Von Sahra Barkini – Stuttgart. Am Abend der Urteilsverkündung im Antifa-Ost-Verfahren versammelten sich am 31. Mai auf dem Stuttgarter Marienplatz 280 AntifaschistInnen, um sich solidarisch mit Lina E. und den anderen Verurteilten zu zeigen.
Lina E. und ihre Mitangeklagten wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt. Lina E. zu fünf Jahren und drei Monaten, die drei Mitangeklagten wurden mit bis zu drei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Allerdings ist damit zu rechnen, dass Lina E. nicht die gesamte Haftzeit absitzen muss. Die zweieinhalb Jahre U-Haft könnten angerechnet und das letzte Drittel könnte zur Bewährung ausgesetzt werden, da sie nicht vorbestraft war.
Für den Moment ist Lina E. erst einmal frei. Nach mehr als rekordverdächtigen neun Stunden Urteilsverkündung setzte Richter Hans Schlüter-Staats zu seiner letzten Amtshandlung im Prozess gegen die 28-jährige Leipzigerin und drei Mitangeklagte an und setzte ihren Haftbefehl gegen Auflagen außer Vollzug. So berichtete es die „taz“.
Parallelen zum Stuttgarter „Wasenverfahren“
„Freiheit für alle politischen Gefangenen“ schallte es bei der Kundgebung in Stuttgart immer wieder über den Platz. In Reden wurde auch an die inhaftierten Stuttgarter Antifaschisten Linus, Dy und Jo erinnert. Das sogenannte „Wasenverfahren“, im Zuge dessen Jo und Dy ebenfalls zu sehr hohen Haftstrafen verurteilt wurden, war ebenso wie das Verfahren gegen Lina E. und die anderen ein reines Indizien-Verfahren (wir berichteten: https://beobachternews.de/2021/10/13/fuenfeinhalb-und-viereinhalb-jahre-gefaengnis-ohne-handfeste-beweise/).
Seit November 2020 war Lina E. inhaftiert. Die Studentin der Erziehungswissenschaften wurde damals in ihrer Wohnung in Leipzig-Connewitz verhaftet und sehr öffentlichkeitswirksam mit dem Hubschrauber nach Karlsruhe geflogen. Die Medien stilisierten sie schnell zum Aushängeschild. So hatte für die bürgerliche Presse die „linksextreme Szene“ nun endlich ein Gesicht. Es gab eine große Solidaritätskampagne, die über die Grenzen der BRD hinaus ging. Der Slogan „FreeLina“ verbreitete sich.
Im September 2021 begann der Prozess vor dem Oberlandesgericht Dresden – wie zuvor auch im Wasenverfahren – im Hochsicherheitssaal. Die Vorwürfe gegen die vier Angeklagten Lina E., Lennart A., Jannis R., Philipp M. lauteten Bildung einer kriminellen Vereinigung (§129a/b) und sechs schwere Angriffe auf Rechtsextreme in Leipzig, Eisenach und Wurzen zwischen 2018 und 2020 verübt zu haben. Laut Anklage war Lina E. die Anführerin gemeinsam mit ihrem Verlobten Johann G. Er ist seit drei Jahren untergetaucht.
Beweise? Fehlanzeige!
Das gesamte Verfahren stützte sich auf Indizien. So konnten Opfer und ZeugInnen die vermummten Angreifer nicht erkennen. Klare Beweise gab es nicht. Die Aussagen der angegriffenen Rechtsextremen sind wohl mit Vorsicht zu genießen. So sitzt der Eisenacher Leon R. selbst in Haft – ebenfalls unter dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung (§129a). Der Kronzeuge der Staatsanwaltschaft Johannes D. war ein ehemaliger Genosse von Lina E., der aus der Szene nach Vergewaltigungsvorwürfen verstoßen worden war. Vor den ErmittlerInnen belastete er Lina E. und ihren Verlobten schwer. Dem Richter erschien das schlüssig.
Der Verteidiger der Hauptangeklagten, Ulrich von Klinggräff, kündigte Revision gegen das Urteil an. Für ihn sei es ein „eklatantes Fehlurteil“. Die fünf Jahre Haft, gestützt auf bloße Indizien, seien nicht akzeptabel. Bis das Urteil rechtskräftig ist, bleibt Lina E. unter Auflagen in Freiheit. Der überall präsente Schriftzug „FreeLina“ wurde erst einmal wahr.
