Von Gül Güzel – Stuttgart. Etwa 200 Männer und Frauen kamen am Freitag, 4. März, am späten Nachmittag zu einer Kundgebung auf den Stuttgarter Schlossplatz. Ihr Protest richtete sich gegen die Angriffe der türkischen AKP-Regierung auf Sur, die Altstadt und das Herz der kurdische Stadt Diyarbakir. Aufgerufen hatte die Union der Demokratischen Kräfte Stuttgart.
Es dürfte am schlechten Wetter gelegen haben, dass sich nicht mehr Menschen auf dem Stuttgarter Schlossplatz einfanden, um gegen den türkischen Staatsterror in den von Kurden bewohnten Gebieten zu protestieren. Die TeilnehmerInnen der Kundgebung drängten sich unter Regenschirmen zusammen, skandierten aber dennoch Parolen wie „Kriegsverbrecher, Mörder Erdogan“ oder „Hoch die internationale Solidarität“.
Es gab mehrere Reden. Außerdem wurde an die PassantInnen ein Aufruf zum Protest verteilt, der eher einem Hilferuf gleicht und den die Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP) Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag verfasst haben. Er richtet sich gegen die verhängten Ausgangssperren in kurdischen Städten, in denen bereits 290 EinwohnerInnen ums Leben kamen. In Sur, einem Stadtteil von Diyarbakir, gilt die Ausgangssperre ohne jedes verfassungsrechtliche Fundament bereits seit 90 Tagen. Sur gleiche einer Armeefestung. Jedes soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben sei erloschen.
Der Aufruf von Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag im Wortlaut:
HDP: Wir müssen ein Massaker in Sur stoppen!
Bis zum heutigen Tage sind in 21 Landkreisen einschließlich vieler Stadtteile von 7 kurdischen Provinzen 58 mal Ausgangssperren verhängt und 290 personalisierte Einwohner ermordet worden. Der Ausnahmezustand und damit eine Ausgangssperre in Sur, ein Stadtteil von Diyarbakir, wird schon seit 90 Tagen aufrecht erhalten. Der Gouverneur von Diyarbakir hat am 2. Dezember 2015, ohne irgendein ein gesetzliches oder verfassungsrechtliches Fundament, eine Ausgangssperre in Sur ausgerufen. Seit dieser Ausgangssperre sind in Sur 24 personalisierte Zivilopfer zu beklagen.
Der Stadtteil Sur gilt aufgrund kultureller, soziologischer und wirtschaftlicher, sowie der geschichtlicher Hintergründe als das Herz von Diyarbakir. Der momentan ausgerufene Ausnahmezustand in Sur gleicht einer Armeefestung, da es vom türkischen Militär eingekesselt ist. Die Ausgangssperren wiedersprechen der türkischen Verfassung, in dem das Recht auf Leben, Gesundheit, Bildung und Reisefreiheit den Menschen als Grundrecht zugesichert wird. Es widerspricht zu dem der Meinungsfreiheit, die der Staat den Bürgern gewähren sollte.
Sur ist mittlerweile ein Stadtteil geworden, an dem das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben aufgehört hat zu existieren, weil die Menschen von Trinkwasser und Elektrizität abgeschnitten, die Apotheken und Bäckereien geschlossen und täglich Kinder, Frauen und ältere Menschen vor den Augen der Welt schikaniert und ermordet werden. Die Soldaten, Polizei und Paramilitärische Gruppen haben sich verbündet, um die Bauten und Denkmäler der antiken Stadt zu zerstören. Der unter UNESCO Weltkulturerbe stehende Stadtteil Sur wird durch die Geschosse der Panzer regelrecht bis zum Unverkennbarem zerstört.
Viele alte unter Denkmalschutz stehenden religiösen Bauten mitten in Sur, wie die 500 Jahre alte Kursunlu Moschee, Hasirli Moschee, die 1700 Jahre alte Saint Mary Kirche, Surp Giregos Kirche und die protestantischen Kirchen werden regelrecht zerstört und unbenutzbar in Schutt und Asche hinterlassen.
In der Stadt Cizre, welches immer noch unter der Ausgangssperre leidet, sind in dem Gräueltat Keller 178 Leichen geborgen worden. Laut Familienangehörigen waren die Leichen so schwer verbrannt, dass sie während der Autopsie nicht identifiziert werden konnten. Die verbrannten Leichen wurden für Autopsieuntersuchungen in verschiedene Städte der Türkei transportiert, was den Angehörigen zusätzlicher Folter gleich kam.
Damit so ein Leiden nicht auch den Menschen und Familien in Sur wiederfährt, appellieren wir für eine sofortige Aufhebung der Ausgangssperren. In Cizre wurde vor den Augen der Welt ein Massaker an kurdischen Zivilisten durchgeführt. Um dies in Sur zu verhindern, muss die Ausgangssperre sofort aufgehoben werden. Weiterhin muss die Militärblockade aufgehoben und Menschen, die sich in Gefahr befinden, in Sicherheit gebracht werden.
Die aktuellen Gräueltaten in Sur sollte die ganze Weltbevölkerung interessieren. Um die Sicherheitsstandards in der Türkei und den Nachbarländern aufrecht zu erhalten bzw. friedlich zu gestalten, bedarf es einer weltoffenen Politik mit den jeweiligen politischen Akteuren in den Ländern und einem Appell an die Weltöffentlichkeit, die mehr Verständnis gegen diese Bluttaten an der kurdischen Bevölkerung zeigen sollte.
Angesichts der Entwicklungen in der Türkei ist es dringend notwendig eine klare Haltung für Freiheit, Frieden und Demokratie einzunehmen.
Wir rufen alle nationalen und internationalen Verbände und Institutionen auf, sich öffentlich gegen die politische und menschliche Gräueltaten in Sur zu mobilisieren und Solidarität mit den leidenden Menschen in Sur zu zeigen.
Figen YÜKSEKDAG Ko-Vorsitzende derDemokratischen Partei der Völker
Selahattin DEMIRTAS Ko-Vorsitzender der Demokratischen Partei der Völker
Veröffentlicht von der ISKU Informationsstelle Kurdistan e.V. am 1. März 2016
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