Von Angela Berger – Stuttgart. Die Empörung über das rücksichtslose Vorgehen der Polizei ist noch immer groß: Mehr als 7000 Menschen versammelten sich am Mittwoch, 30. September, vor dem Stuttgarter Bahnhof. Sie erinnerten an die gewaltsame Räumung des Schlossparks am 30. September 2010. Damals wurden mehrere hundert Menschen verletzt, auch SchülerInnen und RentnerInnen. Die Bewegung gegen Stuttgart 21 hatte unter dem Motto „Fünf Jahre Schwarzer Donnerstag – fünf Jahre Strafvereitelung“ zu der Versammlung aufgerufen. Nach der Auftaktkundgebung gab der frühere Stuttgarter Bahnhofsvorsteher Egon Hopfenzitz den Startpfiff für zwei Demozüge.
Sie trafen sich am Marktplatz wieder und setzen ihren Weg gemeinsam durch die Königstraße bis zum Bahnhof fort. Hauptthema der Abschlusskundgebung war die mangelnde juristische Aufarbeitung des völlig aus dem Ruder gelaufenen Polizeieinsatzes. Dazu sprachen der Kolumnist der „Stuttgarter Nachrichten“ Joe Bauer, der Rechtsanwalt des Aktionsbündnisses Gegen Stuttgart 21 Eisenhart von Loeper, Martin Poguntge für die TheologInnen gegen Stuttgart 21 und Dieter Reicherter, ehemaliger Staatsanwalt und Vorsitzender Richter am Landgericht Stuttgart.
Anzeige gegen den Ex-Oberstaatsanwalt
Reicherter hat Anzeige gegen den ehemaligen Stuttgarter Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler erstattet. Grundlage seien neue Videobeweise, die der „Stern“ veröffentlicht hat. Reicherter wirft Häußler uneidliche Falschaussage und Strafvereitelung im Amt vor. Er habe es versäumt, gegen Polizisten zu ermitteln, die an dem Einsatz beteiligt waren und verbotenerweise Pfefferspray gegen Kinder und Jugendliche einsetzten.
Dabei stützt sich Reicherter auf die Videos und auf Aussagen von Betroffenen und Zeugen. Er rief die damals als Kinder und Jugendliche durch Pfefferspray und Wasserwerfer Verletzten auf, sich bei ihm zu melden, damit er weitere Zeugenaussagen für die Vorbereitung des Prozesses sammeln kann. Die Stuttgarter Generalstaatsanwaltschaft hat Reicherters Anzeige nach eigenen Angaben an das Landesinnenministerium weitergeleitet und empfohlen, dass eine Staatsanwaltschaft im Bereich Karlsruhe die Vorwürfe prüfen soll.
Opfer wollen Schadensersatz fordern
Am 28. Oktober 2015 wird außerdem vor dem Verwaltungsgericht über die Rechtmäßigkeit des Einsatzes und die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel verhandelt. Der Prozess war wegen eines Strafprozesses unterbrochen worden. Würde das Verwaltungsgericht am Ende entscheiden, dass der Einsatz nicht rechtmäßig war, wäre das die Grundlage für Schadenersatzforderungen der sieben Kläger. Unter ihnen ist der nahezu vollständig erblindete Dietrich Wagner. Dazu müsste das Polizeipräsidium zusätzlich dienstrechtlich prüfen, ob die Beamten eine grobe Fahrlässigkeit begangen haben.
Zu einer lückenlosen Aufklärung gehört aber für die Demonstranten am Bahnhof auch die Frage, welchen Einfluss die Politik auf diesen Einsatz nahm. Noch immer taucht auf den Plakaten das Gesicht von Ex-Ministerpräsident Stefan Mappus auf. Noch immer fragen sich viele, inwieweit Politiker der damaligen Regierungsparteien im Vorfeld auf die Einsatzleitung einwirkten.
Die Ereignisse sind noch immer nicht aufgeklärt
In einem Bericht der „Stuttgarter Zeitung“ vom 28. August 2013 hatte auch die Gewerkschaft der Polizei auf die Verantwortung des damaligen CDU-Ministerpräsidenten hingewiesen. Schon allein durch seine Anwesenheit bei einer Einsatzbesprechung habe er Druck ausgeübt. „Mappus strikte Linie bei Stuttgart 21 war klar“, sagte der Gewerkschafts-Landesvize Hans-Jürgen Kirstein damals gegenüber der dpa.
Auch nach fünf Jahren, nach der Abwahl der CDU/FDP-Regierung, trotz einer grün-roten Koalition im Land und trotz zweier Untersuchungsausschüsse des Landtags gibt es bis heute keine lückenlose Aufklärung des Geschehens. Die von Winfried Kretschmann geführte Regierung hat auch bis heute ihr im Koalitionsvertrag festgehaltenes Versprechen, eine Kennzeichnungspflicht für Polizisten einzuführen, nicht erfüllt. Vor allem Innenminister Reinhold Gall steht auf der Bremse.
Auch Linke und Piraten erinnern Koalition an Versprechen
Dabei gibt es auch weiterhin polizeiliche Übergriffe bei Kundgebungen und Demonstrationen, berichtete unser Redakteur Nico Denzinger bei der 290. Montagsdemonstration (siehe „Kennzeichnung soll Polizeigewalt eindämmen„). Die DemonstrantInnen erneuerten am Jahrestag des Schwarzen Donnerstags ihre Forderung nach der Kennzeichnungspflicht. Neben den Parkschützern erinnerten auch die Linke und die Piraten in Pressemitteilungen die Landesregierung an ihr Versprechen.
Noch immer gilt jedoch der dritte Rahmenbefehl, der die Überwachung und juristische Verfolgung von S21-Gegnern anordnet. Rüdiger Seidenspinner, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, hofft nun, das mit dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht über die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Vorgehens „nach fünf Jahren wieder Ruhe“ einkehrt. Der „unschön ausgegangene“ Einsatz werde immer noch von einigen als Maßstab genommen, wenn sie die Arbeit der Polizei beurteilen – auch wenn alle anderen Einsätze „hervorragend gemeistert“ würden.
Siehe auch weitere Berichte und Kommentare
Kennzeichnung soll Polizeigewalt eindämmen
Misstrauen gegen Polizisten? Ja sicher!
Das war mein Schwarzer Donnerstag
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- Egon Hopfenzitz
- Laura Halding-Hoppenheit, DIE LINKE.
- Dietrich Wagner (Bildmitte)
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