Von unseren ReporterInnen – Tübingen. An die 150 Männer, Frauen und Kinder protestierten am Mittwoch, 27. Januar, in den späten Abendstunden in Tübingen mit Plakaten, Fahnen und Transparenten gegen die wöchentlichen Sammelabschiebungen aus Baden-Württemberg vor allem in Balkanländer. Zu der Kundgebung neben der Kreissporthalle, die derzeit als Unterkunft für Flüchtlinge dient, hatten unter anderem Unterstützerkreise aufgerufen. Sie wenden sich gegen eine Unterscheidung in „gute und schlechte“ Flüchtlinge.
In der Vorwoche war erstmals eine albanische Familie aus der Tübinger Kreissporthalle abgeschoben worden. In den als „sichere Herkunftsländer“ eingestuften Balkanstaaten leiden vor allem Roma oft unter Armut und rassistischer Diskriminierung. Um die Menschen in den Unterkünften abzuholen, kommt die Polizei stets am frühen Morgen, wenn es noch dunkel ist. Daran erinnerte die nächtliche Mahnwache unter dem Motto „Solidarität mit allen Flüchtlingen! Roma haben kein sicheres Herkunftsland! Humanitäres Bleiberecht statt Abschiebung“.
Die TeilnehmerInnen der Kundgebung blieben bis Mitternacht. Auch am Morgen danach standen wieder Abschiebungen aus Baden-Württemberg an. Es sollen 86 Menschen nach Serbien und Mazedonien abgeschoben worden sein, unter ihnen auch 29 Kinder bis zu 14 Jahren – nach Informationen des in Tübingen erscheinenden „Schwäbischen Tagblatts“ aber niemand aus dem Landkreis.
Roma droht in Herkunftsländern Diskriminierung
Andreas Linder, Leiter der Geschäftsstelle des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg, schilderte über Megaphon die Situation der Menschen aus Balkanstaaten, die in eine feindselige Heimat zurückgeschickt werden – oft obdach- und mittellos und ohne Hoffnung, dass sich ihre Situation verbessern könnte. „Den Fluchtgründen dieser Menschen wird von der Politik und in der veröffentlichten Meinung nur noch mit Ignoranz und Verachtung begegnet“, hieß es im Aufruf zu der Kundgebung. Ihre Asylanträge würden pauschal als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt.
Neben vielen Helfern aus Unterstützerkreisen stießen auch immer mehr Flüchtlinge aus der Kreissporthalle zu der Kundgebung. Margrit Paal, Kreisrätin der Linken, berichtete über eine Diskussion im Gremium, bei der es um „sichere Herkunftsstaaten“ ging und deutlich wurde, dass sie nur dazu dienten, die Flüchtlingszahlen zu begrenzen. Ralf Jaster, Gewerkschaftssekretär der IG Metall Reutlingen, wies auf eine für Freitagabend geplante Kundgebung gegen einen Neujahrsempfang der AfD in der Stadt hin.
Istvan Farkas kann zunächst bleiben
Auch Istvan Farkas sprach. Der politisch aktive Roma – er ist Lehrer, durfte seinen Beruf aber nie ausüben – soll nach Serbien ausgewiesen werden. Dort droht ihm Verfolgung. Doch sein Asylantrag wurde als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Das Verwaltungsgericht Sigmaringen stellte das Verfahren über seinen Widerspruch ohne Verhandlung ein. Offenbar waren Schreiben des Gerichts, auf die er hätte reagieren müssen, nicht bei ihm angekommen.
800 Menschen unterzeichneten daraufhin eine Online-Petition an den baden-württembergischen Landtag gegen seine Ausweisung. Am Mittwoch vor der Kundgebung hatte der Petitionsausschuss getagt. Das Ergebnis seiner Beratung wurde aber erst am Donnerstag bekannt. Der Ausschuss möchte, dass Istvan Farkas dem Verwaltungsgericht seine Fluchtgründe vortragen kann, und empfahl ein Wiederaufnahmeverfahren. Damit er nicht zuvor abgeschoben wird, muss er sich in den nächsten drei Wochen bei der Härtefallkommission melden.
Da die Sammelabschiebungen wohl weitergehen, rechnet Andreas Linder damit, dass es sich nicht um die letzte derartige Aktion in Tübingen handelte.
