Von unserer Redaktion – Göppingen/Stuttgart/Karlsruhe. Das Landgericht Stuttgart muss seinen langwierigsten und bedeutsamsten Prozess nach Kriegsende neu aufrollen. Es hatte gegen drei mutmaßliche Rädelsführer der Autonomen Nationalisten Göppingen (ANGP) und ein Mitglied wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung Haftstrafen verhängt (siehe „Autonome Nationalisten verurteilt„). Jetzt wurde bekannt, dass der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil schon im Mai 2016 aufgehoben hat. Erst jetzt machte er seine Entscheidung öffentlich.
Erst im Juli demonstrierten zwei der damaligen Angeklagten unter der neuen Flagge der Partei „Der III. Weg“ gleich zweimal in Göppingen und mehrmals an anderen Orten in Baden-Württemberg (siehe „Der III. Weg fand kaum Beachtung„).
Während der 45 Prozesstage in den letzten Jahren hatte das Landgericht mehr als 120 Zeugen befragt und 160 abgehörte Telefonate ausgewertet. In der „Kameradschaft“, wie die Mitglieder die Gruppe nannten, herrschte laut Urteil des Landgerichtes eine strikte Rollenverteilung. Anders Gesinnte wurden systematisch eingeschüchtert und gezielt attackiert. Eine der Losungen habe dazu aufgerufen, „das Filstal zu nazifizieren und braun zu halten“.
Der Bundesgerichtshof macht nun die Begründung für seine Entscheidung öffentlich. Demnach hat das Landgericht Stuttgart nicht fehlerfrei bewiesen, dass die AN Göppingen eine kriminelle Vereinigung waren. Auf Anordnung des BGH muss nun eine neue Abteilung der Staatsschutzkammer das Verfahren vor dem Stuttgarter Landgericht neu aufrollen. Der damalige SPD-Innenminister Reinhold Gall hatte die „ANGP Vereinigung“, die „eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus“ aufweise, Ende 2014 verboten.
Propagandamaterial überzeugte den BGH nicht
Dem BGH zufolge tragen die früheren Schuldsprüche nicht. In diesen habe nicht rechtsfehlerfrei belegt werden können, dass es sich bei den Mitgliedern der ANGP tatsächlich um eine kriminelle Vereinigung gehandelt habe. Ein Teil der begangenen Straftaten seien Sachbeschädigungen gewesen. Der Schaden sei vergleichsweise gering gewesen. Schwerere Straftaten wie Körperverletzungen seien nur vereinzelt nachgewiesen worden. Somit habe das Landgericht Stuttgart in mehrerlei Hinsicht nicht zweifelsfrei belegen können, dass die Angeklagten eine kriminelle Vereinigung gebildet hätten.
Die gefunden Schlag- und Schusswaffen nebst Propagandamaterial wie Hakenkreuzfahnen, gerahmte Bilder von Adolf Hitler, Transparente, Aufkleber und Plakate mit Aufschriften wie „Die Demokraten bringen uns den Volkstod“ überzeugten den BGH offensichtlich nicht. Die Ermittler hatten das Material im Februar 2014 in 19 durchsuchten Wohnungen in den Landkreisen Esslingen, Göppingen und Rems-Murr gefunden.
Rückzug des Rechtsstaats
Über die Ermittlungen und das Gerichtsverfahren berichteten wir im August 2015 kurz nach dem Urteil (siehe „Autonome Nationalisten verurteilt„). Schon damals kritisierte Ferry Ungar in einem Kommentar, dass den Angeklagten zwar minutiös vergleichsweise harmlose Sachbeschädigungen durch Aufkleber nachgewiesen wurden, das Urteil aber keinesfalls erging, weil sie einer faschistischen und neonazistischen Organisation angehörten und Terror verbreiteten: „Faschismus ist ein Verbrechen und keine Meinung“, so Ungars damaliger Kommentar.
Ein Termin zu der erneuten Verfahrensaufnahme steht noch nicht fest. Bisher ist über die Höhe der Kosten der Ermittlungen sowie der Gerichtskosten nichts bekannt.
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