Interview: Anne Hilger – Stuttgart. Die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst haben vier Wochen für eine Aufwertung ihrer Arbeit gestreikt. Einige beteiligten sich zum ersten Mal an einem Arbeitskampf. Doch der Schlichterspruch hat viele enttäuscht. Nun will die Gewerkschaft Verdi ihre Mitglieder befragen. Bis das Ergebnis vorliegt, bleiben die Streiks ausgesetzt. Wir sprachen darüber mit Jochen Dürr aus Schwäbisch Hall nach seiner Rückkehr von der dritten Streikdelegierten-Vollversammlung von Verdi in Frankfurt.
Jochen Dürr, 48, ist Heilerziehungspfleger und Vorsitzender der Mitarbeitervertretung im Sonnenhof in Schwäbisch Hall, einer Behinderteneinrichtung der Diakonie mit über 1000 Beschäftigten. Er gehört auch dem AGMAV-Vorstand an, der Mitarbeitervertretung im Diakonischen Werk Württemberg, ebenso dem Verdi-Landesfachbereichsvorstand für die Behindertenhilfe.
Beobachter News: Wie war die Stimmung am Mittwoch, 24. Juni, bei der Streikdelegierten-Versammlung in Frankfurt?
Jochen Dürr: Die Stimmung war schon im Zug bei der Anreise sehr angespannt. Mit mir zusammen waren KollegInnen von Einrichtungen der Behindertenhilfe, die auch aktiv im Streik aktiv waren. In der Versammlung gab es klaren Widerspruch der anwesenden KollegIinnen aus allen Berufsgruppen, dass man/frau dafür nicht vier Wochen im Streik war.
War die Ablehnung des Schlichterspruchs einhellig, oder gab es unter den Streikenden auch RednerInnen, die für eine Annahme plädierten?
Die Ablehnung ware sehr einhellig, KollegIinnen brachten klare Voten aus Versammlungen vom Vorabend aus ihren Bezirken und Betrieben mit. Bei der Abfrage in den Landesbezirken votierten drei Landesbezirke für die Annahme, und ein Bezirk gab kein Votum ab. Sechs Landesbezirke waren dagegen.
Schlichtung im Öffentlichen Dienst kaum zu verhindern
Warum wurde nicht einfach weitergestreikt?
Im Öffentlichen Dienst gibt es eine Schlichtungsvereinbarung aus den achtziger Jahren, die es der Gegenseite kaum möglich macht, die Anrufung der Schlichtung zu verhindern. Der VKA, die kommunalen Arbeitgeber, sind in die Schlichtung geflohen, um die Streiks kurzfristig zu stoppen.
Verdi Baden-Württemberg sprach nach dem Schlichterspruch von „Licht, aber auch Schatten“. Wie sahen das die Mitglieder der Delegation?
Bei zwei Besprechungen der baden-württembergischen Delegation am Mittwoch in Frankfurt gab es klare Voten aus den Bezirken. Von 38 Delegierten enthielten sich zehn, und zwei waren für Annahme der Schlichtung. Bei den Enthaltungen waren auch Delegierte dabei, die in ihrem Bezirken noch keine Versammlung mit den KollegInnen aus den Streikbetrieben hatten und sich deswegen enthielten.
Mehr für Häuptlinge statt für Indianer: Das kann nicht sein
Wie bewerten Sie persönlich das Ergebnis?
Persönlich bewerte ich den Schlichterspruch so: An ein paar Stellen gab es dank der Schlichter Verbesserungen, aber mehr bei den „Häuptlingen“ als bei den „IndianerInnen“. Hilfskräfte etwa bekämen nur 50 Euro mehr, während Leitungen bis zu 6 Prozent mehr bekämen. Für HeilerziehungspflegerInnen gäbe es kaum eine Aufwertung, da liegen die Schlichter sehr weit von der Forderung nach deutlicher Höhergruppierung weg. Eine spürbare Verkürzung der Stufenlaufzeiten vor allem für BerufseinsteigerInnen sieht anders aus, und Vorzeiten sollen bei Arbeitgeberwechsel weiterhin nicht anerkannt werden. Das kann nicht sein.
Gibt es Berufsgruppen, die besonders benachteiligt sind?
Die SozialarbeiterInnen wären die absoluten VerliererInnen. ArbeitserzieherInnen und Jugend – und HeimerzieherIinnen bekommen gar keine Aufwertung. Bei Arbeitgeberwechsel werden bei allen Berufsgruppen Vorlaufzeiten nicht anerkannt.
Wie schätzen Sie die Stimmung im Land, also in Baden-Württemberg, ein?
Es gibt nun in den Bezirken Mitgliederversammlungen, auf denen das Schlichtungsergebnis vorgestellt wird. In den Betrieben wird es eine aufsuchende Mitgliederbefragung geben, das wird ein hartes Stück Arbeit für die KollegInnen in den Streikbetrieben. Ich bin mir sicher, dass in Baden-Württemberg ein klares Votum aus den Bezirken gegen die Annahme kommen wird.
Die Mitgliederbefragung war die Reißleine
Zeigten sich die Delegierten nur über die Schlichter und den Kommunalen Arbeitgeberverband verärgert, oder auch über ihre Gewerkschaftsführung?
Die Verärgerung richtete sich in erster Linie an die VKA und deren Blockade einer Aufwertung. Der Druck und die Statements einiger OBs und Landräte kam bei den Arbeitgebervertretern in der Schlichtungskommission nicht an. Unverständnis schlug unseren haupt- und ehrenamtlichen Verdi-KollegInnen in der Schlichtungskommission entgegen, als sie versuchten, uns das Ergebnis vorzustellen und klar zu machen, das nicht mehr rauszuholen war. Frank Bsirske bekam den Unwillen am deutlichsten ab, weil er für die Annahme des Schlichterspruchs warb.
Wie bewerten Sie die anstehende Mitgliederbefragung in den Streikbetrieben? War sie die Reißleine, die Verdi-Chef Frank Bsirske und die anderen Verhandlungsführer gerade noch ziehen konnten?
Sie war die Reißleine nach mehreren aufgeheizten Debatten an einem langen Tag, die Frank Bsirske zog. Das Quorum muss aber mindestens bei 50 Prozent liegen, und die Laufzeit des Tarifvertrags deutlich kürzer als fünf Jahre sein.
Neue Streiktaktik für einen langen Atem
Rechnen Sie mit Zustimmung oder Ablehnung des Ergebnisses?
Ich rechne mit einer Ablehnung.
Angenommen, die Mehrheit stimmt tatsächlich gegen den Abschluss. Wie soll es dann weitergehen? Der Arbeitskampf ist bis zum 13. August ausgesetzt. Ließe er sich überhaupt wieder in Schwung bringen?
Die zeitliche Lage mit den Sommerferien hat auch in der Debatte in Frankfurt schon eine Rolle gespielt. Es muss über eine andere Streiktaktik geredet werden, um sich einen langen Atem zu erhalten.
Für welches weitere Vorgehen kämpfen Sie persönlich?
Ich komme ja aus einer diakonischen Einrichtung, also nicht aus einem Streikbetrieb. Aber ich werde nach den Debatten am Mittwoch in Frankfurt und mit Blick auf die Gesamt-Gemengelage bei Versammlungen eine Position vertreten, die Ablehnung heißen wird.
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