Von Sandy Uhl – Stuttgart/Bad Cannstatt. Rund 250 TeilnehmerInnen kamen am Donnerstag, 14. Juni, zur Kundgebung „Wohnen ist Menschenrecht“ auf den Stuttgarter Marktplatz. Ihre Kritik richtete sich gegen die Immobilienpolitik der Stadt Stuttgart und die Profitgier von Investoren und Spekulanten. Nach der Kundgebung parallel zu einer Grundsatzdebatte des Stuttgarter Gemeinderats übe die Wohnungspolitik gab es eine spontane Hausbesetzung in Bad Cannstatt, an der sich 100 Personen beteiligten. Die Polizei blieb nach eigener Aussage entspannt. Nach einem Fest wurde die symbolische Hausbesetzung gegen Mitternacht beendet.
Zu der Kundgebung auf dem Marktplatz hatten das Aktionsbündnis „Recht auf Wohnen“, die Gewerkschaft Verdi und die Initiative „Die Anstifter“ aufgerufen. Joe Bauer, Kolumnist der Stuttgarter Nachrichten, moderierte. Das Programm wurde von Stefan Hiss musikalisch begleitet.
Talkshows als Bühne für Rechtsnationalisten
Die Kundgebung sollte die Themen Mietenexplosion und Wohnungsnot ins öffentliche Bewusstsein rücken. Schon seit den neunziger Jahren gebe es in Stuttgart keinen nennenswerten sozialen Wohnungsbau mehr, wurde moniert. Die Stadtplanung werde Investoren und Spekulanten überlassen. Zudem würden zigtausend Sozialwohnungen im Land und in der Stadt ohne Rücksicht auf die MieterInnen an Immobilienhaie verscherbelt.
Joe Bauer betonte, dass ohne den Protest der Mieterinitiativen und Aktionsbündnisse und ohne Hausbesetzungen das Thema nicht einmal in den Talkshows gelandet wäre. Diese Sendungen seien normalerweise mit der Hetze gegen einige Moscheen-Immobilien ausgelastet und dienten als öffentlich-rechtliche Bühnen für die „Vogelschisse der Rechtsnationalen und Völkischen“. Die verantwortungslose Immobilienpolitik befördere das gefährliche Sündenbock-Denken in der Gesellschaft und damit den Rassismus und Rechtsruck, sagte Bauer.
Schwere Vorwürfe gegen den Vonovia-Konzern
Im Fokus der Kritik stand auch der Investoren-Konzern Vonovia. Immer wieder mit den Tränen kämpfend berichtete eine Mieterin über dessen Machenschaften. Sie selbst wohne in einem Hochhaus, in dem der Konzern versuche, die Menschen durch Modernisierungen und Mieterhöhungen – zum Teil von bis zu 56 Prozent – aus ihren Wohnungen zu vertreiben.
Sie sprach von den Ängsten der zum Teil älteren Menschen, die ihren Lebensabend in den Wohnungen verbringen wollten. Einige Betroffene befürchteten, von der Wohnung direkt auf dem Friedhof zu landen. Die KundgebungsteilnehmerInnen würdigten den Mut der Mieterin, sich öffentlich gegen den Konzern zu wehren, durch mehrfachen Zwischenapplaus.
Spontan äußerte sich auch Karlheinz Paskuda aus Mannheim, einer der kritischen Aktionäre, über Vonovia. So sei ein Antrag zur Minderung der Dividende hinfällig gewesen, nachdem man sie stattdessen erhöht habe. Jährlich würden bis zu 800 Millionen Euro an die Aktionäre ausgeschüttet.
Wohnen ist Menschenrecht
Cuno Brune-Hägele, Geschäftsführer des Verdi-Bezirks Stuttgart, sprach von einem Geist des Aufruhrs und des Widerstands, der auf dem Stuttgarter Marktplatz an diesem Tag herrsche. Sie seien gegen Wohnungsnot und unbezahlbare Mieten notwendig. Wohnen sei ein Menschenrecht. Hägele klagte, dass die Mieten in Stuttgart ins Unermessliche stiegen. Die Stadt verändere sich.
