Ellwangen. Die BewohnerInnen der Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) Ellwangen laden für Mittwoch, 9. Mai 2018, um 17 Uhr zu einer Pressekonferenz ein und rufen ab 18 Uhr zu einer Demonstration auf. Zwischen 12 bis 18 Uhr findet auf dem Marktplatz in Ellwangen eine Mahnwache statt.
Nach Mitteilung der Aktion Bleiberecht wird die Pressekonferenz direkt vor der LEA Ellwangen (Georg-Elser-Straße 2) stattfinden. Dort soll auch die Demonstration beginnen. Im Aufruf heißt es: „Wir rufen alle demokratisch gesinnten Menschen auf, sich an der Demonstration zu beteiligen und diese zu beschützen. Unterstützen sie unseren gerechten Protest und hören sie uns zu, was wir als Betroffene zu dem Polizeieinsatz zu sagen haben. Viele von uns sind durch den bürgerkriegsähnlichen Polizeieinsatz tief verunsichert.“
Spontaner Protest gegen Abschiebungsversuch
Am Montag, 30. April, gegen 2.30 Uhr sollte ein Togoer von der Polizei aus der LEA abgeholt werden. Der Protest entstand nach Aussagen von BewohnerInnen spontan. Einige Abschiebungen bei dem die Polizei laut und aggressiv vorgegangen sei, hätten sie schon erlebt. Ihr Protest sei bestimmt, aber zu jedem Zeitpunkt friedlich gewesen. Vorwürfe, jemand sei gegen die Polizei mit Gewalt vorgegangen seien falsch und hätten sich auch nicht bestätigt. Falsch sei auch, dass die Person die man abschieben wollte, bereits im Polizeiauto saß. Der Togoer sei entfernt neben ihnen in Handschellen gestanden. Die Polizei habe während des Protests die LEA verlassen und habe einem dort beschäftigten Security-Mitarbeiter die Schlüssel für die Handschellen gegeben. Der Togoer sei, nach dem die Polizei sich entfernt habe, noch etwa eineinhalb Stunden in Handschellen geblieben, bis die Security ihm diese abgenommen hätten. Der Betroffene sei auch nicht untergetaucht, wie behauptet wurde. Niemand sei bei diesem spontanen politischen Protest zu Schaden gekommen.
Polizisten und bewaffnete Spezialkräfte stürmen LEA
Am Donnerstag, 3. Mai, sei es dann in der Nacht zwischen 3 und 4 Uhr zu einem Polizeieinsatz an dem mehrere hundert Polizisten und bewaffnete Spezialkräfte beteiligt gewesen waren gekommen. Auch ein Polizeihubschrauber sei dabei im Einsatz gewesen. Ziel seien drei Gebäude, wovon 292 Personen betroffen gewesen sein sollen. In den Gebäuden habe sich die Polizei vor sämtlichen Türen positioniert, und zeitgleich alle Türen eingeschlagen. Dies sei geschehen, obwohl man die Türen in der Einrichtung gar nicht abschließen könne. Alle BewohnerInnen seien im Bett gewesen. Die Polizei habe mit Taschenlampen geleuchtet. Niemand habe sich anziehen dürfen. Alle hätten die Hände in Höhe halten müssen und seien gefesselt worden.
Die Zimmer seien durchsucht worden. Viele seien bei der Polizeiaktion verletzt worden. Wer Fragen stellte habe hätte mit Gewalt rechnen müssen. Die BewohnerInnen erklärten: „Wir dachten es handelt sich um eine großangelegte Abschiebeaktion. Wie wir später erfuhren, durften die BewohnerInnen der Nachbargebäude ebenfalls die Gebäude nicht verlassen. Die Polizei unterstellte in einer Pressemitteilung wir hätten Waffen und gefährliche Gegenstände. Nichts von dem ist wahr, nichts wurde bei den Durchsuchungen gefunden. Mehr dazu erfahren Sie am Mittwoch bei der Pressekonferenz.“
- Zerstörte Türe – Fotos: Aktion Bleiberecht
- Verletzte …
- … BewohnerInnen
„Politisch motiviert und inszeniert“
Die BewohnerInnen resümieren zu den Ereignissen: „Wer auch immer diesen Polizeieinsatz zu verantworten hat, er war politisch motiviert und inszeniert. Die bundesweite Berichterstattung und Diskussionen über eine nächtliche spontane, friedliche und politische Aktion, zeigt, wie stark dieses Land mit fremdenfeindlichen Ressentiments aufgeladen ist. Viel wurde in den letzten Tagen über uns geredet. Niemand hat uns nach unserer Meinung gefragt. Am Mittwoch möchten wir über die Polizeiaktion und über unsere Situation in der Landeserstaufnahmeeinrichtung sprechen. Wir hoffen, es werden uns viele zuhören.“
Nachstehend dokumentieren wir die Stellungnahme des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg zu den Ereignissen in der Erstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen:
„Am Montag haben Bewohner*innen der Erstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen die Abschiebung eines togoischen Geflüchteten verhindert. Der Mann sollte entsprechend der Dublin-Verordnung ohne inhaltliche Prüfung seines Asylantrages nach Italien überstellt werden, wo bekanntlich eine menschenwürdige Unterbringung und soziale Versorgung oftmals nicht gesichert ist und selbst anerkannte Flüchtlinge an den Bahnhöfen sitzen und um Weißbrot betteln müssen. Auch in anderen europäischen Staaten, etwa in Bulgarien oder Ungarn, finden Geflüchtete oft keine menschenwürdigen Lebensperspektiven vor, mitunter kommt es von dort aus zu rechtswidrigen Rücküberstellungen in nicht-EU-Staaten oder gar in die Herkunftsländer.
