Von Sahra Barkini – Stuttgart. Etwa 200 Menschen gedachten am Freitag, 5. November, auf dem Stuttgarter Marienplatz der Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds NSU. In Redebeiträgen wurde der Fokus darauf gelegt, dass nicht nur ein Trio und ein paar UnterstützerInnen die Täter waren, sondern die Verstrickungen weitreichender sind. Es gab eine Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer. Nach der Kundgebung formierte sich eine Spontandemonstration bis zur Paulinenbrücke.
Zu Beginn der Kundgebung wurden die Namen der Opfer verlesen. Darauf folgte eine Schweigeminute und es wurden Kerzen und rote Nelken bei den aufgestellten Opferportraits niedergelegt. Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter: Sie alle wurden Opfer des rechtsextremen Terrors des NSU. Neun von ihnen mussten ihr Leben lassen weil sie nicht „deutsch genug“ aussahen. Das Motiv: Rassismus und Menschenverachtung. Die RednerInnen kritisierten, dass sich auch zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU nichts geändert habe. Noch immer müssten MigrantInnen Angst haben, noch immer seien sie Opfer von Angriffen wie bei den pogromartigen Ausschreitungen in Chemnitz oder am 19. Februar 2020 in Hanau, als ein Faschist neun Menschen wegen ihrer Herkunft getötet hat.
Rechte Terrorzellen in Polizei, Bundeswehr oder anderen Sicherheitsbehörden
Die RednerInnen beschrieben die Angst der Betroffenen. Man wisse nie, wer das nächste Opfer werden könne. Die Gefahr sei noch immer real und dürfe keinesfalls unterschätzt werden. Denn auch heute, zehn Jahre später, seien rechtsradikale Gruppen aktiv – ob in Chats oder im „echten“ Leben. Fast täglich tauchten neue rechte Terrorzellen in Polizei, Bundeswehr oder anderen Sicherheitsbehörden auf. Die Behörden seien nicht auf dem rechten Auge blind, sie stecken oft tief mit drin. So die Kritik der RednerInnen.
Während Halit Yozgat 2006 in Kassel ermordet wurde, war ein Beamter des Verfassungsschutzes vor Ort. Dieser hatte angeblich nichts mitbekommen. Seine Rolle bei dieser Tat wurde nie wirklich geklärt. Stattdessen wurden während der Aufarbeitung dieses Falls Akten vernichtet. Die ermittelnde Sonderkommision, sie nannte sich „Bosporus“, führte die Ermittlungen rassistisch, und rechte Tatmotive wurden nicht einmal in Betracht gezogen. Stattdessen verdächtigte man Angehörige, bis letztlich teilweise komplette Existenzen zerstört waren. Parallel zu den rassistischen Ermittlungen wurde eine rassistische Medienhetze betrieben, die durch den Begriff der „Döner-Morde“ geprägt war. Obwohl die Familien immer wieder darauf hinwiesen, dass es sich bei den Anschlägen um Naziterror handeln müsse, wurden Konstrukte von mafiösen migrantischen Strukturen gesponnen.
Verschleiern, lügen und vertuschen
Seit dem Bekanntwerden der NSU-Mordserie offenbart sich eine Politik der Verschleierung, der Lügen und der Vertuschung. Akten wurden geschreddert oder sind für Jahrzehnte unter Verschluss. Doch bei genauer Betrachtung sei das nicht weiter verwunderlich. Der Verfassungsschutz wurde von hochrangigen SS-Offizieren und Nazis aufgebaut. Der Verfassungsschutz war Teil des NSU, hat ihn mit aufgebaut und hat ihn jahrelang mitfinanziert, so die RednerInnen. Deshalb könne man sich auf den Staat nicht verlassen.
Kämpferische Spontandemonstration
Nach der Kundgebung formierte sich eine Spontandemonstration, die vom Marienplatz bis zur Paulinenbrücke zog und dort selbstbestimmt endete.
Schon am Donnerstag, 4. November, hatte es in gleicher Sache auf dem Stuttgarter Schlossplatz eine Kundgebung gegeben. Ihr Motto: „Ein Weiter-so darf es nicht geben“. Es beteiligten sich etwa 150 Menschen.
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