Von Sahra Barkini und Alfred Denzinger – Stuttgart/Mannheim. Kurz vor der Bundestagswahl wurde am Samstag, 25. September, in Stuttgart und Mannheim demonstriert. Der Kontrast könnte größer nicht sein. Während den AntifaschistInnen in Mannheim ein massives Polizeiaufgebot gegenüber stand, genossen „QuerdenkerInnen“ in Stuttgart weitestgehend Narrenfreiheit. Der Impfbus auf dem Schlossplatz musste von der Polizei vor den gut 500 „QuerdenkerInnen“ zeitweise geschützt werden. An der unangemeldeten Demonstration beteiligte sich auch Ralph Bühler – gegen ihn laufen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen des Anfangsverdachts der Volksverhetzung. In Stuttgart betätigte er sich bei der Demonstration zeitweise als „Sargträger“ eines Kindersargs. Auch Querdenken711-Gründer Michael Ballweg war vor Ort.
Inzwischen demonstrieren in Stuttgart seit vier Wochenenden „QuerdenkerInnen“. Unter dem Titel „Marsch der Freiheit“ wird offen dazu aufgerufen, sich an der unangemeldeten Demonstration durch die Stuttgarter Innenstadt zu beteiligen. Im Aufruf, der hauptsächlich über Telegram verbreitet wird, heißt es, man gehe nur spazieren. Deshalb brauche es keinen Versammlungsleiter und keine Anmeldung. Auch sind die OrganisatorInnen dieser angeblichen „Spaziergänge“ voll des Lobes für die Polizei. Sie greife schließlich nicht ein. Am Samstag wurde das auch wieder ausgenutzt.
„Querdenker“ und Neonazis rennen ungehindert kreuz und quer durch die Stadt
Die „QuerdenkerInnen“ liefen durch die Königstraße Richtung Schlossplatz. Und weil sie offensichtlich keine Geschmacklosigkeit auslassen, trugen sie einen Kindersarg durch die Gegend. Gelbe „ungeimpft“-Armbinden durften ebenso wenig fehlen wie die „Freie Linke“ und ein Transparent, das an die Identitäre Bewegung erinnert. Kurz vor dem Schlossplatz verhinderte die Polizei, dass der Impfbus gestört wurde. So zogen die „QuerdenkerInnen“ nach kurzer Zeit weiter Richtung Friedrichstraße, dann in die Kriegsbergstraße und wieder auf die Friedrichstraße den Cityring entlang zum Charlottenplatz. Am Karlsplatz versuchten sie Richtung Schlossplatz zu gelangen, schienen sich aber uneins und zogen schlussendlich über die B14 weiter Richtung Staatsgalerie. Trotz Autoverkehr rannten sie über die vielbefahrene Straße um durch den Oberen Schlossgarten wieder auf die Königstraße zu gelangen. Dabei gefährdeten sie nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen VerkehrsteilnehmerInnen.
Auf Höhe der Thourestraße stoppten BeamtInnen einen Teil des Demonstrationszuges. Die „QuerdenkerInnen“ skandierten ihre wirren Parolen und forderten „Stuttgart wach auf“. Außerdem sangen sie die Nationalhymne. Nach minutenlangem Getrommel und dem Rufen unsinniger Parolen setzte sich ein Teil der Demonstration Richtung Schlossplatz ab. Sie stoppte auf Höhe des Pavillons und beschallte mit Megaphon und wirren Reden weiter die Innenstadt. Den ganzen Tag über war ein sehr defensives Verhalten der Polizeikräfte zu beobachten. Warum die „QuerdenkerInnen“ in Stuttgart solch eine Narrenfreiheit genießen, ist fraglich. In den einschlägigen Telegramkanälen wird dieser Samstag erneut als Erfolg gefeiert und auch schon für nächste Woche mobilisiert. Dann soll unter anderem ein Fackelmarsch durch Stuttgart stattfinden. Aktuell hat die Stadt allerdings den Marsch verboten.
