Analyse von Hüseyin Dogru – Frankfurt/Stuttgart. Die blutigen Anschläge in Ankara auf linke und kurdische Oppositionelle überschatten die Diskussion über die politische Lage in der Türkei. Doch schon zuvor war klar: Die Syrienpolitik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und des Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu verwandeln das Land in ein neues Afghanistan. Die AKP-Regierung will einen kurdischen Korridor an der türkisch-syrischen Grenze verhindern. Die PKK als Koalitionspartner gegen den IS zu akzeptieren, bedeutet für die internationale Gemeinschaft jedoch zugleich, dass sie nicht länger als Terrororganisation gelten kann.
Die russische Luftwaffe hat zum ersten Mal Luftschläge in Syrien verübt. Der Widerspruch zwischen Barack Obama und Vladimir Putin und das Duell der beiden Imperialisten vor kurzem bei der UN- Vollversammlung verbergen eine noch tieferliegende Wahrheit: Die beiden Präsidenten stehen in der Syrien beziehungsweise Nah-Ost-Frage mehr denn je in Verbindung zueinander.
Beide Seiten üben scharfe Rhetorik
Trotz der wahrgenommen beziehungsweise aufgesetzten scharfen Rhetorik der beiden Seiten zueinander ist es anzunehmen, dass das Regime von Assad länger am Leben erhalten oder gelassen wird und die USA mit Russland gemeinsam gegen den IS Position beziehen werden. Eventuell! Denn die gemeinsamen Interessen beider Seiten, trotz der Differenzen, sind größer. Noch!
Neben Obama und Putin hatten auch die Außenminister John Kerry und Sergei Lavrov eine Unterredung während der UN-Vollversammlung. Obama erwähnte in seiner Rede, dass „eine Zusammenarbeit in der Syrienfrage mit Russland und dem Iran“ möglich sei. Das war eine seiner wichtigsten Aussagen.#
Strittig: Der Umgang mit dem Iran
Ein weiterer wichtiger Punkt laut Berichten der „Financial Times“ („Diplomats struggle to build bridges over Syria initiative„, 27. September 2015 und „Role of Iran spurs divisions over Syria Plan“, 28. September 2015): Im August trafen sich Kerry und Lavrov in Doha mit dem Saudi-arabischen Außenminister Adil al-Dschubeir, um über die Situation in Syrien zu sprechen. Bei diesem Treffen haben alle drei Staaten dafür plädiert, eine Liste mit allen gemäßigten Gruppen, die auf der Seite der syrischen Opposition sind und eine politische Lösung anstreben, zu erstellen. Im nächsten Schritt sollten diese Listen für einen politischen Übergang in einer Plattform zusammengeführt werden.
Aber aus diesem Unterfangen wurde nichts. Nach Angaben eines russischen Delegierten hat Russland eine Liste mit den Namen von 38 Personen eingereicht. Die USA und Saudi-Arabien hätten jedoch ihre „Hausaufgaben“ nicht gemacht. Einigen Diplomaten zufolge hat die Tatsache, dass Russland auch den Iran in diesen Prozess integrieren wolle, in Riad Misstrauen ausgelöst.
Was kann man aus der Zusammenfassung der Financial Times herauslesen?
- Die USA und Russland haben sich nun als die zwei Interventionsmächte in der Syrienfrage behauptet und unterhalten Beziehung in diesem Rahmen, wenn auch mit Bauchschmerzen. In diesen Zirkel wollen beide Akteure ihre jeweiligen regionalen Partner wie zum Beispiel Saudi Arabien und den Iran mit einbeziehen.
- Die Türkei grenzt unmittelbar an Syrien – und obwohl die Türkei die „Opposition“ unterstützt, beliefert, sich um sie kümmert und sich dadurch als ein „geostrategischer Akteur im Nahen-Osten“ (vergeblich) behaupten will, wird sie nicht als solcher angesehen. Im Gegenteil, sie wird in diesen neuen Prozess nicht mit einbezogen.
