Von Anne Hilger – Stuttgart. „Ohne die Idee einer für alle Menschen gestalteten humanen Welt verliert jede linke Politik ihre Ausstrahlung.“ So zitierte Richard Detje, Redakteur der Zeitschrift Sozialismus, seinen Lehrer Michael Schumann, den Präsidenten des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SoFI). Detje sprach am Sonntagvormittag, 12. Februar, beim Empfang zum zwanzigjährigen Bestehen der baden-württembergischen Rosa-Luxemburg-Stiftung. Es gab außerdem Grußworte, Musik, Gespräche am Büffet und für viele ein Wiedersehen. Zu den Ehrengästen zählte der 100 Jahre alte Kommunist und Agrarwissenschaftler Prof. Theo Bergmann.
„Rechtsentwicklung in Deutschland und Europa. Aufgaben für linke politische Bildung“ war das Thema des Vortrags Richard Detjes. Sein Fazit: „Die Arbeit an einer zeitgemäßen großen Erzählung wäre die Herkulesaufgabe der politischen Bildung. Sie stünde einer Stiftung mit dem Namen Rosa Luxemburgs gut zu Gesicht.“
Es wechseln die Zeiten
Der Freie Chor Stuttgart schuf mit drei Liedern den festlichen Rahmen für den Empfang im gut gefüllten Regionalbüro der Stiftung in der Stuttgarter Ludwigstraße. Der Chor sang Bertolt Brechts Lied von der Moldau „Es wechseln die Zeiten“ nach der Melodie von Hans Eissler, ein türkisches Lied und das „Schubkarrenlied“ aus Doctor Döblingers geschmackvollem Kasperltheater.
Für ein Jubiläum als an sich erfreulichen Anlass war Richard Detjes Vortragsthema ungewöhnlich ernst, passte aber zu der Forderung, gerade in Umwälzungszeiten mehr zu diskutieren und zu analysieren. Er zeichnete ein bedrohliches Bild. Die Brexit-Abstimmung habe im Juni 2016 gezeigt, welche Macht eine rechtspopulistische Strömung entfalten kann, dass sie in der Lage ist, Europa aufzusprengen.
Wahl in den Niederlanden womöglich nur Ouvertüre
Bei der Präsidentschaftswahl in Österreich sei es im Dezember dem Zusammenschluss aller Parteien nur knapp gelungen, einen Siegeszug der FPÖ zu verhindern. Seit der Amtseinsetzung Donald Trumps im Januar 2017 sei kein Tag vergangen, an dem nicht rassistische, chauvinistische, verfassungswidrige und ökologisch katastrophale Wahlankündigungen umgesetzt wurden. Besonders schlimm: Mit seinem Protektionismus etwa gegen Mexiko oder China binde Trump auch die „american white working class“ ein.
Am 15. März werde Geert Wilders einen Wahlsieg feiern und die Partei der Arbeit weiter schwächen, sagte Detje voraus. „Das alte p0litische System der Niederlande ist kaputt.“ Wilders ziehe konsequent gegen Flüchtlinge und die EU ins Feld. Doch selbst die Wahl in den Niederlanden sei möglicherweise „nur eine Ouvertüre“ zu einer noch gefährlichen Entwicklung: einem möglichen Sieg Marine Le Pens am 23. April und 6. Mai bei der Präsidenschaftswahl in Frankreich. Das linke Lager habe sich dort bereits zersetzt, das rechte sei dabei, ihm zu folgen.
„Wir leben in einer Zeitenwende“
Detjes Schlussfolgerung: „Wir haben keine Verhältnisse der Fortschreibung mehr, sondern leben in einer Zeitenwende, in der alte Ordnungsprinzipien nicht mehr vorhanden sind.“ Das machte er am „ungeheuren Erstarken der Rechten“ fest. Es gebe aber gleichzeitig beindruckende Hoffnungszeichen wie den „Woman march“ in den USA.
Mit einem Wahlsieg Marine Le Pens wären der Euro und die EU jedoch Geschichte. Er bedeutete „das Ende der Welt, wie wir sie kennen“ – ähnlich, wie es etwa für den Braunschweiger Politikwissenschaftler Ulrich Menzel auch das Vorgehen Trumps nahelegt. Detjes zweite These: „Der Rechtspopulismus ist eine Bewegung in hochentwickelten kapitalistischen Ländern, die aber in tiefen Krisen stecken.“ Wobei die Frage sei, was geschieht, wenn sich die Lage mit weiteren Krisen vermischt.
