Von Jens Volle – Stuttgart. Gedenken allein reicht nicht: Zum 70. Jahrestag des Atombombenabwurfs über Hiroshima und Nagasaki gab es am Mittwoch, 5. August, in Stuttgart eine Friedensradtour. Zu ihr aufgerufen hatten die deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen, Ohne Rüstung Leben (ORL) und die VaihingerInnen für den Kopfbahnhof.
Etwa 15 Menschen trafen sich vor dem EUCOM in Vaihingen, der Einsatzzentrale der US Armee für Europa. Gemeinsam fuhren sie mit dem Rad nach Stuttgart zum Marktplatz. Dort hielten sie eine Zwischenkundgebung vor dem Rathaus ab. Dabei betonte Paul Russmann, ORL, dass es nicht ausreiche, des schrecklichen Atombombeneinsatzes nur zu gedenken. Noch immer seien tausende Atombomben einsatzbereit überall auf der Welt. Es müsse umgehend abgerüstet werden, um die Gefahr eines Atomkrieges in Zeiten von globalen Krisen, Kriegen und Terrorismus endgültig zu bannen.
Etwa 35 Menschen beteiligten sich an der Kundgebung. Danach ging es per Fahrrad weiter nach Esslingen zur Abschlusskundgebung im Rahmen der Veranstaltung „Nacht der 70000 Kerzen“ mit über hundert Menschen.
Die Rede von Paul Russmann vor dem Rathaus in Stuttgart im Wortlaut:
„Wir stehen heute hier, weil wir mit der Nacht der 70 000 Kerzen der Opfer der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gedenken wollen, die sich in diesem Jahr zum 70. Male jähren. Wir stehen hier an diesem Abend, weil wir eine Verbindung zu den großen Gedenkfeierlichkeiten herstellen wollen, die fast zeitgleich um 8.15 Uhr Ortszeit in Hiroshima Memorial-Park begangen werden.
Neben unseren Kerzen brennen heute und in den nächsten Tagen Kerzen in 40 Städten. Sie brennen vor Rathäusern, auf Teichen und Flüssen, so auch heute Abend in Esslingen, auf dem Neckarkanal. Mit der „Nacht der 70 000 Kerzen“ knüpfen wir an eine Tradition aus Japan an, wo jedes Jahr am Hiroshima-Tag auf Flüssen schwimmende Kerzen angezündet werden, ein Symbol für die vielen Menschen, die im kühlenden Wasser des Meeres Rettung vor dem atomaren Feuer suchten.
Am 6. und 9. August 1945 wurden die Städte Hiroshima und Nagasaki jeweils durch eine einzige Bombe völlig zerstört. Wir gedenken der über 200 000 Toten in Hiroshima und Nagasaki. Wir gedenken auch der Hunderttausenden von Menschen, die nicht sofort starben, sondern für den Rest ihres Lebens an Krankheiten und Ängsten litten und heute noch leiden – an Ängsten, die aus den Folgeschäden der radioaktiven Strahlung resultieren.
Wir hören die Worte eines Zeitzeugens des atomaren Infernos.
Worte aufgeschrieben von Sadako Kurihani:
„Helft Ihnen es zu ertragen
Es war nachts im Gewölbe einer Ruine.
Die Atombombenopfer drängten sich dicht an dicht.
Ein dunkles Gewölbe, wo kein Kerzenschein hinfand.
Geruch nach Blut und Leichen.
Aus der zusammengewürfelten Menge,
die nach Schweiß und Unrat stank,
drang eine helle Stimme an unser Ohr:
„Hier wird ein Kind geboren!“
In diesem Verlies, wie aus dem Grund der Hölle,
in diesem Augenblick gebar eine junge Frau.
In dieser Dunkelheit, ohne das kleinste Licht.
Was war da zu tun?
Jeder spürte die Angst, vergaß die eigene Pein.
Dann eine Stimme: „Ich bin Hebamme, ich helfe Dir“.
Die Stimme einer tödlich Verletzten,
eben noch stöhnend.
In der tiefsten Finsternis der Hölle
kam ein neues Leben auf die Welt.
Die Hebamme mit Blut bedeckt,
erlebte den Morgen nicht mehr.
Helft Ihnen, es zu ertragen,
helft ihnen zu leben.