Die USA beraten sich mit Russland und Saudi-Arabien – ohne die Türkei
Dies ist für die Türkei weder akzeptabel noch verständlich, da sie doch ihrem Bündnispartner Washington den Militärstützpunkt in Incirlik zur Verfügung gestellt hat. Trotz alledem berät sich die USA mit Russland und Saudi-Arabien ohne die Türkei in Doha?! Und nicht wie etwa aus türkischer Sicht erwartet in Ankara oder dem Zentrum der „moderaten syrischen Opposition“ in Istanbul. Genauso wie sie von den USA behandelt wird, wird die Türkei auch von Russland behandelt und bekommt nicht die von der türkischen Seite gewünschte Wertschätzung. Wo sich die Türkei doch auf eine Zusammenarbeit mit Russland gefreut hatte …
Russland schätzt die Rolle Ankaras gegenüber dem IS nicht
Dies dürfte den Russen nicht entgangen sein. Während des G20-Gipfels 2013 in St. Petersburg war Erdoğan kurz davor, offen zu sagen „nehmt uns in die Shanghai-5-Gruppe auf, damit wir endlich von den USA befreit sind“. Es gibt zwei Gründe, dass Moskau nicht an einer Zusammenarbeit mit der Türkei interessiert ist: In der Türkei ist eine islamische Regierung an der Macht. Und die lockere, umgängliche Art Ankaras gegenüber dem sogenannten Islamistischen Staat gefällt Moskau ganz und gar nicht.
Putin betont immer wieder wie schon bei der UN Vollversammlung, dass etwa 2000 Russen in den Reihen des IS aktiv sind und dass genau diese Terroristen irgendwann für Russland eine Gefahr darstellen werden. Die Route der IS Terroristen aus Tschetschenien und dem nordkaukasischen Staat Dagestan führt durch die Türkei. Dessen ist sich Moskau bewusst. Die Dschaisch al-Fatah, die indirekt von der Türkei unterstützt wird, besteht aus dem syrischen Bündnispartner der al-Kaida, der Nusra Front. Sie stellen eine Gefahr für die russische Militärbasis in Latakia (Syrien) dar.
Kalte Dusche für die Türkei
Moskau stuft die Dschisch al-Fatah als eine terroristische Organisation ein. Russland ist sich bewusst, dass genau diese Terrorbande sich in die Pufferzone einnisten wird, die die Türkei beabsichtigt, in Nord-Syrien zu etablieren. Um diese Pufferzone errichten zu können, bedarf es der US-Luftunterstützung, um die No-Fly-Zone am Leben zu erhalten. Zumal Russland seine Flugabwehrraketen SAM an der Seite des syrischen Regimes positioniert hat.
Um sich abzusichern und nicht noch mehr in das Chaos in Syrien hineingezogen zu werden (aus Afghanistan und Irak haben die USA einiges gelernt), haben die USA die türkischen Pläne mit einer Flugverbots- und Pufferzone nicht akzeptiert. Eine weitere kalte Dusche bekam die Türkei, was ihre Syrien-Pläne angeht, aus Deutschland. Merkel hat während der jüngsten CDU-Tagung angedeutet, dass die Flugverbotspläne nicht ganz durchdacht seien, und hinzugefügt: „Ich plädiere für eine humanitäre Pufferzone im türkisch-syrischen Grenzgebiet.“ (siehe den „Tagesspiegel“-Newsblog „Ungarns Polizisten gehen entwürdigender Essensvergabe nach„). Denn was eine nicht-humanitäre Pufferzone bewirken kann, kennt die BRD allzu gut aus Srebrenica. Damals wurde ein Massaker angerichtet.
Deutschland scheut ein zweites Srebrenica
Eine humanitäre, also sichere Pufferzone, gibt es jedoch nicht. Man kann keine Bodentruppen nach Syrien schicken, vor allem da Russland nicht wenig Militärs vor Ort stationiert hat. Unter solchen Bedingungen würde die Pufferzone zu einem zweiten Srebrenica werden. Diese Gefahr kann und wird die BRD nicht eingehen wollen.
Damit die Syrien-Pläne der Türkei realisierbar werden, bedarf es einer breiten internationalen Koalition. Die Haltung Russlands und Irans und die fehlende Unterstützung der USA und EU, hauptsächlich der BRD, behindern die Türkei bei der Durchführung ihres Vorhabens. Bei solch einer Konstellation gibt es für Ankara nur noch eine Lösung: Die türkischen Streitkräfte in Syrien einmarschieren lassen, um ein endlos großes Gebiet zu kontrollieren. Ist dieser Ansatz realistisch? Nein!
Das größte Handicap der Türkei in der Syrien-Frage ist, sich nicht den objektiven Bedingungen anzupassen. Außerdem korrespondieren die Absichten der Türkei nicht mit den Interessen der internationalen Mächte.