Sozial mit völkischer Stoßrichtung
Mit dem Rechtspopulismus sei jedoch die soziale Frage nicht erledigt. Die AfD werde sie „im Sinn einer ausgrenzenden Solidarität“ beantworten. Sie werde die soziale Frage umdefinieren: nicht im Spannungsverhältnis zwischen oben und unten, sondern als „wir gegen die anderen“. Während in Wirklichkeit jahrzehntelang Schneisen in den Wohlfahrtsstaat geschlagen wurden, mache die AfD jetzt Flüchtlinge verantwortlich.
In ihrem internen Strategiepapier kündigt die AfD an, bis zum 28. Februar ihr Sozialprogramm vorzulegen. Seine Stoßrichtung: Eine „massenhafte Einwanderung und die Begeisterung des rot-grünen Mainstreams für Multikulti“ stelle das „Äquivalenzprinzip“ infrage, nach dem wer für die Gemeinschaft Leistungen erbringe, Anspruch auf deren Unterstützung habe. Die Einheimischen müssten „Vorrang vor Neuankömmlingen und Trittbrettfahrern genießen“. Auf diese „gerade bei den ‚kleinen Leuten‘ populäre Position“ hätten die linken Parteien keine Antwort, heißt es in dem vertraulichen AfD-Papier weiter.
Adressatenlose Wut auf Eliten
„Man darf sich von marktradikalen Passagen im AfD-Programm nicht täuschen lassen“, warnte Detje. Der Rechtspopulismus richte sich als politische Kraft gegen die desaströsen Folgen des Neoliberalismus. Die AfD nehme die soziale Frage auf, bringe sie aber in einen völkischen Zusammenhang.
Eine zweite Achse des Rechtspopulismus richte sich gegen die Eliten. Die AfD werde auch Material zum Stichwort „Selbstbedienung der Altparteien“ vorlegen – „das wird der zweite Zünder sein“. Die Wendung „wir gegen die anderen, gegen die Altparteien“ enthalte auch antidemokratische Züge.
Angst vor Kontroll- und Perspektivverlust
Eine israelische Soziologin habe festgestellt, dass der Zulauf für Donald Trump weniger Resultat ideologischer Überzeugung sei, sondern einer „immensen Wut ohne Adressaten“. Das entspreche dem Ergebnis zweier eigener kleiner Befragungsprojekte von 2010 und 2012.
Brisanz erhalte dieses Phänomen der „adressatenlosen Wut“ durch das Zusammentreffen mit drei Ängsten: vor Kontrollverlust über die eigenen Verhältnisse, vor Perspektivverlust – der Sorge, einem selbst oder den eigenen Kindern werde es einmal schlechter gehen – und vor Traditionsverlust. Hier spielten kulturelle Ängste mit hinein: „Die Brisanz ist, dass sich diese Ängste wechselseitig verstärken.“
Gefühl, dass Leistungsträger nicht mehr anerkannt würden
Doch wie ist zu erklären, dass Gewerkschaftsmitglieder ebenso häufig AfD wählen wie alle anderen? Das sei bisher nicht untersucht, sagte Detje. Doch er hat eine These: Der „Generalbass“ im mentalen Haushalt des Rechtspopulismus sei weniger die Gesellschaft, sondern eher die Umsetzung der „völkischen Achse“ auf die Arbeitsebene.
Dort herrsche das Gefühl, dass Leistungsträger nicht mehr anerkannt würden, sich nicht mehr „in der Zone der Respektabilität“ befänden. Daraus entfalte der Rechtspopulismus seine Hauptdynamik.
Dem „Wir gegen die anderen“ entgegentreten
Was lässt sich all dem entgegensetzen? Die politische Bildung müsse „die völkische Wendung der sozialen Frage“ attackieren und dürfe die Verschiebung der Achse von oben nach unten auf die horizontale Ebene „wir gegen die anderen“ nicht hinnehmen. Dazu gehöre, nicht in die „Fallen der Empörungsspiralen“ zu laufen – schließlich gehöre Provokation zur Taktik der Rechten. Da der Rechtspopulismus eine „zutiefst antidemokratische, autoritäre und faschistische Bewegung“ sei, müsse man auch die Demokratiefrage neu auf die Tagesordnung setzen.
