Der Angeklagte hat Anfang Februar 2014 den baden-württembergischen Innenminister Reinhold Gall mit einer Himbeer-Sahne-Torte beworfen. Während der Tortenwerfer vorübergehend festgenommen wurde, ließ sich Gall in einem Krankenhaus die Sahne aus dem Gehörgang entfernen. In der darauf folgenden Medienschlacht gab er sich allerdings betont humorvoll.
Der Tortenwerfer lehnte einen Strafbefehl des Amtsgerichtes Öhringen über 2000 Euro ab. So musste er sich am 27. November 2014 wegen versuchter Körperverletzung, fahrlässiger Körperverletzung, Nötigung und versuchter Sachbeschädigung vor Gericht verantworten.
Den Prozessbericht mit Fotos gib´s hier!
Wir dokumentieren nachstehend die Erklärung des angeklagten Antifaschisten vor Gericht im „Tortenwerferprozess“.
„Ich stehe heute vor Gericht, weil ich Reinhold Gall am 7. Februar 2014 als symbolische Aktion ein Viertel Himbeersahnetorte ins Gesicht geworfen habe. Bei der Aktion ging es dementsprechend auch nicht darum den Innenminister körperlich zu verletzen, sondern darum, Aufmerksamkeit zu schaffen. Aufmerksamkeit für ein Thema, das Herr Gall all zu gern unter den Teppich kehren würde. Ich werde heute deshalb auch keine Verteidigungsrede halten. Vielmehr will ich versuchen die Hintergründe der Aktion noch einmal darzustellen.
Am 4. November 2011 flog eine bewaffnete faschistische Gruppe auf, die sich 13 Jahre lang offenbar unbemerkt durch die BRD bewegen konnte. Der selbsternannte „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) ermordete zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen, beging 15 Raubüberfälle und verübte mindestens zwei Sprengstoffanschläge.
Zurückgreifen konnten die faschistischen Mörder dabei auf Konzepte und Aufrufe zum bewaffneten Kampf, die in den 1990er Jahren offen und unter den Augen der Sicherheitsbehörden in der Naziszene verbreitet und diskutiert wurden.
Während migrantische Communities mit Demonstrationen ein Ende der Mordserie forderten, redeten die Medien von sogenannten „Dönermorden“ und stellte die Polizei die Opfer und deren Familien jahrelang unter Generalverdacht.
Bis heute kommen immer wieder Tatsachen zum Vorschein, die zeigen, wie nah dran die bundesdeutschen Behörden am Terror des NSU waren. Einerseits wurden durch das abstruse „V-Leute- System“ zum Teil erst militante Nazi-Strukturen aufgebaut. Auch die Strukturen, aus denen der NSU stammt. Andererseits ist mittlerweile bekannt, dass in der BRD ein ausgedehntes Netzwerk militanter und bewaffneter Faschisten existierte bzw. existiert, das gespickt ist mit Kontaktleuten und V- Männern der Behörden. Die Fäden dieses Netzwerks ziehen sich durch das ganze Land, auch nach Baden-Württemberg.
Das LKA spricht von 52 Personen aus dem Bundesland mit Beziehungen zum NSU-Komplex, davon 23 mit direktem Kontakt zum angeblichen „Trio“. Von Mitte der 1990er Jahre bis Anfang der 2000er Jahre waren Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe und weitere Nazis aus ihrem Umfeld regelmäßig bei Freunden aus der Naziszene in Ludwigsburg zu Gast. In Briefen zeigten sie sich begeistert vom Waffenarsenal ihrer schwäbischen Kameraden. Im Brandschutt der zerstörten Wohnung der NSU-Mitglieder in Zwickau wurden zudem Materialien gefunden, die belegen, dass die rechte Terrorgruppe potentielle Ziele in Baden-Württemberg im Auge hatte, darunter migrantische Einrichtungen und Parteibüros. Nicht zuletzt wohnen wichtige Führungspersonen der in Deutschland verbotenen Nazi-Organisation „Blood and Honour“ in der Region zwischen Heilbronn und Stuttgart. Das Nazimusiknetzwerk gilt als wichtigster Teil des NSU-Unterstützerumfeldes. Wie ernst die Gefahr durch militante Rechte im Südwesten weiterhin zu nehmen ist, zeigte sich im Juli 2011, als das Landeskriminalamt (LKA) Razzien gegen die „Standarte Württemberg“ durchführte. Bei den Mitgliedern der Gruppe, deren Ziel es gewesen sein soll, MigrantInnen mit Gewalt aus Deutschland zu vertreiben, wurden zahlreiche Waffen beschlagnahmt. Wenig später berichtete auch ein junger Aussteiger aus der rechten Szene der Polizei von „radikalen“ Nazi-Strukturen: eine „Neoschutzstaffel“ (NSS) habe sich hier in Öhringen mit dem NSU getroffen. Bevor er weitere Angaben zu diesen Zusammenhängen machen konnte, starb Florian Heilig im September 2013 in seinem brennenden Auto – am Tag seiner geplanten Vernehmung durch das Stuttgarter LKA.