Und wenn es unser Leben kostet!“
Gedenken allein genügt nicht. Wir stehen hier, weil es auch 70 Jahre nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki keinen Grund zur nuklearen Entwarnung gibt:
Auf diesem Planeten gibt es immer noch ungefähr 16 000 Atomsprengköpfe, genug, um die gesamte Menschheit und die Erde mehrfach zu vernichten. 1800 Atomwaffen befinden sich weltweit in höchster Einsatzbereitschaft. Sie können die Welt binnen Minuten in ein Armageddon verwandeln:
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet Atomwaffen als „die größte unmittelbarste Bedrohung für die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschheit.
Es ist offensichtlich, dass kein Gesundheitssystem der Welt in der Lage wäre, die Hunderttausenden Menschen, die durch die Druckwelle, Hitze oder Strahlung von auch nur einer einzigen 1-MTBombe schwer verletzt wurden, adäquat zu versorgen. Zur unmittelbaren Katastrophe kommen die Langzeitfolgen für die Umwelt. Hungersnöte und Krankheiten würden sich ausbreiten, die Sozial- und Wirtschaftssysteme wären völlig zerstört.“
Unser Engagement für eine atomwaffenfreie Welt ist gefragt. Denn die Uhr tickt. Im Januar wurde die Doomsday Clock/Atomkriegsuhr in New York auf drei Minuten vor Zwölf vorgerückt. Auf dieser Uhrzeit stand der Zeiger zuletzt 1984, dem Höhepunkt der atomaren Konfrontation.
Doch statt abzurüsten steht ein neues nukleares Wettrüsten vor der Tür. „Modernisierung“ und „Lebenszeitverlängerung“ sind die verharmlosenden Tarnbegriffe für die neue mörderische Perfektion des Tötens. Diese betrifft auch die in Büchel/Eifel stationierten 20 US-Atomwaffen.
Jede dieser Bomben hat eine Sprengkraft von 340 000 Tonnen TNT, die etwa 25-fache Stärke der Bombe von Hiroshima. Der Abwurf einer Bombe dieser Größe würde eine Stadt wie Stuttgart dem Erdboden gleichmachen.
Obwohl der Bundestag im März 2010 den Abzug dieser Massenvernichtungswaffen forderte, sollen sie durch eine neue, zielgenauere Bombenversion ersetzt werden. Dadurch soll aus einer einfachen herabfallenden Atombombe eine lenkbare Präzisionswaffe werden.
Eine der Kommandozentralen für den Einsatz von Atomwaffen ist die US-Kommandozentrale EUCOM hier in Stuttgart, wo heute die Friedensradtour gestartet ist. Das EUCOM koordiniert die Atomwaffen, die zwischen Grönland, Beringstraße, Nordkap und dem Kap der Guten Hoffnung stationiert sind.
Bischof Allgermissen von Fulda sagt in diesen Tagen klar und deutlich:
“70 Jahre nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki ist es geboten, nicht nur den Einsatz von Atomwaffen als unmoralisch zu verurteilen, sondern auch deren Besitz zu ächten und so auf die Abschaffung der Atomwaffen generell zu drängen.“
Gedenken allein reicht nicht. Die gefalteten Papierkraniche sind ein Zeichen des langjährigen Widerstandes – von uns und vielen anderen Menschen gegen den Atomkrieg.
Mit der Friedensradtour vom EUCOM in Stuttgart-Vaihingen zur Nacht der 70 000 Kerzen in Esslingen setzen wir ein öffentliches und sichtbares Zeichen
1. für ein weltweites Verbot aller Atomwaffen
2. für den Abzug und die Verschrottung der Atomwaffen aus Deutschland .
3. für die Schließung der Atomwaffenkommandozentrale EUCOM.
Wir unterstützen die „Humanitäre Initiative“ von über 100 Staaten, die über eine Konvention ein Verbot von Atomwaffen durchsetzen wollen und fordern die Bundesregierung auf dieser Initiative beizutreten.
Mit der Japanischen Vereinigung der Überlebenden der Atom- und Wasserstoffbomben appellieren wir an uns selbst und an Euch alle:
“Wir müssen uns beeilen. Wir müssen alle Atomwaffen von unserer Erde hinwegfegen. Lasst uns zusammenarbeiten, damit wir dieses Ziel erreichen:
Keine weiteren Hiroshimas!
Keine weiteren Nagasakis!!
Keinen weiteren Krieg!“
Folge uns!