 1968 nach Deutschland. Kutlu erinnerte an die Aussagen seines Vaters zur Integration: „In Sprachkurse haben sie nie investiert, sie sagten mir: Mehmet, du bist nicht hier, um Deutsch zu lernen, sondern um zu arbeiten.“ Kutlu lebte 30 Jahre in Köln-Flittard, im Nordosten von Köln, im Schatten der Bayer-Werke, in einem behüteten Elternhaus. „So lange lebte ich bei meinen Eltern, bis ich Sibel geheiratet habe. Grundschule, Realschule, dann Abi gemacht, später gejobbt, studiert. Ok, irgendwann gehst du morgens raus und kommst abends wieder. Aber es war immer mein Zuhause…“ erzählt Kutlu.
„In der Grundschule, gleich in der ersten Klasse, traf ich auf diesen Rossi. Wir mochten uns bald und verstanden uns sehr gut, seit Ende der 70er kennen wir uns also. Schule, Straße, Bolzplatz, Jugendzentrum und irgendwann an den Mikros. Beide sind wir auch passionierte Fussballfans, ich Fan von Besiktas Istanbul, Rossi Fan vom SSC Neapel. Rossi bei uns zu Hause, ich bei den Penninos. Aber was erzähle ich das hier, das zieht sich ja durchs ganze Buch…“ Es ist die Geschichte einer ehrenwerten Familie.
Die Wurzeln der Microphone Mafia
1989 gründete Kutlu im Alter von 16 Jahren mit Rossi und vier anderen Freunden die Rapgruppe „Microphone Mafia“, eine der ersten Hip-Hop-Bands in Deutschland. Sie rappten auf Türkisch, Italienisch, Englisch und Deutsch. „Wir sprachen in unseren Liedern gesellschaftliche und politische Themen an. Wir rappten gegen Rassismus, verwendeten aber Begrifflichkeiten, die sich gegen andere Minderheiten richteten“, erzählte Kutlu.
In den 90er Jahren politisierte sich die Band zunehmend, vor allem als Reaktion auf die tagelangen rechtsextremistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im Jahr 1992 – unter dem Jubel von Hunderten „braven“ Bürgern und einer völlig überforderten Polizei, die den rechten Mob gewähren ließ und die Bewohner des bedrohten Asylbewerberheims der Todesgefahr überließ.
Der Brandanschlag 1993 auf ein von einer türkischen Familie bewohnten Haus in Solingen, bei dem drei Mädchen und zwei Frauen verbrannten, machte Kutlu und sein Umfeld wütend. „Wir gingen auf die Straße. Es war eben kein Einzelfall, sondern reiht sich ein in eine Serie von rassistischen Anschlägen: Hoyerswerda, Mölln, Rostock-Lichtenhagen“ erinnerte sich Kutlu an diese dunkle Phase der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Kutlu ist enttäuscht und wütend auf die Politik, die sich nicht um die Betroffenen oder die rassistischen Strukturen kümmerte, sondern das Grundrecht auf Asyl einschränkte und jegliche Verantwortung von sich wies. Auch Jahre später beim Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße (die zentrale Geschäfts- und Ladenstraße der türkischen Community) im Jahr 2004, bei der 22 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden, ermittelten die Behörden direkt und fast ausschließlich im Kreis der Betroffenen, statt eine rechtsextreme Tat in Betracht zu ziehen. In den Medien vermutete man „kriminelle Ausländermilieus“. Erst Jahre später stellte sich heraus , dass das Attentat dem neofaschistischen NSU zuzuordnen ist. Kutlu ist sich sicher, dass das kein naives Fehlverhalten der Ermittlungsbehörden war, sondern: „Sie wussten es von Anfang an.“
Die Polizei verdächtigte die Opfer
Kutlu, der lange in der Nähe der Keupstraße wohnte, gründete mit anderen später die Initiative „Keupstraße ist überall“. Aktuell kämpft die Initiative unter anderem für ein Denkmal. Nach Jahren des Streits scheint eine Einigung in Sicht. Ähnlich bewertet Kutlu auch die von Rassismus und Vorurteile geprägten polizeilichen Ermittlungen bei den neun vom NSU hingerichteten Migranten. Jahrelang konzentrierten sich die Ermittlungen auf das soziale Umfeld der Mordopfer, denen man ohne Beweise die Verstrickung in schwerkriminelle Milieus unterstellte. In den zentralen Ermittlungseinheiten, die sich „Halbmond“ oder „Bosporus“ nannten, arbeiteten vor allem Polizeibeamtinnen- und beamte, die auf „Organisierte Kriminalität“ spezialisiert und entsprechend voreingenommen waren. Die Angehörigen der Mordopfer waren daher neben ihrer Trauerbewältigung einem immensen psychischen und auch emotionalen Druck ausgesetzt. Sehr kritisch sieht Kutlu auch die Verstrickung der verschiedenen Verfassungsschutzämter der Bundesländer in den NSU-Komplex.
