Von Nur Sadia – Stuttgart. Der grausame Genozid von Srebrenica liegt 20 Jahre zurück. In Stuttgart haben am Samstag, 11. Juli, drei junge Leute – Nermina Sabanovic Solj, Lejla Sabanovic und Abda Novkinic – einen Schweigemarsch organisiert, um an diesen schwarzen Tag in der europäischen Geschichte zu erinnern. Es kamen rund 2000 Menschen, die der Opfer von Srebrenica gedachten. Sie liefen in Stille durch Stuttgart und beteten, dass so etwas niemals mehr, nirgends auf der Welt, wieder passiert.
Im Juli 1995 drangen nach dem Ende des Bosnien-Kriegs serbische Militärs in die Uno-Schutzzone ein. Trotz der Blauhelmsoldaten ermordeten sie 8372 Bosnier – fast ausschließlich Männer und Jungen zwischen 13 und 78 Jahren.
Dazu Nur Sadia:
Manche Menschen fragen sich, ob es nicht langsam an der Zeit wäre, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Das wäre vielleicht möglich, wenn es für diese Vergangenheit Gerechtigkeit gäbe, wenn die Toten, die gestern beigesetzt wurden, ihre Ruhe finden könnten. Das können sie aber nicht, weil ihre Peiniger noch nicht bestraft wurden, weil man ihre Qualen nicht anerkennen will, weil man sie gerne vergessen möchte.
Die Toten sind Söhne, Väter, Enkel, Brüder, Cousins und Ehemänner. Es ist eine unterbrochene oder gar in manchen Fällen ausgelöschte Linie in Tausenden Familien. Für die Tränen aus den Augen der Mütter gibt es keine Verjährung, kein Vergessen. Man sagt uns, den Balkan-Menschen, oft, dass wir uns versöhnen müssten, man erwartet es von uns. Man sagt uns, wir sollten vergessen, verzeihen und weiter leben, als wäre nichts gewesen.
Vergessen können wir nicht und wollen es auch nicht! Wenn wir vergessen, riskieren wir, dass uns das noch einmal passiert. Verzeihen können wir auch nicht, und nur derjenige, der selber niemanden auf solch grausame Art verloren hat, kann Verzeihung erwarten.
Versöhnung wäre wichtig, ist aber nicht möglich, solange sich die Täter nicht zu ihren Taten bekennen, solange die grausam Ermordeten nicht ihre Gerechtigkeit bekommen. Oft denke ich das es Europa recht wäre diesen Genozid zu vergessen, denn es ist die ständige Erinnerung an das europäische Versagen, die Blindheit und die Mitschuld. Europa und die UN haben zugeschaut, wie man all diese Jungen und Männer aus einer sogenannten UN-Schutzzone deportiert hat, um sie anschließend zu ermorden. Und wir sollen von Europa lernen, was Ehre, Demokratie und Zivilisation sind!
Podiumsdiskussion im Linden-Museum
Am 11. Juni, einen Monat vor dem Schweigemarsch, gab es im Stuttgarter Linden-Museum eine bewegende Veranstaltung „Mit Wissen gegen das Vergessen – 20 Jahre Srebrenica“.
Viele würden gerne vergessen, was vor 20 Jahren in Srebrenica geschah. Die Täter würden es gern vergessen, die Europäische Union würde es gerne vergessen und hat es auch, und auch viele Bosnier würden es gerne vergessen.
Manche sagen, 20 Jahren seien zu lange, um sich noch auch an den Krieg und seine Folgen erinnern zu wollen. Viele wollen es vergessen und sich einfach schönen Dingen im Leben widmen. Das würden die Angehörigen der Getöteten im Srebrenica auch gerne tun, aber sie können nicht. Für sie sind 20 Jahren nicht lange, denn sie leiden immer noch mit jedem Tag. Und so wird es auch weiter sein, solange sich die Kriegsverbbrecher nicht für ihre Taten verantworten müssen.
