Von Josef Mommert – Schorndorf. Ein, wie sich in der Diskussion herausstellte, hauptsächlich gewerkschaftliches Publikum war in die Manufaktur gekommen, um mit dem Autor und Sozialwissenschaftler Stefan Dietl einen Blick auf die Auswirkungen der Krise zu werfen – einer multiplen Krise, wie Dietl klar machte: Corona-Pandemie, die ökonomischen Folgen des russischen Angriffskrieges, die Umwelt- und Klimakrise und eine sich bereits vor der Pandemie abzeichnende zyklische Absatzkrise. Angesichts derer werde die Nation auf eine kommende Absenkung des Lebensstandards eingestimmt. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne): „Wir werden dadurch ärmer werden.“
Zunächst werden aber vor allem die Armen ärmer. Stefan Dietl zitiert eine Studie des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): Die anteilige Belastung der ärmsten 20 Prozent der Haushalte an der aktuellen Inflationsentwicklung ist nahezu fünf Mal so hoch wie die der 20 Prozent reichsten.
Der Grund ist einfach: Menschen mit geringem Einkommen geben fast 70 Prozent ihres monatlichen Einkommens für Dinge der Grundversorgung wie Lebensmittel, Energie und Mobilität aus. Bereiche, in denen in den vergangenen Monaten die Preise überproportional anstiegen.
Wie bedrohlich die Lage ist, erleben gerade die Tafeln, deren Kundschaft seit Jahresbeginn um 50 bis 100 Prozent gewachsen ist. Sie müssen Aufnahmestopps verhängen, Abgabemengen pro Haushalt reduzieren oder Fleisch und Gemüse rationieren.
Inzwischen aber stößt laut Dietl die soziale Verelendung zunehmend in die – insbesondere von der Politik- vielbeschworene Mittelschicht vor, das Wählerpotential vor allem der kleinen Ampelparteien. Und genau da setzten die bisherigen Maßnahmen der Regierung an.
Allzu drastisch darf die angekündigte „Delle im Wohlstandsleben“ nämlich nicht ausfallen, will man nicht den Unmut des Wahlvolks auf sich ziehen. Erst auf öffentlichen Druck – nicht zuletzt auch der Gewerkschaften – gab es im dritten Entlastungspaket ein paar Maßnahmen, von denen auch Geringverdiener profitieren.
Im Mittelpunkt der Maßnahmen der Bundesregierung stehe jedoch die Unterstützung der deutschen Wirtschaft mit dem Ziel, auch aus dieser Krise gestärkt hervorzugehen – sprich in der Weltmarktkonkurrenz weiter die Nase vorne zu haben und diesen Vorsprung auszubauen. Und während der Ruf nach „moderaten Lohnforderungen“ und Gehaltsverzicht in Krisenzeiten Tradition hat, findet es Dietl bezeichnend, dass niemand auf die Idee kommt, Gewinnverzicht zu predigen.
Dabei wachsen die Renditen der Kapitalbesitzer trotz Covid-19-Pandemie und Ukraine-Krieg nahezu unaufhaltsam. So planen die Dax-Konzerne, in diesem Jahr soviel Geld an ihre Aktionäre auszuschütten wie nie zuvor: 70 Milliarden Euro und damit doppelt soviel wie im vergangenen Jahr.
Dietl präsentiert eine beeindruckende Liste von Krisengewinnern mit Gewinnsteigerungen bis zu 500 Prozent: Shell Exxon, Total, RWE, Autokonzerne, Amazon, Deutsche Post, Waffenschmieden, Handelsunternehmen, Getreidehändler, Düngemittelhersteller – um nur die wichtigsten zu nennen.
Bevor er sich den gewerkschaftlichen Herausforderungen angesichts dieser Situation widmet, mach Dietl einen Exkurs zur AfD. Er warnt davor, der Selbstinszinierung der AfD auf den Leim zu gehen und zu glauben, dass es sich bei dem, was die AfD da organisiert und wo sie unbestritten nicht nur im Osten der Republik Zulauf hat, tatsächlich um Sozialproteste handelt. Denn tatsächlich spielen soziale Forderungen bei diesen Protesten keine Rolle. Dietl hat alle großen Demonstrationen beobachtet. Es ging ums Öffnen von Nord Stream 2, Frieden mit Russland, das Ende der Nato, Schluss mit dem Klimaschutz, aber mit keinem Wort um soziale Forderungen. Es ging schlichtweg um eine autoritäre, nationalistische Mobilisierung.
Für die Gewerkschaften hat Dietl, selbst aktiver Gewerkschafter, Lob und deutliche Kritik. Lob, weil er sieht, dass die größten sozialen Proteste, die größte soziale Bewegung in diesem Herbst und Frühjahr die Tarifbewegungen sein werden, vor allem in den beiden Leitbranchen Metall/Elektro und Öffentlicher Dienst, aber nicht nur dort. Er betont das, weil er glaubt, dass diese Arbeitskämpfe in ihrer Dimension als soziale Proteste, als fortschrittlicher Kampf gegen die Abwälzung der Krisenkosten vielfach unterschätzt werden.
Kritik übt er an der gesellschaftspolitischen Lethargie der Gewerkschaften, von denen für die Krisenpolitik der Bundesregierung vor allem Lob zu hören ist. Statt auf Konfrontation setzen die deutschen Gewerkschaften in der derzeitigen Krise auf den Schulterschluss mit dem Staat.
Um aber das Abwälzen der Krisenkosten auf die Lohnabhängigen zu verhindern, so Dietl, müssen die Gewerkschaften zur Organisation sozialer Gegenmacht werden, die kämpferisch, konfrontativ und offensiv für ihre Forderungen eintritt.
Daher fragt er: „Wann, wenn nicht jetzt sollten wir die Enteignung der großen Immobilienbesitzer auf die Agenda setzen? Die Rückführung der Energieversorgung in öffentliche Hand. Oder die Vergesellschaftung von Wohnraum. Oder ganz klassisch: Die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien? Wann, wenn nicht jetzt?“
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