Auf ihrem langen Weg in über 30 Jahren wurden Microphone Mafia auch von Menschen begleitet, mit denen sie – ob länger oder kürzer – zusammen auf der oder vor der Bühne standen. Kutlu: „Wir kannten kein Konkurrenzdenken. Wir haben es geliebt, selber zu rocken, aber auch Bands vor der Bühne abzufeiern und zu unterstützen. Das sagen viele Künstlerinnen und Künstler noch heute zu uns: dass wir Solidarität nicht nur politisch, sondern auch musikalisch und künstlerisch leben.“ Von der ursprünglichen Band-Besetzung sind heute nur noch Kutlu und Rossi bei der Microphone Mafia dabei.
Esther Bejarano fand den Bandnamen bekloppt
Eine ganz besondere künstlerische und auch antifaschistische Form der Zusammenarbeit waren beziehungsweise sind die gemeinsamen Konzerte der Microphone Mafia mit Esther und Joram Bejerano. Dabei war der Erstkontakt zwischen Esther Bejerano und Kutlu eine ganz besondere Anekdote. Kutlu erinnert sich noch heute gerne an das erste Telefonat mit Esther: „Ich spulte erst mal den für mich seit Jahren völlig normalen Satz runter: Hier ist der Kutlu von der Microphone Mafia. Am anderen Ende war absolute Stille. Sie sagte erst mal nichts, als hätte sie schon aufgelegt. Nach einer gefühlten Ewigkeit dann die mürrische Antwort: Sagen Sie mal, warum ruft die Mafia bei mir an?! Was wolle Sie von mir? – Wir sind ’ne Band, wir machen Musik. Wir heißen nur so. Und überhaupt, wir sind die einzige Mafia, die die Welt braucht. Da meinte sie ungelogen: Das ist aber ein bekloppter Bandname.“
Kutlu erzählte: „Als wir 2007 die Bejeranos – Esther war als Jüdin Auschwitz-Überlebende, Künstlerin und politische Aktivistin und ihr Sohn Joram spielt Gitarre – kennenlernten, wer hätte da gedacht, dass wir mal zwei Alben zusammen machen würden? Dass wir mal gemeinsam über 800 Konzerte geben würden? Dass wir für Auftritte landauf, landab reisen, ins benachbarte Ausland, ja sogar auf Kuba spielen würden…“
Auch eine Gedenkveranstaltung
Kutlu weiter: „Meist fangen unsere Auftritte damit an, dass Mutti, wie wir Esther Bejerano irgendwann nannten, zunächst aus ihren Erinnerungen liest: Von Auschwitz bis zum Sieg über den Faschismus – meine Befreiung, meine zweite Geburt, wie sie sagt. Danach rappen wir an der Seite von Esther und Joram Bejerano zu Liedern gegen Faschismus und Krieg. Es ist unglaublich, welche Energie Esther an den Tag legte. Sie sang auch klassische jiddische Lieder, zu denen die Microphone Mafia, teils Türkisch, teils Deutsch, teils Italienisch rappte, eine verblüffende, mitreißende Kombination. Natürlich reagierten wir ebenso wie Esther dabei auf aktuelle Ereignisse. Die Stimme von Esther war klar und kraftvoll. Ihre Botschaft war eindeutig: Ich möchte nicht, dass nochmal so was geschieht, was geschehen ist. Und diese Situation, die wir momentan haben, mit AfD und dem ganzen Kram, das ist eine Katastrophe für uns.“
Leider hatte Kutlus Lesung auch den Charakter einer Gedenkveranstaltung für die unvergessliche Esther Bejerano. Die großartige Künstlerin, die überzeugte Antifaschistin und der wundervolle Mensch Esther Bejerano starb im Juli letzten Jahres im Alter von 96 Jahren. Noch kurz vor ihrem Tod stand sie mit der Microphone Mafia und Sohn Joram auf der Bühne. Mit ihr verstummte eine bedeutende Stimme gegen Faschismus, Rassismus und Antisemitismus und für eine bessere und friedliche Welt für immer. Wir werden sie im Kampf gegen die zunehmende Rechtsentwicklung in unserem Land schmerzlich vermissen.
Kutlu schloss sein Programm mit einigen Rap-Musikstücken aus der aktuellen Microphone Mafia-CD. Eine Besucherin fasste ihre Eindrücke des Abends so zusammen: „Es war ein beeindruckendes und auch sehr informatives Programm, eine kurzweilige Lesung mit bewegenden Inhalten…“
Folge uns!