Die türkische Regierung sieht die Kurden als Gefahr für die Nation
Weil sich die Bedingungen und Interessen verändert haben, geht man mittlerweile davon aus, dass die Kurden zu den effektivsten Kräften im Kampf gegen den IS gehören, den es zu besiegen gilt. Die Türkei sieht das jedoch anders. Sie betrachtet die Kurden als Gefahr für die nationale Sicherheit. Während Erdoğan die HDP mit der PKK gleichsetzt und durch irrationale Argumentation versucht, die kurdische Bewegung als Ganzes zu verteufeln, versucht Davutoğlu die PYD in Syrien zu diskreditieren. Beide Versuche blieben wie erwartet erfolglos.
Putin dagegen will die Kurden in die Koalition gegen den IS, also gegen den Terror, einbeziehen. Eine Zusammenarbeit mit den Kurden gegen den Terror würde bedeuten, dass die PKK aus der Terrorliste gestrichen und als eine legitime politische Kraft anerkannt werden muss. Die PKK und PYD würden somit international als das legitime politische Sprachrohr der Kurden anerkannt werden. Erste Andeutungen in diese Richtung gab es bereits von den USA und Deutschland, indem sie die Patriot-Raketen ab Mitte Oktober aus der Türkei abziehen. Die Begründung der Vereidigungsministerin Ursula von der Leyen laut „FAZ“: „Die Bedrohung in dieser krisengeschüttelten Region hat jetzt einen anderen Fokus erhalten. Sie geht heute von der Terrororganisation Islamischer Staat aus.“ (siehe „Warum die Bundeswehr die Türkei verlässt„) Das ist gleichbedeutend mit dem Satz: Die Kurden und Assad sind keine Gefahr für die Sicherheit der Türkei.
Erdogan will einen von Kurden kontrollierten Korridor verhindern
Die Besuche Erdogans in Brüssel und seine Treffen mit den EU-Politikern waren ein Versuch, seine Interessen in der Kurdenfrage noch teilweise zu retten. Erdogan will einen von den Kurden kontrollierten Korridor an der türkisch-syrischen Grenze, der Kobane über Dscharābulus mit Afrin verbinden würde, verhindern. Andernfalls wäre Rojava als Ganzes vereint. Dscharābulus gehört zu den Gebieten, die nach Ansicht Putins bombardiert werden sollten, da sie unter der Kontrolle des IS stehen. Zur Zeit führt die kurdische YPG/YPJ einen heftigen Kampf um Dscharābulus .
Zusammengefasst: Die Pläne der türkischen Regierung für Syrien, die Kurden und den Nahen Osten sind nicht mehr realisierbar. Die Türkei vertieft mit dieser Haltung nur noch den Konflikt, in dem sie sich befindet – sowohl innen- als auch außenpolitisch. Erdoğan weiß, dass die Kurden alles daran setzen werden, eventuell nochvor den Wahlen die gesamte syrisch-türkische Grenzregion unter ihre Kontrolle zu bringen und Kobane mit Rojava zu verbinden. Somit wären jegliche Hilfslieferungen an den IS aus der Türkei gekappt.
Kurden könnten auf ein gemeinsames Gebiet hinarbeiten
Die Pipelines zur Türkei wären unter der Kontrolle der Kurden, und das wäre für den Westen aus geostrategischer Sicht ein Horrorszenario. Putin hätte eine Pufferzone – dank der Kurden, die ihm wohlgesinnt sein könnten. Die Kurden hätten ein Druckmittel gegen Ankara, würden noch selbstbewusster auf dem politischen Parkett agieren und eventuell auf eine Vereinigung der kurdischen Gebiete in Nordsyrien und der Südost-Türkei hinaus arbeiten.
Solch ein Unterfangen dementieren die Kurden bei jeder Gelegenheit. Murat Karayilan, einer der Führungskader der KCK, äußerte sich jedoch vor kurze mit dem Satz „Wir sind in einer Phase, in dem wir das freie Kurdistan gründen“ (http://haber.sol.org.tr/turkiye/murat-karayilan-ozgur-kurdistani-kurma-surecindeyiz-130846). Das ist jedoch aufgrund der Ereignisse und der Verschiebung der politischen Machtverhältnisse im Nahen Osten noch abzuwarten.
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