Von Alfred Denzinger – Stuttgart. Der Saal 104 des Stuttgarter Amtsgerichts war überfüllt. Die Verhandlung konnte nicht beginnen. Erst musste rund die Hälfte der ZuschauerInnen den Saal verlassen, damit der Prozess seinen Anfang nehmen konnte. Coronabedingt gab es lediglich 4 (vier) Zuschauerplätze. Angeklagt war ein in Stuttgart nicht ganz unbekannter Mann, der altersmäßig leicht der Vater der meisten Polizeibeamten sein könnte, die ihn scheinbar nur allzu gern immer mal wieder vor Gericht belasten. Der studierte 58-jährige Diplombetriebswirt ist auf Demos in der Region Stuttgart (und darüber hinaus) nicht wegzudenken. Üblicherweise sieht man ihn mit Halstuch und schwarzer Mütze – bei sonnigem Wetter auch mit Sonnenbrille. Fast jedeR kennt ihn. Egal ob DemonstrantIn oder Polizeibeamter. Trotzdem sitzt er am Dienstag, 5. Januar, auf der Anklagebank. Der durch Mark und Bein gehende Vorwurf: Verstoß gegen das Vermummungsverbot! Urteil: 200 Euro Geldstrafe zuzüglich Gerichts- und Anwaltskosten.
Da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich. Denn im Gesetz steht, es sei verboten, an Versammlungen „in einer Aufmachung, die geeignet und den Umständen nach darauf gerichtet ist, die Feststellung der Identität zu verhindern, teilzunehmen“. Genau dies ist aber bei diesem Angeklagten kaum anzunehmen oder zu unterstellen (siehe auch „Gericht: Mundschutz und Sonnenbrille keine Vermummung bei Demo„). Vielmehr würde man ihn vermutlich ohne sein seit Jahren bekanntes Outfit eher nicht erkennen.
Teilgenommen: Ja – Vermummt: Nein!
Der angeblich seine Identität Verschleiernde soll laut Staatsanwaltschaft am 20. Juni 2020 an einer Kundgebung unter dem Motto „Stoppt den Krieg des Nato-Partners Türkei – Freiheit für alle politischen Gefangenen“ (wir berichteten) teilgenommen haben. Mit Schal, Sonnenbrille und schwarzer Mütze. Genau in diesem Outfit sitzt der Angeklagte nun im Gerichtssaal – nur ohne Sonnenbrille. Der Angeklagte räumte die Teilnahme an der Demonstration ein. Die geladene Polizeizeugin wurde daraufhin unverrichteter Zeugenaussage von Richterin Monika Rudolph entlassen. Gegenüber der Richterin erklärte er bezüglich der fehlenden Sonnenbrille, er habe sie heute nicht dabei, weil die Sonne ja nicht scheine.
Bereits vor der Corona-Pandemie wurde der angebliche Identitätsverschleierer am 1. Oktober 2019 wegen des gleichen Vorwurfs zu 40 Tagessätzen verurteilt (wir berichteten). Aufgrund dieser Vorverurteilung sah es die Staatsanwältin als erwiesen an, dass er von seinem strafrechtlich relevanten Verstoß gegen das Vermummungsverbot gewusst hat. Gefordertes Strafmaß: 1100 Euro.
Rechtsanwältin Mona Hammerschmidt forderte für ihren Mandanten einen Freispruch. Sie begründete ihre Forderung damit, dass es keinen Grund zur Vermummung gegeben habe. Ihr Mandant laufe immer so herum und werde so auch immer erkannt. Die Identität habe nicht verschleiert werden sollen. Im übrigen hätten die meisten TeilnehmerInnen an dieser Demonstration coronabedingt Masken getragen. Es gebe auf anderen Demos sogar die Pflicht, eine Maske zu tragen.
Strafbares Katz- und Maus-Spiel?
Richterin Rudolph verurteilte den Beschuldigten schließlich zu einer Geldstrafe in Höhe von 200 Euro zuzüglich Kosten. In ihrer Urteilsbegründung führte sie aus, er habe seine Anwesenheit zugegeben. Die Coronaverordnung schreibe nicht diese Art der Vermummung vor. Es sei ein Spiel zwischen der Polizei und dem Angeklagten gewesen. „Will nicht sagen „Katz- und Maus-Spiel“, aber eine Sache zwischen Polizei und dem Demonstranten.“
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