Von unseren ReporterInnen – Stuttgart-Stammheim. Fackeln, Böller und Feuerwerk rund um die Justizvollzugsanstalt (JVA) Stammheim: Das hat am frühen Silvesterabend Tradition. In diesem Jahr beteiligten sich etwa 200 Menschen an dem „Knastspaziergang“ unter dem Motto „Unsere Solidarität ist ihr Kontrollverlust“. Die Gefangenen freuten sich sicht- und hörbar über die Abwechslung – und darüber, nicht vergessen zu sein. Viele kamen an die vergitterten Fenster und riefen ihrerseits Parolen.
„Freiheit für alle politischen Gefangenen“ oder „Friede den Hütten, Krieg den Palästen, Feuer und Flamme allen Knästen“ wurde skandiert – ebenso „Solidarität mit Rojava, gegen das Verbot der PKK“, wohl besonders mit Blick auf kurdische Gefangene. Einsatzkräfte der Polizei begleiteten den Marsch von der U-Bahn-Haltestelle Stammheim zur JVA und teilweise um das JVA-Gelände herum.
Trotz reichlich aus dem eng aufgestellten Demozug heraus oder unmittelbar neben ihm abgefeuerter Raketen und weiterer Pyrotechnik verlief der Abend ohne Zwischenfälle. Die Demo-Sanitätsgruppe Südwest, mit einem Helfer und einer Helferin vor Ort, begleitete die Demonstration, musste aber nicht aktiv werden.
Rote Farbe am Oberlandesgericht
Die Polizei hielt sich weitgehend zurück. Sie beschränkte sich darauf, das Geschehen aus sicherer Entfernung zu beobachten und zu dokumentieren. Etwas näher kamen die Einsatzkräfte allerdings zwangsläufig an die Demonstration heran, als der Zug überraschend kehrt machte und die bis dahin hinter ihm fahrenden Polizeifahrzeuge passierte. Als rote Farbe gegen das neue Gebäude des Oberlandesgerichts geworfen wurde, gerieten auch die zur Bewachung des Eingangs abkommandierten Beamten in die Schusslinie (siehe hierzu auch das Video unten).
Beim Auftakt an der U-Bahn-Haltestelle Stammheim erwies sich der Einsatzleiter als umsichtig und hielt eine Anwohnerin zurück, die DemoteilnehmerInnen provozieren wollte.
Zu der Demonstration hatte die „Revolutionäre Aktion Stuttgart“ aufgerufen. Thema der kurzen Ansprachen waren vor allem die neuen Polizeigesetze in vielen Bundesländern. Die Ausweitung von Befugnissen der Polizei und zunehmende Strafverfolgung wurden als Versuch gewertet, das Versammlungsrecht auszuhebeln. Kritisiert wurden auch „die militärische Aufrüstung der Polizei“ und zunehmende Überwachung.
Oury Jalloh und Amad Ahmad: „Trauer zu Wut – Wut zu Widerstand“
Am Kreisverkehr vor der JVA gab es eine Zwischenkundgebung. Dann bog der Demozug nach rechts ab. An einer Mauer war die mit roter Farbe aufgesprühte Parole „Trauer zu Wut – Wut zu Widerstand“ zu lesen. Daneben waren Bilder von Oury Jalloh (gestorben 2005) und Amad Ahmad (gestorben 2018) angebracht. Beide kamen unter ungeklärten Umständen bei Bränden in ihren Zellen in Polizeigewahrsam zu Tode. „Oury Jalloh – das war Mord“, wurde skandiert.
Der so genannte „Knastspaziergang“ zur JVA Stammheim geht auf das Jahr 1989 zurück. Damals befanden sich inhaftierte Mitglieder der RAF im Hungerstreik, was zu einer Solidaritätsbewegung führte.