Dass der Rechtspopulismus in den ostdeutschen Ländern stärker auftritt, liege an fehlenden gewerkschaftlichen Strukturen. Sie, die multikulturellen Belegschaften, Betriebsräte und Vertrauensleute, müsse man im Westen nutzen: „Das sind nicht gehobene Schätze, die wir haben“.
Reformkurs der Arbeiterbewegung ließ Freiraum für rechte Politik
Die Arbeiterbewegung habe mit ihrem Verzicht auf Utopie und ihrer auf Systemstabilisierung setzenden Reformpolitik Freiräume geschaffen für rechte Politik, zitierte Detje zuletzt Michael Schumann. Wie der Staat insgesamt erschienen auch die Institutionen der Arbeiterbewegung vereinnahmt zu sein für den Erhalt von Systeminteressen.
Gegenüber dem Kapital werde von den Gewerkschaften keine eigenständige, durchsetzungsfähige Politik erwartet. Jetzt gelte es, an einer „zeitgemäßen großen Erzählung“, an der Idee einer für alle Menschen humanen Welt zu arbeiten.
An der Analyse führt kein Weg vorbei
Die „erbarmungslose Analyse“ sei notwendig, sagte Erhard Korn. Als Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Baden-Württemberg hatte Korn den Empfang am späten Sonntagvormittag eröffnet.
„Sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat“, zitierte er bei seinem Rückblick auf das Entstehen und die Entwicklung der Stiftung Rosa Luxemburg. Politische Bildung sei heute „ein starkes Bollwerk gegen Rechtspopulismus und Präfaschismus“. Zentrales Ziel der Stiftung und der Arbeit der nächsten Jahre müsse sein, „dass es nicht zum erneuten Rückfall in die Barbarei kommt“.
Theo Bergmann als Mitglied im Kuratorium
Der frühere Vorsitzende Reinhold Riedel skizzierte die Anfänge der Stiftung in Baden-Württemberg. „Unsere große Sonne war Theodor Bergmann, der sofort bereit war mitzuhelfen mit Vorträgen und als Kuratoriumsmitglied“, würdigte er den Ehrengast. Als Stipendiaten gingen der stellvertretende Vorsitzende der Linken Tobias Pflüger und der heutige Hauptamtliche des Stuttgarter Regionalbüros Alexander Schlager aus der Stiftung hervor.
Riedel sprach auch frühere Differenzen zwischen der Zentrale und dem um seine Autonomie fürchtenden baden-württembergischen Zweig der Stiftung an. Sie führten schließlich zum Rücktritt von vier Vorstandsmitgliedern – unter ihnen auch Riedel selbst.
Gesellschaftsanalyse in einer Umbruchsituation
Florian Weis überbrachte die Glückwünsche der Berliner Zentrale. Er erinnerte an die Anfangszeiten und die schwierige Phase auch für die Stiftung nach 2002, als die PDS nicht mehr dem Bundestag angehörte. Wenn die Linke heute über drei Prozent bei der Landtagswahl enttäuscht sei, müsse man das vor dem Hintergrund früherer Wahlergebnisse sehen. Der Aufbau sei ein langfristiger Prozess.
„Dass wir in einer diffusen Umbruchstituation stehen – davon kann man ausgehen“, sagte Weis vor dem Hintergrund des Brexit, des Aufstiegs der AfD und des Wahlsiegs Donald Trumps: „Wer hätte gedacht, dass die Nato einmal von den USA her infrage gestellt wird.“
Weis forderte, den Untertitel der Stiftung „Institut für Gesellschaftsanalyse“ ernst zu nehmen. Für die nächsten zwanzig Jahre sei in jedem Fall genug zu tun.
Linke hat viele neue Mitglieder unter 30
Im Namen der Linken gratulierte Landesgeschäftsführer Bernhard Strasdeit „zu dieser tollen Bildungsarbeit“. Für die kommenden Auseinandersetzungen sei es wichtig, die Flüchtlings- und die soziale Frage zusammen zu sehen.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung könne in Bereiche vordringen, die die Partei nur schwer erreicht – etwa in die akademische Debatte oder zu Menschen, die erstmals mit politischer Bildung in Berührung kommen. Strasdeit hob hervor, dass sich die Linke derzeit zahlreicher Eintritte erfreue und die Hälfte der neuen Mitglieder unter 30 sei: „Da ist viel Potenzial für politische Bildung.“
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