Tübingen. 60 Millionen Menschen sind weltweit derzeit auf der Flucht – die meisten, um den Folgen gewaltsamer Auseinandersetzungen zu entgehen. Die aktuelle Situation machte das Gedenken zum Antikriegstag am 1. September, dem Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Polen, aktueller denn je. In vielen Städten gab es Gedenkfeiern, Vorträge oder Kundgebungen. Zu den bewegendsten Reden gehörte die Ansprache des 84-jährigen Tübinger Zeitzeugen und Altstadtrats Gerhard Bialas, der als DKP-Mitglied bis heute vom Verfassungsschutz bespitzelt wird. Wir dokumentieren die Rede, die er bei der Kundgebung zum Antikriegstag am 29. August in Tübingen hielt:
Liebe Friedensverbundene,
am 1. September 1939 wurde mit dem Überfall der deutschen Faschisten auf P0len der 2. Weltkrieg verbrochen, mit am bitteren Ende 60 Millionen Toten, unzählbar vielen Verkrüppelten, Witwen und Waisen, Heimat- und Obdachlosen. Schuldig für dieses größte Kriegsverbrechen an der Menschheit und dem eigenen Volk: die Hitlerfaschisten im Bündnis mit den Rüstungskonzernen und dem Monopolkapital.
Am 1. September 1939 saß ich als achtjähriger Bube am „Volksempfänger“, um im Radio die „Märchentante“ zu hören. Statt dessen ertönte in der Sondersendung die schnarrende Stimme des Verführers Adolf Hitler, der die Lüge vom polnischen Überfall auf den deutschen Gleiwitzer Sender verbreitete, der in Wahrheit auf sein Geheiß von SS-Angehörigen, in polnische Uniformen gesteckt, getätigt wurde. Hitler verkündete: „Ab 4.45 Uhr wird zurückgeschossen.“
Im Zuge der Mobilmachung gegen Polen wurde auch mein Vater im August 1939 zur Wehrmacht eingezogen. Obwohl wir inzwischen eine Familie mit vier Kindern waren. Schwer lungenkrank und mit einem wandernden Granatsplitter in den Gliedern wurde er 1943 vom Militärdienst entlassen. Als dreizehnjährigem fiel für mich und meine Schulkameraden das 7. Schuljahr 1944 aus.
Unsere Schulen wurden Lazarette. An der „Heimatfront“ mussten wir „Pimpfe“ helfen, Panzersperren zu bauen und Schützengräben auszuheben. Als neue Hauptkampflinie gegen die zerbrechende Oderfront. Flüchtlinge, die mit ihren Trecks ankamen, mussten versorgt werden. Und die Nazi-Herrschaft tat alles uns weiszumachen, dass wir an Wunderwaffen und den Endsieg zu glauben hätten.
„Führer befiehl, wir folgen dir.“ Bis wir dann im Februar 1945 als kinderreiche Familie selber auf die Flucht geschickt wurden. Von den Nazis – und in Bayern landeten. Um dort den Zusammenbruch des Nazi-Reiches und das Ende des Krieges zu erleben.
„Nie wieder Krieg“ wurde verkündet. Und ein Franz-Josef Strauß meinte sogar: „Dem Deutschen, der wieder ein Gewehr in die Hand nimmt, soll der Arm abfallen!“. Das war bevor er selber Verteidigungsminister und Waffenschieber wurde. Und die politische Verfolgung aller losging, die sich der Remilitarisierung widersetzten.
„Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen!“ – Diese Selbstverpflichtung nach 1945 ist bereits durch den CDU-Kanzler Konrad Adenauer aufgehoben worden. Statt sich für ein neutrales, blockfreies Deutschland einzusetzen und für einen gesamtdeutschen Friedensvertrag, betrieb er die Spaltung Deutschlands.
Bereits 1951 bot er für ein Militärbündnis gegen die Sowjetunion den Amerikanern westdeutsche Truppen an. Dagegen gab es in Westdeutschland heftigen Widerstand unter anderem mit der Bewegung „allgemeine Wehrpflicht ohne uns!“, die von Adenauers Polizei und Justiz heftig unterdrückt wurde. War doch dieser Apparat von Altnazis und Antikommunisten durchsetzt. Gegen Gegner der Militarisierung wurden tausende Strafverfahren eingeleitet.
Am 11. Mai 1952 wurde bei einer Demonstration gegen die Wehrpflicht der junge Münchener Arbeiter Philipp Müller von der Polizei hinterrücks erschossen. Auch ich war mit anderen Tübingern da Zeitzeuge, wie die Wehrpflicht in die deutsche Jugend regelrecht hineingeprügelt wurde. Dieser Widerstand wurde mit aller Härte des Kalten Krieges niedergemacht. Mit dem Verbot der KPD am 17. August 1956 wurde eine noch härtere Gangart gegen alle Kriegsgegner eingeleitet, die in vielen Berufsverboten gipfelte.
Schon als Achtjähriger hörte ich die Hitler-Lüge zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Heute bin ich 84. Wie viele Lügen mussten wir uns als Begründungen für Kriege und Auslandseinsätze anhören. Jeder Krieg beginnt mit Lügen. Das ist meine bittere Lebenserfahrung. Die eigene deutsche Geschichte ermahnt uns: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts“!
Es ist tieftraurig, dass heute das schon tausendmal Gesagte immer wieder gesagt werden muss: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus! Diese Ermahnung hat leider in Anbetracht von Nazi-Ausschreitungen gegen Asylsuchende nichts von ihrer Bedeutung verloren.
Danke, dass ihr mir altem Kommunisten als Zeitzeugen des Krieges für den Frieden zugehört habt.
Siehe auch unseren Bericht über den Antikriegstag in Tübingen „Den Krieg verliert immer die Menschheit„
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