Von Alfred Denzinger – Stuttgart. Vor dem Stuttgarter Landgericht fand am 24. Juni das Berufungsverfahren gegen Chris statt. Der angeklagte Kommunist wurde in zweiter Instanz vom Vorwurf des Landfriedensbruchs freigesprochen. Dem Angeklagten und seinem Rechtsanwalt Christos Psaltiras gelang es, die Rolle des geladenen Gutachters in den Mittelpunkt zu stellen. Der 78-Jährige soll mit seiner Methodik, seiner beruflichen Praxis und seiner persönlichen Familiengeschichte in der Tradition der NS-Ideologie stehen. Der nächste Prozess gegen Chris ist bereits im Gang. Der zweite Prozesstag, bei dem auch mit einem Urteil gerechnet wird, beginnt am Freitag, 22. Juli, um 10.45 Uhr vor dem Stuttgarter Amtsgericht (Hauffstraße 5). Dem Angeklagten wird vorgeworfen, Teilnehmer einer spontanen Demonstration am 20. Februar 2020 gewesen zu sein, die als Reaktion auf die rassistischen Morde in Hanau durch die Innenstadt lief.
Vor Prozessbeginn versammelten sich vor dem Gerichtsgebäude des Landgerichts 40 UnterstützerInnen zu einer Kundgebung. Die Rote Hilfe und die Interventionistische Linke stellten in ihren Reden die Notwendigkeit der Solidarität in den Mittelpunkt. Chris stellte klar, dass die Konfrontation mit der bürgerlichen Justiz in der politischen Praxis unausweichlich sei.
Haftstrafe wegen angeblicher Teilnahme an einer Demonstration
Die Anklage warf Chris vor, am traditionellen Silvesterspaziergang 2018/19 (wir berichteten) um die Justizvollzugsanstalt in Stuttgart-Stammheim teilgenommen und einen Rauchkörper in Richtung von Polizeibeamten geworfen zu haben. Aus dem unangemeldeten Demonstrationszug heraus wurden damals unter anderem die neue Außenstelle des Oberlandesgerichts mit Farbe besprüht und an den Gefängnismauern Graffitis angebracht.
Bereits 2020 verurteilte das Amtsgericht Chris wegen Landfriedensbruchs zu acht Monaten ohne Bewährung. Ein Staatsschützer wollte ihn auf qualitativ sehr mangelhaften Fotos erkannt haben. Die Staatsanwaltschaft ging gegen das Urteil in Berufung, Die Verteidigung legte ebenfalls Berufung ein. Rechtsanwalt Psaltiras erklärte, Ziel der Berufungsverhandlung sei ein Freispruch, da das vorgelegte Gutachten keine strafrechtliche Relevanz habe und beim Gutachter keine „Expertise auf Textilien“ bestehe. Das Gutachten basiere auf Vermutungen. Daher unterliege es dem Verwertungsverbot.
Ein feinfühliger Polizeibeamter mit „schlimmen“ Erinnerungen
Zu Beginn des Prozesses war ein 41-jähriger Polizist geladen, der nach eigenen Angaben als Leiter des „Unterabschnitts“ eingesetzt war. In dramatischen Schilderungen beschrieb er seine Erinnerungen rund um die Ereignisse in Stammheim am Silvesterabend 2018. In mehr als 14 Jahren in geschlossenen Einheiten habe er noch nie etwas so Schlimmes erlebt, führte er aus. Verletzte Polizeibeamte gab es allerdings nicht. Aber der feinfühlige Beamte meinte, sich an eine Passantin zu erinnern, die Brandverletzungen erlitten haben soll. „Ich habe nur ganz kurz mit der Passantin gesprochen, wenn überhaupt“, trug er dem Gericht vor.