Die Bilder rühren zu Tränen
Im Stuttgarter Linden-Museum versammelten sich nun die, die nicht vergessen können und wollen. Es kamen auch viele junge Leute, die das alles gar nicht miterlebt haben, die damals noch gar nicht geboren waren. Es kamen nicht nur Bosnier, sondern auch viele andere.
Auf dem Podium saßen Hatidza Mehmedović (Vorsitzende von „Majke Srebrenice“-„Mütter aus Srebrenica“), Dr. Ewa Klonowski (International Commission on Missing Persons -ICMP), Salih Brkić (Bosnischer Filmemacher und Journalist) sowie Dirk Planert (Journalist und Vorsitzender des Vereins Help Srebrenica). Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Stefan Schwarz kam später hinzu, er hatte mit dem Verkehr zu kämpfen.
Die Überlebenden wollen Recht statt Rache
Hatidza Mehmedovic hat die ganze Familie im Genozid von Srebrenica verloren. Sie stand da, mit ihrem blauen Kopftuch, sah so zart und verloren aus. Wenn man in ihre Augen reinschaute, sah man ein Meer ungeweinter Tränen.
Sie will keine Rache, die wollte sie nie, sie will nur Recht und Gerechtigkeit, ist sich aber im Klaren darüber, dass es das in dieser Welt nicht gibt.
Salih Brkic hat zwei Filme gezeigt, die den Anwesenden die Tränen in die Augen trieb. Sehr erschütternde Bilder, unfassbares menschliches Leid und die traurige Gewissheit, dass Menschen so böse sein können und anderen Menschen solche Greuel anzutun. Nach dem Film entschuldigte sich Brkic bei den Amwesenden im Saal, weil die Bilder im Film zu grausam waren, fügte aber an, „Aber alles ist wahr!“
Es gibt jetzt ein Krankenhaus und einen Bäcker
Dr. Ewa Klonowski arbeitet seit Jahren als Forensikerin, sie bemüht sich, den Opfern, die lange Zeit in Massengräbern oder Höhlen lagen, wieder ihren Namen und ihre Identität zu geben.
Dirk Planert – Journalist aus Deutschland, ist nach Bosnien gegangen und hat einfach das getan was jeder Mensch tun sollte. Er half den Menschen und tut dies noch immer. Oft war es ein Kampf gegen Windmühlen, doch mit seiner Hilfe konnte ein Krankenhaus in Betrieb genommen werden, er hat eine Bäckerei in Srebrenica eröffnet und damit mehreren Menschen zur Arbeit verholfen. Er hat Hoffnung gegeben, selbst da wo es eigentlich keine mehr gab. Er gab einfach sein Herz und sein Können. Ich glaube der Sevdah (Bosnisches Blues und Philosophie des Lebens auf dem Balkan) ist zu seine Seele gedrungen.
Jemand hat angefangen
Kurz vor Ende der Veranstaltung kam Stefan Schwarz. Er war sehr leidenschaftlich und sprach mit großer Bewegung. Man merkte, wie sehr ihm das alles ans Herz ging. Er sagte, dass es immer wieder heißt, es seien alle Seiten genauso schuldig. Dies hat er satt, ständig hören zu müssen, wie die westliche Welt von den Bosniern erwartet sich zu versöhnen und weiter zu leben.
Es waren nicht alle gleich schuldig, jemand hat angefangen und unbeschreibliches Leid über die Anderen gebracht. Wie kann man sich versöhnen, wenn viele nicht mal für ihre Taten schuldig gesprochen wurden. “Wir haben Euch in Stich gelassen damals, die Europäische Union, die westliche Welt hat Euch nicht geholfen!“ Auch deswegen sollten wir diesen Genozid nicht vergessen!
Weitere Bilder von der Demonstration am 11. Juli 2015
Ergänzende Bilder von der Veranstaltung am 11. Juni 2015
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