Der verzweifelte Versuch, sich dagegen aufzulehnen, und die Solidarisierung zwischen Menschen, die sich in der gleichen Lage befinden, wird von Scharfmachern in Polizei, Medien und Politik verteufelt, deren Interpretation der Ereignisse dem rassistischen Stereotyp des gewalttätigen, wilden, bedrohlichen „Schwarzafrikaners“ folgen und ein „wir“-gegen-„die Fremden“-Szenario aufbaut, in dem es darum geht, sich mit Stärke, Gewalt und Dominanz zu behaupten. Menschen, die aus Angst und Verzweiflung handeln, werden als Bedrohung dargestellt, die es mit demonstrativer Machtausübung kleinzukriegen gilt.
Die reflexartigen Reaktionen der üblichen Verdächtigen basierten zumindest in Teilen auf Behauptungen, die sich im Nachhinein als falsch erwiesen. So gab es weder Angriffe auf Polizist*innen, noch wurden Waffen gehortet, noch wurden beim Großeinsatz am Donnerstag drei Polizist*innen verletzt, sondern nur einer, und das ohne Fremdeinwirkung.
In den Erstaufnahmeeinrichtungen werden Menschen zunehmend ihrer Würde beraubt und mit Schikanen und Repressionen überzogen. Breite Empörung in der Öffentlichkeit herrscht aber nur, wenn sich jemand für einen kurzen Moment gegen sein fremdbestimmtes Schicksal auflehnt. Dann wird voller selbstgerechter Empörung auf den „bösen Fremden“ gezeigt.
Die Reaktion auf die Ereignisse in Ellwangen sagt weit mehr über den verrohten Zustand der deutschen Gesellschaft im Jahr 2018 aus als über das vermeintliche Wesen der routinemäßig zum homogenen Kollektiv konstruierten Geflüchteten. Wer dem Livestream der Pressekonferenz am Donnerstag bei Facebook folgte, sah einen Mikrokosmos des Zustands der aktuellen deutschen Gesellschaft: die Verantwortungsträger gaben ihre Sicht der Dinge wider, während in den Kommentaren daneben der Bürgermob sie dafür verhöhnte, nicht noch autoritärer durchzugreifen und sich bis hin zu Tötungsphantasien reinsteigerte. Es war wie eine Liveübertragung des Abdriftens einer Gesellschaft in die Barbarei.
Es ist schwierig, Forderungen nach einer Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit ernstzunehmen, wenn im gleichen Atemzug gefordert wird, alle Beteiligten als Strafe sofort abzuschieben, ihnen sämtliche Leistungen zu streichen, sie zu Zwangsarbeit zu verdonnern oder was auch sonst teilweise für kreativ-menschenverachtende Ideen die laufende Debatte schon hervorgebracht hat. Es drängt sich der Eindruck auf, dass das Beschwören des Rechtsstaats in diesem Fall nur ein Mittel ist, um die eigentliche Frage, nämlich der Sinnhaftigkeit und Zumutbarkeit von Dublin-Überstellungen nach Italien, zu umgehen und eine politische Frage zu entpolitisieren. Wenn es um rechtlich fragwürdige Praktiken seitens der Behörden gegenüber Menschen in den Erstaufnahmeeinrichtungen geht, bleibt der Aufschrei meist überschaubar. So wird es wohl auch sein, wenn die geplanten Anker-Zentren mit ihren effektiven Maßnahmen der Abschottung vielen Geflüchteten den Zugang zu rechtlicher Beratung und Beistand verwehren werden. Bereits jetzt wird unseren Kolleg*innen vom Bayerischen Flüchtlingsrat nicht erlaubt, in Seehofers modellhaften „besonderen Aufnahmeeinrichtungen“ in Bayern Menschen zu beraten und über ihre Rechte aufzuklären. In diesem Zusammenhang wird die Ausweitung rechtsfreier Räume in Erstaufnahmeeinrichtungen von den gleichen Personen bejubelt, die sich in Bezug auf die Ereignisse in Ellwangen darüber beklagt haben.
Das alles spielt in der Debatte um Ellwangen jedoch überhaupt keine Rolle.
Die derzeitige politische Kampagne stellt den widerlichen Versuch dar, Geflüchtete weiter zu kriminalisieren und sich ein „law-and-order-Image“ zu verschaffen in der verzweifelten Hoffnung, damit der AFD den Rang abzulaufen. Jetzt erst recht braucht es ein Bündnis aller Kräfte, die die Menschenrechte der betroffenen Geflüchteten ernst nehmen und verteidigen.“
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