Essay von Franziska Stier – Basel. In einer Nacht- und Nebelaktion am 20. März erklärte der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdoğan, dass die Türkei aus der Istanbulkonvention austreten werde. Zum 1. Juli wurde dieser Austritt wirksam. Die Folgen sind schwerwiegend.
Die Istanbulkonvention hat das Ziel, Frauen und Mädchen vor geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen. Es ist das erste, rechtlich bindende Instrument seiner Art auf europäischer Ebene, denn die Konvention anerkennt häusliche Gewalt und Femizide als gesellschaftliches und strukturelles Problem. Die im Europarat 2011 erarbeitete Erklärung wurde von 34 Staaten unterzeichnet mit der Verpflichtung gegen alle Formen körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt sowie gegen Zwangsheirat, Genitalverstümmelung, Zwangsabtreibung und Zwangssterilisation vorzugehen.
300 Morde an Frauen allein im Jahr 2020
Der türkische Präsident Erdoğan sieht in ihr stattdessen einen Verstoß gegen „traditionelle Werte“ und den Versuch, „Homosexualität zu normalisieren“, erklärt Amnesty International Schweiz. Obwohl Erdogan selbst die Istanbulkonvention unterzeichnete, fand sie in der Praxis kaum Anwendung. Der Austritt jedoch wird nun die Einstellung jeglicher gesellschaftlicher Bestrebungen zum Schutz von Frauen und Mädchen bedeuten, und die Türkei kann sich den unabhängigen Untersuchungen des Europarats entziehen.
Seit dem Putschversuch 2016 nahm die Gewalt gegen Frauen und Mädchen stetig zu, heißt es im Bericht der GREVIO (Expertengruppe des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt). Im Jahr 2020 wurden in der Türkei rund 300 Frauenmorde bekannt. Diese Femizide sind Ausdruck hetero-patriarchaler Gewalt und bei weitem kein Problem, das nur auf die Türkei zutrifft. Diese Frauen wurden getötet, weil sie Frauen sind und sich aus Sicht der Täter falsch verhalten haben. Die Ursache solcher Morde liegt in einem gesellschaftlichen patriarchalen Gewaltverhältnis, das die Gesellschaft entweder bekämpfen kann, indem sie Frauen ein eigenständiges Leben, Rechte und freien Willen zugesteht und Schutzmechanismen für Gewaltbetroffene schafft, oder so, wie es die AKP-MHP-Regierung anstrebt: Dieses Gewaltverhältnis auf allen Ebenen zu normalisieren.
Martialische Hausdurchsuchungen
Im April 2021 richteten sich diese Gewaltnormalisierungsbestrebungen beispielsweise gegen den Frauenverein Rosa mit Sitz in Amed/Diyarbakir. 33 Mitglieder wurden zur Festnahme ausgeschrieben und erlebten teils martialische Hausdurchsuchungen. Der 2018 gegründete Verein übernahm vor allem Beratungs- und Unterstützungsfunktion für gewaltbetroffene Frauen, da im Zug des Putsches 2016 alle städtischen Beratungseinrichtungen geschlossen wurden. Daneben organisierte der Verein auch politische Veranstaltungen zum Thema Femizid und Gewalt an Frauen.
Neben der staatlichen Gewalt gegen Frauen, steht auch die Kriminalisierung von Lebens- und Begehrensformen außerhalb der Hetero-Ehe auf der politischen Agenda. So wurde am 26. Juni 2021 die Pride in Istanbul, eine Demonstration der LGBTI+-Community, wegen „Verstoßes gegen die Moral“ verboten. Die Polizei setzte Tränengas und Gummigeschosse ein. Regenbogenfahnen wurden beschlagnahmt. Auch die Gay Pride in Ankara, der „Marsch der Würde“, wurde von der Polizei angegriffen, und mindestens zehn Menschen wurden festgenommen.
„Eigene Traditionen und Bräuche“ sollen vorgehen
Der türkische Vizepräsident Fuat Oktay verteidigte bereits im März die Entscheidung zum Austritt, indem er erklärte, dass die Türkei einen eigenen Weg gehen müsse und der Schutz von Frauenrechten „in unseren eigenen Bräuchen und Traditionen“ liege. Diese „eigenen Bräuche und Traditionen“ sehen unter anderem mildernde Umstände bei Gewalt und Femizid vor, sofern die Motive der Gewalt eine „Frage der Ehre“ betreffen. Die gleiche Regierung legte vergangenes Jahr auch einen Gesetzesentwurf vor, der zur Straffreiheit von Kindesmissbrauch führt, sofern sich der Straftäter bereit erklärt, das minderjährige Opfer zu heiraten.
Der Entwurf wurde im Parlament gekippt. Doch damit sind Gefährdungen von Frauen und Kindern noch nicht vorbei. Die oberste Religionsbehörde Diyanet sprach sich 2016 dafür aus, bereits 9-jährige Mädchen und 12-jährige Jungen verheiraten zu können. Zwar ist die Türkei zum aktuellen Zeitpunkt ein säkulärer Staat, doch plant er Telepolis zufolge mit Blick auf den 100. Jahrestag der Republikgründung 2023 eine neue „zivile Verfassung“, in der das Prinzip des Laizismus, die Trennung von Religion und Staat, aufgehoben würde.
Die Fotos entstanden am 27. März / 26. Juni 2021 bei Protesten in der Schweiz
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