Die Unterzeichner des Aufrufs:
AHOI Nürtingen (AHOI = gegen Armut, Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht und Ignoranz); Arbeitskreis Flüchtlingshilfe im Französischen Viertel Tübingen
Fluchtpunkte Tübingen
Freundeskreis Asyl Rottenburg
Friedensplenum Tübingen
Kreistagsfraktion Die Linke
SDAJ Tübingen
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten VVN-BdA Tübingen-Mössingen
Menschen aus zahlreichen Unterstützerkreisen für Flüchtlinge, und andere
Der Aufruf zu der Protestaktion im Wortlaut:
Jede Woche schiebt das grün-rot regierte Baden-Württemberg abgelehnte Asylsuchende per Sammelabschiebung vom Baden-Airpark in die zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärten Länder der Westbalkanregion ab. Im Jahr 2015 wurden doppelt so viele Menschen abgeschoben wie 2014, die meisten Abgeschobenen sind aus der Balkanregion.
Unter den Abgeschobenen sind viele Familien mit Kindern, die in eine perspektivlose Zukunft zurückgeschickt werden. Unter den Abgeschobenen sind viele Roma, die häufig nicht nur von Armut und Elend, sondern auch lebenslänglich von rassistischer Diskriminierung und Gewalt betroffen sind. Unter den Abgeschobenen sind Menschen, die nach der Abschiebung obdachlos und völlig mittellos sind und von niemandem Hilfe bekommen.
Den Fluchtgründen dieser Menschen wird von der Politik und in der veröffentlichten Meinung nur noch mit Ignoranz und Verachtung begegnet. Mit den Gesetzesverschärfungen der letzten zwei Jahre wurden sämtliche Staaten der Westbalkanregion zu sogenannten sicheren Herkunftsstaaten erklärt. Es gilt mittlerweile als allgemeiner Konsens, dass Menschen, die aus dieser Region kommen und in Deutschland einen Asylantrag stellen, keine Asylgründe haben und als bloße „Wirtschaftsflüchtlinge“ diffamiert werden können. Mit den Gesetzesänderungen werden die Asylanträge pauschal als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt.
Mit Arbeitsverboten, Entzug von Sozialleistungen und der Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen, die damit zu Abschiebelagern werden, soll den Menschen in der Balkanregion signalisiert werden, dass ihnen in Deutschland die kalte Schulter gezeigt wird und das Stellen eines Asylantrags eine „Sackgasse“ (Ministerpräsident Winfried Kretschmann) ist.
Das grün-rot regierte Baden-Württemberg rühmt sich für seine gute Flüchtlingspolitik und seinen humanen Umgang mit Flüchtlingen. Doch in den letzten beiden Jahren hat auch unsere Landesregierung jeder Verschärfung der Asylgesetze zugestimmt und setzt diese um. Dies gilt inbesondere auch für die Zustimmung zur Einstufung von Westbalkanstaaten als „sichere Herkunftsländer“ (§ 29a Asylgesetz).
Baden-Württemberg macht mit bei der Spaltung in gute und schlechte Flüchtlinge, in Menschen, denen eine „Bleibeperspektive“ attestiert wird und anderen, denen diese „Bleibeperspektive“ komplett abgesprochen wird. Sie betreibt dabei eine Politik, die Menschen, die häufig sogar Nachfahren von Opfern des Nationalsozialismus sind, demütigt, entwürdigt und in eine perspektivlose Zukunft entlässt.
Gegen eine solche Politik wehren sich Menschen, die bei der Bewältigung der „Flüchtlingskrise“ nicht nur ein bisschen helfen wollen, sondern die sich solidarisch für die Rechte und das Bleiberecht von Flüchtlingen einsetzen. Auch in Tübingen gibt es (nach wie vor) viele Menschen, die ALLE Flüchtlinge freundlich und solidarisch willkommen heißen, Kontakt zu ihnen aufbauen und ihnen mit vielen Aktivitäten das Ankommen und Einleben in Deutschland erleichtern.
Diese Menschen wollen sich aber nicht vor den Karren einer inhumanen Abschiebepolitik spannen lassen. Derzeit gibt es auch im Kreis Tübingen noch Asylsuchende aus den Balkanstaaten, die meisten von ihnen sind in Hallen wie der Kreissporthalle Tübingen oder in Ofterdingen untergebracht. In der vergangenen Woche ist zum ersten Mal eine albanische Familie aus der Kreissporthalle Tübingen heraus abgeschoben worden.
Mit der Protestaktion zeigen wir uns solidarisch mit den Flüchtlingen. Im vollen Bewußtsein, dass die große Zahl der in Deutschland angekommenen Flüchtlinge eine Herausforderung für eine gute Aufnahme und Integration dieser Menschen sind, wenden wir uns gegen eine Spaltung in gute und schlechte Flüchtlinge und gegen eine Politik der kalten Schulter, die einen Teil der Flüchtlinge auf unwürdige Art einfach wieder aus dem Land rauswerfen will.
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