Göttingen. Bundesinnenminister Horst Seehofer und das Hans-Litten-Archiv (HLA) werden wohl keine Freunde mehr. Nachdem das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg es letztes Jahr dem Verfassungsschutz verboten hat, das Hans-Litten-Archiv als „extremistische Gruppierung“ zu bezeichnen, hat der Geheimdienst flink die Kategorie „extremistische Struktur, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt“ geschaffen. Als solche wird das Hans-Litten-Archiv im Mitte Juni vorgelegten Verfassungsschutzbericht des Bundes für das Jahr 2020 im Kapitel über die Rote Hilfe e. V. bezeichnet.
Die Verfassungsfeindlichkeit des Archivvereins besteht nach Ansicht des Geheimdienstes in der „nachdrücklichen Unterstützung“ der vom Verfassungsschutz gleichfalls als „linksextremistisch“ eingestuften“ Roten Hilfe. Festgemacht wird dies unter anderem an gemeinsamen Lesungen und Veranstaltungen des Archivs mit Ortsgruppen der Rote Hilfe. Gemeint sind wohl Präsentationen einer Broschüre des Hans-Litten-Archivs zum antifaschistischen Widerstand der Roten Hilfe Deutschlands ab 1933. Weiter heißt es im Geheimdienstbericht unter Verweis auf ein circa 10 Jahre altes Zitat eines Archivmitarbeiters: „Zudem dient die archivarische und aufbereitende Tätigkeit des HLA dazu, ‚junge GenossInnen‘ für die Wurzeln der RH zu begeistern und die aufgearbeitete Historie ‚für die Kämpfe der Gegenwart zu nutzen'“.
Lediglich im Registeranhang, in dem Gruppierungen aufgeführt werden, „bei denen die vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung geführt haben, dass die Gruppierung verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, es sich mithin um eine extremistische Gruppierung handelt“, wird beim Hans-Litten-Archiv gemäß dem Gerichtsurteil in Klammern ergänzt, der Archivverein sei „nicht selbst als extremistische Gruppierung, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, aufgeführt, sondern als Unterstützer einer solchen Gruppierung“ zu sehen.
Angesichts der Diffamierung ihrer wissenschaftlichen, publizistischen Bildungsarbeit erscheint es dem HLA als belanglos, ob es nun eine „extremistische Struktur“ oder „Gruppierung“ sein solle, erklärt die Organisation in einer Mitteilung. Denn tatsächlich sei das Hans-Litten-Archiv weder das eine noch das andere, sondern ein Archivverein, der sich der Sammlung historischer Dokumente und der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte der verschiedenen Rote-Hilfe-Vereinigungen und Solidaritätsorganisationen der Arbeiterbewegung und sozialen Bewegung der letzten hundert Jahre widmet.
Gegen Demokratieabbau und Faschismus
Dabei sei die Befassung mit Geschichte für das HLA in der Tat kein Selbstzweck. Denn man wolle die Erfahrungen und Lehren der Vergangenheit, insbesondere das Eintreten Roter Helferinnen und Helfer gegen Demokratieabbau und Faschismus, wachhalten und für heute nutzbar machen, wird ausgeführt. Wenn der Verfassungsschutz das für extremistisch halte, sage das vor allem etwas über den Standpunkt dieses Geheimdienstes selbst aus. Erinnert sei daher, dass die Überwachung des Hans-Litten-Archivs noch auf die letzten Amtswochen des wegen seiner Verharmlosung neonazistischer Umtriebe für die Bundesregierung untragbar gewordenen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen zurückgehe, der heute als CDU-Bundestagskandidat mit antisemitischen Anspielungen von sich reden mache.
Das HLA will gemeinsam mit seinen Anwältinnen und Anwälten beraten, ob es sinnvoll sei, erneute rechtliche Schritte gegen den Verfassungsschutz einzuleiten oder ob sie ihre begrenzten Finanzmittel lieber in den Ankauf seltener historischer Dokumente investieren wolle.
Die Mitglieder des Hans-Litten-Archivs e. V. wollen sich durch die Diffamierung durch den Verfassungsschutz jedenfalls nicht von ihren wissenschaftlichen und publizistischen Aktivitäten abbringen lassen.
Der 1. Vorsitzender des Hans-Litten-Archiv e.V., Dr. Nikolaus Brauns, erklärt hierzu: „Wir appellieren an dieser Stelle an die demokratische Öffentlichkeit, nicht zuzulassen, dass ein Geheimdienst als Zensor zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Engagements auftritt“.
Siehe auch „Wir sind eine Freiwilligenorganisation!“
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