Immer mehr Studierende, Arme, Menschen mit geringem Einkommen, Auszubildende, Jung und Alt treibe die Sorge um, dass sie sich die Mieten in der reichen Landeshauptstadt Stuttgart nicht mehr leisten können. Das Signal der Hausbesetzung vor kurzem in Heslach sei, so Brune-Hägele, dass man die Schnauze voll und ein Recht auf bezahlbaren Wohnraum in der Stadt habe. Es sei ein Skandal, dass tausende Wohnungen und Häuser leer stünden.
Keine Vergrößerung von Wohneinheiten bei der SWSG
Horst Fleischmann sprach für die SWSG-Mieterinitiative. Seit zehn Jahren sei er im Mieterbeirat. Seitdem habe sich nichts verändert. Es werde zwar immer darüber geredet, dass neu gebaut wird. Doch es geschehe im Endeffekt nichts. So gebe es keine Vergrößerung der Wohneinheiten. Dafür werde aber der Gewinn gesteigert, und die Mieten stiegen immer mehr an.
Fleischmann regte die TeilnehmerInnen der Kundgebung an zu überlegen, bei der anstehenden Kommunalwahl nicht wählen zu gehen. Denn im Aufsichtsrat der SWSG säßen auch Mitglieder des Gemeinderats. Die Worte von Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) über bezahlbaren Wohnraum bezeichnete Fleischmann als heiße Luft. Er warf dem OB weiter vor, keine Eier in der Hose zu haben, was den Posten des Ersten Vorsitzenden in der SWSG betrifft.
Symbolische Hausbesetzung mit Straßenfest-Charakter
Nach der Kundgebung gab es gegen 18.30 Uhr in Bad Cannstatt eine spontane Hausbesetzung. Das mehrstöckige Gebäude an der Ecke Daimlerstraße/Veielbrunnenweg in der Nähe des Cannstatter Bahnhofs gehört zu einem Wohnkomplex. Es steht seit mehreren Jahren leer. Die Stadt Stuttgart hatte es 2007 gekauft. Trotz mehrfacher Anfragen des Gemeinderats, zuletzt der CDU, was mit dem Wohnkomplex geschehen solle, reagiere die Stadt nicht, so ein Sprecher der Aktivisten.
Mit der Besetzung wolle man auf die Untätigkeit der Stadt aufmerksam machen, gegen Wohnungsnot, Mietenwahnsinn und Verdrängung vorzugehen. Es handele sich bei der Aktion um eine zeitlich begrenzte Besetzung, die gegen 24 Uhr freiwillig beendet werden solle, so der Sprecher. Die Forderungen der HausbesetzerInnen an die Stadt waren unter anderem, das Gebäude nicht an private Investoren zu verkaufen, es sofort zu sanieren und Sozialwohnungen in ihm bereitzustellen.
Polizei bleibt entspannt
Trotz des ernsten Themas hatte die Hausbesetzung in Bad Cannstatt schon fast Straßenfest-Charakter. So konnten sich die etwa 100 TeilnehmerInnen mit Essen und Trinken stärken. Kurz nach 19 Uhr war auch die Polizei – dem Anschein nach eher zufällig – auf die Hausbesetzung aufmerksam geworden. Ein Beamter sagte, dass man sie eher als öffentlichkeitswirksame Aktion denn als Hausbesetzung im eigentlichen Sinne sehe.
„Wir sind diesbezüglich absolut entspannt“, so der Beamte. Man wolle die Situation zwar im Auge behalten, jedoch in keiner Weise eingreifen. Die Polizei war zunächst mit zwei BeamtInnen vor Ort, später kamen weitere zwei hinzu. Sie beobachteten das Geschehen meist aus entsprechender Distanz. Ein Polizist hielt das Geschehen fotografisch fest.
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