Auch der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter, den die Faschisten des NSU begangen haben sollen, gibt nach wie vor Rätsel auf: Verschiedene bekannt gewordene Umstände lassen die Darstellung der Bundesanwaltschaft vom wahllosen Mord von Böhnhardt und Mundlos an einer Heilbronner Polizistin zweifelhaft erscheinen. Unabhängig voneinander beobachteten Zeugen kurz nach der Tat in der Nähe der Theresienwiese mehrere flüchtende und blutverschmierte Personen. Keine davon hatte Ähnlichkeit mit den seit 1998 untergetauchten Nazis aus Jena. In den entsprechenden Akten ist dokumentiert, dass auch die Ermittler der „Sonderkommission Parkplatz“ von 4-6 Beteiligten am Mord ausgingen. Warum die Veröffentlichung angefertigter Phantombilder durch den Heilbronner Staatsanwalt Christoph Meyer-Manoras verhindert wurde, ist eine der vielen ungeklärten Fragen. Die Ermordete stammt aus Oberweißbach in Thüringen, einem Ort in dem der Schwager des in München als NSU-Unterstützer angeklagten Ralf Wohlleben den Gasthof „Zur Bergbahn“ betrieb. Dieser diente der rechten Szene als Treffpunkt. Der Gaststättenbetreiber kannte sowohl die Familie Kiesewetter, als auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Auch die frühere Lebensgefährtin von Michèle Kiesewetters Onkel, eine Polizistin aus Saalfeld, hat Kontakte in die rechte Szene. Genau wie ein langjähriger Freund von Kiesewetter, den sie nur wenige Tage vor ihrem Tod in Oberweißbach traf. Sein Bruder ist der Sänger einer rechten Skinhead-Band. Und Kiesewetters Onkel, selbst Polizist, stellte aus unerklärlichen Gründen in einer Vernehmung schon im Mai 2007 eine Verbindung zwischen der Ermordung seiner Nichte und der bundesweiten Ceská-Mordserie her – 4 Jahre bevor überhaupt jemand über den NSU sprach.
Für Aufsehen sorgte außerdem die Mitgliedschaft von mindestens zwei Kollegen der ermordeten Polizistin in einer deutschen Gliederung des rassistischen Geheimbundes „Ku-Klux-Klan“. Sie gehörten der selben Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) der Böblinger Bereitschaftspolizei an, wie die getötete Michèle Kiesewetter. Einer von ihnen war am Tattag als Gruppenführer von Kiesewetter in Heilbronn im Einsatz. Gegründet worden war der von Schwäbisch Hall aus agierende europäische „Ku-Klux-Klan“ von Achim Schmid, einem ehemaligen V-Mann des baden-württembergischen Landesamtes für Verfassungsschutz. Dieser hatte bereits als Musiker in Nazi-Rock-Bands bundesweite Verbindungen auch in das Umfeld des NSU geknüpft. Ein weiterer „Klan-Bruder“ von Kiesewetters Kollegen stand sogar persönlich auf einer Kontaktliste des NSU-Mitglieds Uwe Mundlos. Seine Rolle ist besonders brisant, da er gleichzeitig unter dem Decknamen „Corelli“ als V-Mann jahrelang Informationen an das Bundesamt für Verfassungsschutz lieferte. Ehe diese Verbindung jedoch geklärt werden konnte, verstarb der Mann im April dieses Jahres, im Alter von 39 Jahren.
Trotz all dieser Tatsachen ist der staatliche Wille zur Aufklärung der Netzwerke des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ kaum vorhanden. Während direkt nach dem Bekanntwerden der Mordserie allerorten Betroffenheit geheuchelt wurde, schredderten verschiedene Verfassungsschutzbehörden schon eilig Akten mit Bezug zum NSU-Komplex.
Heute, über 2 Jahre später, sehen sich Aufklärerinnen und Aufklärer einer Maschinerie der Vertuschung und Desinformation von Ministerien, Bundesanwaltschaft und Geheimdiensten gegenüber, die nur schwer zu durchdringen ist. Im Münchner Verfahren weigern sich derweil Gericht und Bundesanwaltschaft beharrlich, von ihrer unhaltbaren These des relativ isolierten Trios, das mordend durchs Land zog, abzurücken und die Netzwerke des NSU in Naziszene und Staatsapparat aufzuklären.
Gerade auch in Baden-Württemberg, einer Schlüsselregion für die Aufklärung des NSU-Komplex wurde und wird gemauert was das Zeug hält.
Reinhold Gall hat sich im Zusammenhang mit den Morden des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) dadurch hervor getan, dass er die Aufklärung über das weitreichende Unterstützer-Netzwerk der Nazis be- und verhindert, wo es nur geht.