Auszüge aus dem Demo-Aufruf im Wortlaut:
„Was sich nach Krimi oder düsterer Zukunftsvision vom Überwachungsstaat anhört, ist seit November 2017 in Baden-Württemberg möglich. Dank dem neuen Polizeigesetz, dass diese Landesregierung still und leise – noch vor der bayrischen – einführte. Es erlaubt der Polizei oder den Geheimdiensten unabhängig von möglichen Straftaten deine Telekommunikation zu überwachen. Allein der bloße Verdacht einer Straftat reicht aus, um Überwachungsmaßnahmen einzuleiten.
Auch die Kameraüberwachung von öffentlichen Plätzen, mit gleichzeitiger automatischer Auswertung von Verhaltensmustern wird dadurch ermöglicht. Rennen, Hinfallen oder Hin- und Herlaufen reichen aus, damit das Überwachungsprogramm das Verhalten als verdächtig einstuft. Nebenbei wurden noch „Banalitäten“, wie der Einsatz von Sprengmitteln, z.B. Handgranaten gegen Menschen erlaubt!
In Bayern und NRW gab es 2018 anlässlich der dortigen Einführungen neuer Polizeigesetze riesige und breite Proteste. Von linken Gruppen, über Gewerkschaften, den Grünen bis hin zur SPD, beteiligten sich Zehntausende an den Protesten.“ …
„Der viel erwähnte Rechtsruck ist mehr als AfD und rassistische Hetze. Er ist auch Abschottung, Überwachung und Militarisierung – sowohl nach Inneren als auch nach außen. Die Polizeigesetze sind ein Teil dieser inneren Aufrüstung. Aus Angst, der Unmut eines Großteils der Bevölkerung über zunehmende soziale Probleme, könnte zu einem Kontrollverlust der Herrschenden führen, werden schon im Voraus die schweren Geschütze aufgefahren.“ …
„Knast ist hierzulande eines der härtesten Mittel, gegen all jene, die sich nicht in dieses System integrieren lassen. Nach dem „Antiterrorparagraphen“ §129b inhaftiert die deutsche Justiz aktuell 4 Menschen wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der PKK im Stammheimer Hochsicherheitsknast. Ihr legitimer Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung und gegen einen immer faschistischer werdenden türkischen Staat ist auch Deutschland und seinen Wirtschaftsinteressen ein Dorn im Auge. Demokratisches Deutschland ermahnt die diktatorische Türkei? Heuchelei! Denn auch die PKK steht für eine bessere Welt, in der die Interessen der Massen über dem Profitstreben einer Minderheit stehen.
Doch die Mehrheit der Inhaftierten sind keine politischen Gefangenen, sondern eine Vielzahl von Menschen, die im Sinne des Systems ‚rechtswidrig‘ gehandelt haben, um aus einem Leben in ständiger Abhängigkeit und Unsicherheit auszubrechen, oder um einfach ein paar mal mit dem Bus in die Stadt zu fahren – ohne Ticket.
Diesen Menschen gilt erst einmal unsere Solidarität, auch wenn wir nicht mit allem einverstanden sind, was sie anstellen. Unser Maßstab sind eben nicht bürgerliche Gesetze, die eine grundsätzlich ungerechte Ordnung aufrecht erhalten. Vielmehr geht es um die Perspektive einer solidarischen Gesellschaft, an der wir uns orientieren. Wir kämpfen nicht nur gegen den Kapitalismus an, sondern praktizieren schon heute im Kleinen, was in Zukunft die Grundlage für gesellschaftliches Handeln sein soll. Unsere Stärke ist, dass wir nicht alleine sind.“
Siehe auch unsere früheren Berichte:
2017 – „Böller als Gruß an Gefangene“
2016 – „Mit Raketen und Böllern vor dem Knast in Stammheim„
2015 – „Kämpferisch zum Jahresabschluss“ und
2014 – „Feuer und Farbe fürs neue Jahr„
2011 – „No Justice, No Peace – Kampf der Klassenjustiz!“
Video
Weitere Bilder des Tages
Folge uns!