Von Alfred Denzinger – Stuttgart. Nach zwei Verhandlungstagen sprachen Richterin Monika Lamberti und zwei Schöffen vor dem Stuttgarter Landgericht einen 28-jährigen Studenten in einer Berufungsverhandlung am 14. November vom Vorwurf des schweren Landfriedensbruchs frei. Die Kriminalisierungsversuche von zwei Neonazis aus dem Dunstkreis der zwischenzeitlich verbotenen „Autonomen Nationalisten Göppingen“ trugen nicht die gewünschten Früchte.
Der Belastungseifer und die oberflächlichen Ermittlungen einer 63-jährigen, inzwischen pensionierten Staatsschutzbeamtin lieferten auch nicht das wohl gewollte Ergebnis. Die vorgeworfene Tat konnte nicht nachgewiesen werden.
In erster Instanz wurde der jetzt Freigesprochene zu einer Haftstrafe von sechs Monaten auf zwei Jahre Bewährung verurteilt. Dem verurteilten Antifaschisten war Landfriedensbruch in besonders schwerem Fall vorgeworfen worden. Er soll am 27. November 2014 in Deizisau das Auto vorbeifahrender Neonazis durch einen Steinwurf beschädigt haben. Die Neonazis gaben an, sie seien von rund 20 AntifaschtInnen mit Steinen und Latten angegriffen worden. Durch 16 Eindellungen entstand so ein witschaftlicher Totalschaden an dem Fahrzeug, der 800 Euro betrug.
Ist Antifaschismus kriminell?
Die Anklage vor dem Esslinger Amtsgericht stützte sich im November 2015 lediglich auf die Aussagen zweier Neonazis, die behaupteten, zwei Antifaschisten in der Dunkelheit und trotz Vermummung erkannt und identifiziert zu haben. Die Glaubwürdigkeit der Zeugen war von Anfang an zweifelhaft. Ein Angeklagter wurde bereits im ersten Prozess freigesprochen, da er nachweisen konnte, dass er zum Tatzeitpunkt gearbeitet hat und daher gar nicht vor Ort gewesen sein konnte.
AntifaschistInnen erklärten hierzu: „Trotz der Falschaussage der beiden Nazis, die bewusst zwei aktive Antifaschisten aus der Region aufgrund ihres Engagements beschuldigten, hielten Richter und Staatsanwaltschaft an ihrem Willen fest, Antifaschismus zu kriminalisieren, und verurteilen den zweiten Angeklagten.“
Belastungszeuge in Handschellen
Der erste Zeuge, ein 31-jähriger Neonazi, wollte eigentlich vor dem Landgericht keine Aussage machen. Er hatte vor der Verhandlung ans Landgericht geschrieben, er werde kein weiteres Mal aussagen können, da die Tat zu lange her sei und er nichts mehr sagen könne. Da es sich bei Zeugenaussagen nicht um ein Neonazi-Wunschkonzert handelt, kam der Zeuge nicht um die erneute Aussage herum.
Er wurde von Justizbeamten in Handschellen in den Gerichtssaal geführt. Man hätte denken können, dass es sich bei dem Neonazi um einen „ganz schweren Jungen“ handeln könnte. Fehlanzeige! Der „schwere Junge“ sitzt nur derzeit in Rottenburg wegen Leistungserschleichung in Haft.
Angeblich Aufkleber von Linken entfernt
Woher sie am besagten Abend gekommen sind, daran wollte sich der Leistungserschleicher nicht mehr erinnern können. Der zweite Zeuge, ein 26-jähriger Neonazi, wusste es allerdings noch genau: „Wir hatten Aufkleber von Linken weggemacht und waren auf dem Heimweg.“ Für den einen Zeugen dauerte der Angriff „10 bis 20 Minuten“, bis die Polizei vor Ort eintraf und die Angreifer flüchteten. Für den anderen verging angeblich eine „halbe bis dreiviertel Stunde“, bis die Polizei vor Ort war.
Warum sie nicht einfach weggefahren seien, konnten sie nicht sagen. Auf richterliche Nachfrage, ob sie wollten, „dass die auch mal erwischt werden“, erklärte der 31-jährige Neonazi, das könne gut sein. Jedenfalls habe er den Angeklagten eindeutig erkannt. Seine Vermummung sei beim Rennen verrutscht, und so habe er das Gesicht gesehen. Er will den Angeklagten von früheren „politischen Aktionen“ gekannt haben. Woher er den Namen des Angeklagten kenne, das wisse er nicht mehr.
