Von Dieter Keller – Stuttgart. „Sei keine Duckmaus – Wir lassen uns den Mund nicht verbieten!“. Unter diesem Motto setzte die Initiative „40 Jahre Radikalenerlass“, der mehrere Betroffene aus Baden-Württemberg angehören, am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, mit einer Kundgebung nahe dem Landtag in Stuttgart ein Zeichen für Demokratie und Menschrechte und gegen die Berufsverbote. Zahlreiche Berufsverbotsopfer waren erschienen.
Am 28. Januar 1972 beschloss die Ministerpräsidentenkonferenz der Bundesländer unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt den so genannten „Radikalenerlass“. Daraufhin wurden etwa 3,5 Millionen BewerberInnen und Mitglieder des öffentlichen Diensts auf ihre „politische Zuverlässigkeit“ durchleuchtet.
Es kam zu 11 000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2200 Disziplinarverfahren, 1250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Betroffen waren hauptsächlich KommunistInnen, Linke, Kriegsgegner, Antifaschisten, Antikapitalisten, Jusos und weitere Demokraten. Jede Systemkritik, jede fortschrittliche Alternative sollte mit dem Knüppel der Berufsverbote erstickt werden.
Der „Verfassungsschutz“ schnüffelte auf allen Ebenen. Auch unter die Beteiligten an der Kundgebung am Mittwoch mischten sich zwei verkleidete Schnüffler, Langnasen, die eifrig Bilder schossen und Notizen anfertigten. Mit der Berufsverbotspraxis sollte die gesamte demokratische Öffentlichkeit eingeschüchtert und zu „Duckmäusern“ erzogen werden. Deshalb auch das Symbol „Sei keine Duckmaus!“
Grün-rote Landesregierung muss Berufsverbote aufarbeiten
Das galt damals und gilt heute. Darüber waren sich die Anwesenden einig. Sie werden sich auch zukünftig weder ducken noch den Mund verbieten lassen. Klaus Lipps, Sprecher der Initiative, und Michael Csaskóczy als direkt Betroffene schilderten nicht nur ihre persönlichen Erfahrungen, sondern zeigten die politischen Zusammenhänge der Berufsverbote und ihrer Praxis auf.
Sie zeigten sich empört über die olivgrün-rosa Landesregierung mit dem Grünen Winfried Kretschmann als Ministerpräsident an der Spitze, die nichts unternehme, die Berufsverbotspraxis der CDU-Regierungszeit aufzuarbeiten, die Betroffenen zu rehabilitieren und in Einzelfällen eine materielle Entschädigung zu zahlen.
Besonders verwerflich sei dabei, dass dem Ministerpräsidenten Kretschmann selbst im Jahr 1977 als angeblich „Linksradikalem“ zunächst die Einstellung in den Schuldienst verweigert wurde. Für Klaus Lipps ein Beleg dafür, dass sich zwar „die Regierung verändert hat, aber nicht die Politik“.
GEW löste sich von ihrer Unvereinbarkeits-Praxis
Um die Politik zu verändern, sei der gemeinsame Druck von unten notwendig. Darüber waren sich die beiden Betroffenen ebenso einig wie Doro Moritz (Landesvorsitzende der GEW Baden-Württemberg) und Cuno Hägele (Geschäftsführer von Verdi) als weitere Rednerin und Redner. Doro Moritz drückte ihre Solidarität mit den Betroffenen aus und forderte, sie zu rehabilitieren. Sie kritisierte die langjährige Haltung der GEW, die bis zu Ausschlüssen von Berufsverbots-Betroffenen führte. Es war ihr sichtbar peinlich, dass es so etwas in ihrer Gewerkschaft gab.
Doro Moritz zeigte sich erfreut, dass der Göttinger Kongress der GEW im März 2012 die Politik der Berufsverbote als verfassungswidrig verurteilte und einen Schlussstrich unter die Praxis der Unvereinbarkeit innerhalb der GEW gezogen hat. Sie forderte ein besseres, qualifiziertes Bildungssystem. Dazu bedürfe es engagierter, demokratischer Lehrerinnen und Lehrer wie jene, die Berufsverbot erhielten.
Berufsverbot für antifaschistisches Engagement
Der Lehrer Michael Csaskóczy erhielt aufgrund seines antifaschistischen Engagements Berufsverbot. Nach einem Urteil des Verwaltungsgerichtshof Mannheim 2007 musste er von der damaligen CDU-Landesregierung ins Beamtenverhältnis übernommen werden, da kein Zweifel an seiner Verfassungstreue bestehe. Er verwies darauf, dass seine intensive geheimdienstliche Beobachtung genau in dieselbe Zeit fällt, in der der „Verfassungsschutz“ von der mordenden Terrorgruppe des „Nationalsozialistischer Untergrunds“ (NSU) angeblich nichts gewusst haben will.
Dies, obwohl der Inlandsgeheimdienst jede Menge V-Leute im direkten Umfeld der Mitglieder des NSU platziert hatte. Seine eigene Bespitzelung, das horten seiner Geheimakten, falle „in die gleiche Zeit, in der kistenweise Dokumente über die NSU und das System der Nazi-V-Leute durch die Schredder gejagt wurden“, sagte Csaskóczy. Das sei nicht mehr mit „Behördenversagen“ oder „Schlamperei“ abzuhaken. Nein: „Dieser Wahnsinn hat Methode, und er steht in einer unseligen Tradition“.
Einer Tradition in der Faschisten unterstützt und hofiert würden, Linke und Antifaschisten hingegen „weiter bespitzelt, verfolgt und diffamiert werden“. Unter dem Beifall der Anwesenden forderte er: „Schluss mit der Überwachung und Einschüchterung kritischer Oppositioneller und Auflösung des Verfassungsschutzes“.
Du sollst dich nie vor einem lebenden Menschen bücken
„Heute am Tag der Menschenrechte“ halten wir fest, die Gesinnungsüberprüfung, die Berufsverbote, der „Radikalenerlass“ waren und sind ein Verstoß gegen die Menschenrechte“, sagte Cuno Hägele von Verdi. Diese bundesdeutsche Praxis wurde durch den Europäischen Gerichtshof letztinstanzlich verurteilt.
Hägele forderte die Aufarbeitung der Berufsverbotspraxis in der Bundesrepublik und in Baden-Württemberg mit dem Ziel der Rehabilitierung der Wiedergutmachung, der materiellen Entschädigung und der Entschuldigung der Landesregierung bei den Opfern.
Er schlug den Bogen zu notwendigen gewerkschaftlichen Kämpfen heute und rief zum Widerstand gegen den Abbau demokratischer Rechte und Freiheiten sowie dem Abbau gewerkschaftlicher Rechte auf. „Dazu gehören auch der Kampf und die Ablehnung des Gesetzentwurfes von Frau Nahles zur Tarifeinheit. Wir wollen nicht die Lieblingskuschelgewerkschaft irgendeiner Bundesregierung und/oder der Arbeitgeber sein. Wir sagen Nein zum vorliegenden Gesetzentwurf, da er in eklatanter Weise in das Koalitionsrecht und damit in das Streikrecht eingreift.“
Zum Schluss erinnerte Cuno Hägele an das Lebensmotto des ehemaligen Buchenwaldhäftlings und langjährigen Bezirksleiters der IG Metall Stuttgart Willi Bleicher: „Du sollst dich nie vor einem lebenden Menschen bücken.“
Fotos: Dieter Keller
Folge uns!