Antifaschismus bleibt notwendig
Davon ahnten die Stuttgarter KundgebungsteilnehmerInnen am Mittwochabend noch nichts. In verschiedenen Redebeiträgen unter anderem der Roten Hilfe, der Solidaritätskampagne „Antifa bleibt notwendig“ und des AABS (Antifaschistischen Aktionsbündnisses Stuttgart und Region) wurde die Notwendigkeit eines konsequenten Antifaschismus betont und die Solidarität mit allen Betroffenen bekundet. In der Rede des AABS hieß es, aktuell kippe die Stimmung „mal wieder“. So komme quer durch alle Parteien und einige Medienhäuser wieder die altbekannte Rhetorik von „das Boot ist voll“ durch. Mehr oder weniger offen werde gegen Geflüchtete gehetzt. Der Redner sagte: „Aus dieser Stimmung – die nicht von den rassistischen Stammtischen kommt, sondern aus den höchsten Etagen dieses Staates – entwickelt sich bei den Rechten und Nazis wieder die Sicherheit, offener auftreten zu können.“ Weiter sagte er: „Unsere allergrößte Waffe im Kampf gegen den Faschismus ist nicht die eine oder die andere ‚perfekte‘ Aktion, die alles andere in den Schatten stellt, sondern das ist unsere Einheit und unsere Ausdauer! Der antifaschistische Kampf lebt davon, dass er mit langem Atem überall geführt wird, wo Leben ist. An jedem Ort auf verschiedenen Ebenen.“ Deshalb dürfe man keine Spaltung zulassen und sich auch nicht gegeneinander ausspielen lassen, sondern müsse entschlossen zusammenhalten, wenn der Staat oder die Rechten einige angreifen.
Eine Rednerin der Solidaritätskampagne „Antifa bleibt notwendig“ blickte auf die Rolle des Staates und der Medien in und während dieses Verfahrens. So habe der Staat deutlich gezeigt, wie er gegen selbstorganisierte AntifaschistInnen vorgeht. Einerseits durch massive Überwachungsmaßnahmen mithilfe des „Schnüffelparagraph 129“, dann in einem Verfahren mit über 100 Prozesstagen und einem Verräter als Kronzeugen und letztendlich mit hohen Haftstrafen. Dieser „politische Verfolgungseifer“ richte sich gegen einen kämpferischen und selbstorganisierten Antifaschismus. Das solle die antifaschistische Bewegung im Osten großflächig destabilisieren, kriminalisieren und letztendlich spalten.
Weitermachen nicht als hohle Phrase – zusammenschließen und organisieren
Bewusst sei an Lina, Lennart, Jannis und Philipp ein Exempel statuiert worden. Gezielt seien Infos an die Presse weitergeleitet worden, um das mediale Bild zu stützen. Rechte Medien und die Boulevard-Presse hätten dabei gerne mitgemischt. So veröffentlichten sie Namen und private Fotos der Angeklagten. Es entstanden reihenweise reißerische und hetzerische, oftmals vor Sexismus strotzende Artikel. Durch medial hochgepushte Bilder sei die Nähe zwischen Antifaschismus und Terrorismus konstruiert worden, um so die Bewegung zu spalten und in der Öffentlichkeit eine ablehnende Haltung gegenüber Antifaschismus zu erreichen. Aber, so die Rednerin: „Wenn dieser Staat versucht, uns mit Repression zu überziehen und einzuschüchtern, in Gut und Böse zu spalten und Antifaschismus auf allen Ebenen zu kriminalisieren, dann muss es darum gehen weiterzumachen. Weitermachen nicht als hohle Phrase, sondern ganz konkret in der alltäglichen Arbeit, auf der Straße und in politischen Prozessen. Weiterhin entschlossen und konsequent gegen Nazis vorgehen und ihnen nicht die Straße überlassen. Weiterhin an einer starken linken Bewegung arbeiten und uns zusammenschließen und organisieren. Weiterhin solidarisch zusammenstehen, trotz Repression und Knast. Weiterhin natürlich auch Freiheit für alle Antifas, Freiheit für alle politischen Gefangenen.“
Polizeifilmerei ohne rechtlich ersichtliche Grundlage
Im Anschluss an die Kundgebung setze sich eine kurze Spontandemonstration bis zur Paulinenbrücke in Bewegung. Die Parolen „Siamo tutti Antifascisti“, „Freiheit für alle politischen Gefangenen“, „Ob Ost, ob West, nieder mit der Nazipest“ führten zu positiven Reaktionen bei PassantInnen.
Die Stuttgarter Polizei, die ungewöhnlich zurückhaltend auftrat, ließ es sich dennoch nicht nehmen, die Spontandemonstration und die TeilnehmerInnen zu filmen. Für dies gab es keinen ersichtlichen Grund und es geschah daher augenscheinlich ohne rechtliche Grundlage. Das Filmen von DemonstrationsteilnehmerInnen ist der Polizei nur bei einer schweren Gefährdung der öffentlichen Ordnung erlaubt.
- Polizeifilmerin…
- … in Aktion
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