Schlechte Polizeifilmer und ein Gutachter mit sehr viel Lebenserfahrung
Langatmige Videoaufnahmen des Demonstrationszuges wurden im Gerichtssaal vorgeführt. Zur Erhellung der Ereignisse konnten diese Aufnahmen jedoch nicht beitragen, da die DemonstrationsteilnehmerInnen überwiegend nur von hinten zu sehen waren und die Aufnahmequalität an einen Videokurs aus einer Grundschule erinnerte. Auch der vom Gericht bestellte Gutachter bestätigte die „deutlich unterdurchschnittliche Qualität des Bildmaterials“ und die dadurch „stark eingeschränkte Möglichkeit der Identifikation“.

Rechtsanwalt Christos Psaltiras – Archivbild
Der als Belastungszeuge geladene 78-jährige anthropologische Gutachter Prof. Friedrich W. Rösing führte aus, er habe aus dem Videomaterial Bilder entnommen und mit Vergleichsbildern des Angeklagten abgeglichen. Das Material wurde in Augenschein genommen. Hierzu erklärte Rechtsanwalt Psaltiras: „Was sieht man da? Man sieht, dass es ein Mensch ist. Vermutlich.“ Der Sachverständige Rösing sprach von einer 99-prozentigen Identifizierung. Zumindest sei von einer 90-prozentigen Wahrscheinlichkeit auszugehen. Es sei erkennbar, „dass dieser Mensch rechts auch ein Ohr hat“. Und schließlich erklärte er, dass für eine Identifikation äußerst schlechte Werte vorlägen.
Richter Schaupp wollte vom Sachverständigen Rösing wissen, in wie vielen Fällen er schon Kleidung begutachtet habe. Die aufschlussreiche Antwort: „Selten. Keine Ausbildung darin. Die wenigen Fälle die ich bezüglich Kleidung hatte, waren im Verkehrsbereich.“ Dabei habe es sich um Motorradbekleidung gehandelt. „Normale Durchschnittskleidung“ sei nicht dabei gewesen. Die Grundlage seines Gutachtens bezüglich der Kleidung beziehe sich auf seine Lebenserfahrung.
Staatsanwaltschaft, Verteidiger und Gericht sind sich einig
Staatsanwältin Silke Busch beantragte in ihrem Schlussplädoyer für Chris einen Freispruch, da nicht nachgewiesen werde könne, dass er bei der Demonstration dabei war. Rechtsanwalt Psaltiras ergänzte, das Gutachten sei in keiner Weise geeignet. Auch er beantragte für seinen Mandanten einen Freispruch. Richter Schaupp hob letztlich das Urteil des Amtsgerichts auf und sprach Chris frei.
Chris nutze die Vernehmung und thematisierte den persönlichen, ideologischen und vermeintlich wissenschaftlichen Hintergrund des Gutachters Prof. Rösing. Dessen Mutter, Ilse Schwidetzky – ebenfalls Anthropologin – war eine nicht unwichtige Figur der NS-Rassenlehre und versuchte sie im akademischen Diskurs in der BRD zu etablieren. Sie verfasste außerdem Gutachten, die darüber entschieden, ob Menschen vermeintlich jüdischer Abstammung deportiert und ermordet wurden.
Friedrich W. Rösing trat nicht nur in die Fußstapfen seiner Mutter und publizierte auch über Jahrzehnte gemeinsam mit ihr. Er führte die längst als Pseudo-Wissenschaft überführte „Rassenlehre“ weiter. Anfang der Neunziger Jahre waren beide an der Veröffentlichung einer Biographie über Egon von Eickstedt, einen NS-Rassentheoretiker, beteiligt (siehe hierzu Informationen des Solikreises zum Gutachter Friedrich W. Rösing).
In seinem letzten Wort ging Chris auf die politische Bedeutung des Verfahrens und der zu Last gelegten Vorwürfe ein. Er wertete das Verfahren als „Versuch der Klassenjustiz, die Solidarität mit den politischen Gefangenen zu kriminalisieren“ (siehe hierzu die Prozesserklärung von Chris).
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