Er ist mit dafür verantwortlich, dass dem Bundestags-Untersuchungsausschuss zum NSU Akten der Landesbehörden Baden-Württembergs nur verspätet und unvollständig geliefert wurden. Die Mitgliedschaft von Polizisten im rassistischen Geheimbund „Ku-Klux-Klan“ (KKK) hat Reinhold Gall als „Einzelfälle“ verharmlost und er ist es auch, der zu verantworten hat, dass ein Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg durch die grün-rote Landesregierung blockiert wurde, obwohl eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Gruppen und Akteure diesen monatelang gefordert hatte. Statt dessen versuchte die Landesregierung den öffentlichen Druck mit verschiedenen Ablenkungsmanövern ins Leere laufen zu lassen.
Im Februar dieses Jahres, kurz nach dem hier verhandelten Tortenwurf, veröffentlichte die „Ermittlungsgruppe Umfeld“ des Landeskriminalamts Baden-Württemberg ihren Abschlussbericht. Ihr Auftrag war es gewesen, die Netzwerke der faschistischen Mörder in Baden-Württemberg zu untersuchen. Aufgrund seiner Substanzlosigkeit lieferte der Bericht allerdings mehr Fragen als Antworten. Den staatlichen Behörden bescheinigte der Bericht, alles richtig gemacht zu haben – kaum verwunderlich, die Polizei untersuchte sich schließlich selbst.
Der anschließende öffentliche Druck führte zur Gründung einer sogenannten Enquete-Komission des baden-württembergischen Landtags. Diese erwies sich schon nach den ersten Sitzungstagen als Farce. Ohne Konzept und vor allem ohne das Recht Akten anzufordern oder Zeuginnen und Zeugen vorzuladen, war sie vor allem ein weiterer Vorwand um einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu verhindern. Schon bald nach ihrer Gründung führten die desaströs vorbereiteten und inhaltlich wenig gehaltvollen Sitzungen zu massiver öffentlicher Kritik an der Kommission. Gleichzeitig versuchten verschiedentlich Abgeordnete das Thema der Enquete-Kommission auch auf Themen wie Islamismus auszudehnen. Letztendlich gescheitert ist dieses Ablenkungsmanöver nicht am politischen Willen zu wirklicher Aufklärung, sondern am politischen Dilettantismus einiger Abgeordneter: Der von engagierten Journalisten aufgedeckten sogenannten „Gutachten-Affäre“ .
Noch am 5. September 2014 hatte das Innenministerium von Reinhold Gall Forderungen nach der Aufklärung des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn 2007 zurückgewiesen und verkündet, es gebe Zitat “keine neuen Ansatzpunkte für weitere politische Aufklärung”.
Der Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtags, der im Januar 2015 nun endlich beginnen soll, wird ob solcher Voraussetzungen nur unter dem antifaschistischem Druck einer breiten Öffentlichkeit dazu zu bringen sein, die Aufklärung der Netzwerke und Verbrechen der Naziterroristen voranzubringen.
Genau dieser Druck ist es aber der heute und hier verhandelt wird. Während faschistische Mörder jahrelang unter den Augen des Staates ihr blutiges Handwerk verrichten konnten, während nach dem öffentlich werden der Mordserie mit allen Mitteln versucht wird die Aufklärung der selben zu torpedieren, während hier, in Baden-Württemberg seit 2 Jahren kein Finger krumm gemacht wird die Verbindungen des NSU in den Südwesten aufzuarbeiten, währenddessen sind Polizei und Justiz plötzlich sehr eifrig wenn es darum geht antifaschistischen Widerstand gegen genau diese Vertuschung und Aufklärungsverweigerung zu verfolgen.
So unverhältnismäßig und überzogen ein Gerichtsverfahren wegen ein bisschen Himbeersahne im Gesicht von Reinhold Gall auch scheint, so steht es doch in einer Linie mit der alltäglichen, vielfältigen Repression gegen diejenigen, die den Kampf gegen Nazis und andere Menschenfeinde in ihre eigenen Hände nehmen.
Dieses Verfahren dient dem selben Zweck, wie das Verfahren gegen Tim, einem Familienvater der wegen seiner Teilnahme an Blockadeaktionen gegen Europas ehemaligen größten Naziaufmarsch in Dresden zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde. Es dient dem selben Zweck wie dutzende andere Verfahren in der ganzen Bundesrepublik – Unbequeme antifaschistische Akteure sollen kriminalisiert werden. Geschwächt werden soll der selbstbestimmte Kampf einer Bewegung, die sich die Wahl ihrer Aktionsformen nicht von einem Staat diktieren lässt, der Nazis finanziert und schützt.
Um so wichtiger ist es, das ihr alle heute hier seid, um euch solidarisch zu zeigen und diesen staatlichen Angriff auf aktiven Antifaschismus gemeinsam zurück zu weisen. Angesichts der Aufklärungsverhinderung in der ganzen BRD, angesichts der weiter existierenden faschistischen Netzwerke auch in Baden-Württemberg, angesichts des Rechtsrucks in Deutschland und Europa wird auch in Zukunft eine starke, antifaschistische Linke bitter notwendig sein. Es kommt auf alle von uns an!“
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