Letztlich waren die beiden Zeugenaussagen so diffus, das es dem Gericht völlig unmöglich war, sich ein klares Bild vom Tatablauf und der angeblichen Tätererkennung zu machen. Einmal wollte man den Angeklagten an seinen Bewegungen erkannt haben, ein anderes Mal soll beim Wegrennen die Vermummung mit einem Schal verrutscht sein und so das Gesicht zu sehen gewesen sein. Und schließlich soll die Kopfbedeckung des Täters – die mal als Kapuze einer Jacke und mal als Basecap beschrieben wurde – runtergerutscht sein.
Waren da Polizeiprofis am Werk?
Nach Angaben des Landeskriminalamts befanden sich auf den sichergestellten Steinen keine verwertbaren Spuren, da darauf auch „Polizeispuren vorhanden“ waren. Die Zeugin von der Kriminaltechnik der Kripo Esslingen führte vor Gericht aus, sie habe am Tattag vor Ort den 31-jährigen Angegriffenen vernommen.
Dieser habe angegeben, er habe eine Person erkannt, den er namentlich benannte. Wie die Vermummung aussah, das konnte der Zeuge aber nicht sagen. Auf die Frage von Rechtsanwalt Christos Psaltiras, ob sie eine Personenbeschreibung verlangt habe, antwortete die Kripo-Beamtin: „Nein, die wollten nicht mehr weiter aussagen.“ Schließlich gab die Zeugin an, dass insgesamt drei Täternamen gefallen seien.
Staatsschutzbeamtin teils schnippisch, teils kleinlaut
Die zwischenzeitlich pensionierte 63-jährige Polizeibeamtin aus der Abteilung Staatsschutz gab an, der 26-Jährige habe den jetzt Angeklagten anhand seiner Bewegungen erkannt. Sie habe daran keine Zweifel gehabt, da der Geschädigte angegeben hätte, „der war das ganz bestimmt“. Die Verwirrung war perfekt, als sie angab, dass der 31-jährige nicht den Angeklagten erkannt haben soll, sondern eine andere Person, die aber nicht angeklagt worden sei.
Richterin Lamberti hielt der Zeugin vor, dass sie im Vernehmungsprotokoll nichts darüber habe finden könne, dass sie den Zeugen nach der Vermummung des Beschuldigten gefragt habe. „Doch, ich hatte gefragt“, war die kleinlaute Antwort der ehemaligen Staatsschützerin. Die etwas schnippische und unprofessionelle Antwort der Ex-Staatsschützerin auf die Frage des Verteidigers, ob sie eine Personenbeschreibung verlangt habe: „Nein. Ich war bei Demonstrationen dabei, ich kenne die Leute. Deshalb brauche ich keine Personenbeschreibung.“ Schließlich wurde klar, dass es sich bei zwei Namensangaben in Bezug auf die angeblichen Täter um den Angeklagten handelte. Einmal seinen Nachnamen und einmal seinen Spitznamen. Die Staatsschützerin will aber beide Personen kennen. Also eine weitere Person, die es in der Realität gar nicht gibt.
„Polizeilich unsauber gearbeitet“
Rechtsanwalt Psaltiras beantragte für seinen Mandanten Freispruch. Nicht zuletzt, weil wegen der Unschuldsvermutung eine Personenbeschreibung hätte verlangt werden müssen. Die Staatsschützerin habe ihre eigenen Annahmen mit Zeugenangaben vermengt. Für die Staatsanwaltschaft war klar, dass der Angeklagte an der Tat beteiligt gewesen sei. Die Juristin forderte sechs Monate Gefängnis zuzüglich 70 Arbeitsstunden.
Nach halbstündiger Beratung des Gerichts verkündete Richterin Lamberti das Urteil: Freispruch, die Kosten trägt die Staatskasse. Der Angeklagte konnte nicht zweifelsfrei als Täter identifiziert werden. „Wir können die Schuld nicht nachweisen“ und es sei „leider unsauber polizeilich gearbeitet“ worden.
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