Martialisches Polizeiaufgebot gegen AntifaschistInnen
Dagegen konnten sich die rund 400 AntifaschistInnen in Mannheim nur unter massiver Polizeibegleitung durch die Innenstadt bewegen. Die Demonstration unter dem Motto „Weil uns keine Wahl bleibt: antifaschistisch kämpfen!“ war ordnungsgemäß angemeldet. Der Demonstrationszug wurde mehrfach von der Polizei mit der Begründung gestoppt, es sei zu Auflagenverstößen gekommen. So habe man die nötigen Abstände von drei Metern zwischen den Seitentransparenten nicht eingehalten, so die Aussage der Polizei. Auch sei das Zünden von Pyrotechnik laut Auflagenbescheid nicht zulässig. Immer wieder filmte und/oder fotografierte die Polizei DemonstrantInnen.
Durch die hohe Polizeidichte an der Front und der Seite des Demonstrationszuges waren die Transparente für Außenstehende zeitweise weitgehend unlesbar. Bei den PassantInnen entstand durch die Vielzahl der eingesetzten Polizeikräfte der Eindruck, es seien hier furchtbar gefährliche Menschen unterwegs, und man müsse die Bevölkerung vor diesen schützen.
Die Demonstration war Teil der „antifascist action! – Kampagne“. Weitere Demos hierzu fanden in Köln, Duisburg, München und Frankfurt statt. Weitere Infos hierzu gibt es unter https://antifa-kampagne.info/bericht-zu-den-antifascist-action-vorabenddemos-in-mannheim-koeln-frankfurt-muenchen-duisburg/.
Kommentar von Sahra Barkini:
Unbegreiflich
Für mich ist es schwer verdaulich zu sehen, wie in Stuttgart Samstag für Samstag hunderte „QuerdenkerInnen“ durch die Innenstadt ziehen. Meist unbehelligt von PolizistInnen. Auch Protest gibt es keinen. Einzig ein paar wenige PassantInnen äußern Unmut, wenn eine Horde maskenloser Menschen mitten durch die Königstraße zieht. Vergangenen Samstag dann der bisherige „Höhepunkt“ der Geschmacklosigkeit: Die selbsternannten FreiheitskämpferInnen trugen einen Kindersarg durch die Stadt. Einer der Sargträger, Ralph Bühler, war regelmäßiger Gast bei den rechten Frauenbündnis-Kandel-Demos.
Aber klar, ich vergaß: Es demonstriert ja nur die „bürgerliche Mitte“. „Stuttgart wach auf“ schalte es durch die Stadt. Und natürlich die üblichen dumpfen Parolen: „Friede, Freiheit keine Diktatur“. Dieses Geplärre von „Friede“ klingt noch viel grässlicher, wenn man bedenkt, dass erst vor ein paar Tagen ein mutmaßlicher „Querdenker“ in Idar-Oberstein einen Tankstellen-Kassierer erschossen hat – und das nur, weil der Angestellte ihn bat, während seines Bierkaufs eine Maske zu tragen.
Unter einer friedlichen Bewegung, wie sie selbst von sich behauptet, verstehe ich aber auch nicht, JournalistInnen anzugreifen. Und Diktatur – nun ja, es muss schon eine seltsame Diktatur sein, in der Hunderte „QuerdenkerInnen“ Samstag für Samstag die Innenstadt tyrannisieren können ohne daran gehindert zu werden. Die BeamtInnen scheinen nur begleitend im Einsatz zu sein. Würden AntifaschistInnen oder KurdInnen Woche für Woche durch Stuttgart ziehen, sähe das Polizeiaufgebot definitiv anders aus.
So war es ja auch am selben Tag in Mannheim. Schon ein ziemlicher Kontrast: Tagsüber hüpfen „QuerdenkerInnen“ durch die Stadt, und noch am selben Abend treffen AntifaschistInnen auf ein martialisch auftretendes Polizeiaufgebot. Klar, Mannheim und Stuttgart sind unterschiedliche Städte. Das Argument zieht allerdings für mich nicht. Dieses Verhalten hat offenbar System. „QuerdenkerInnen“ und ihr Guru Ballweg, der anscheinend wieder einen Rücktritt seines Rücktritts vollzog – jedenfalls war er demonstrierend mit Fahrrad und Flagge in der Innenstadt präsent – , haben wohl tatsächlich seitens der Behörden und der Stadt Stuttgart Narrenfreiheit, und das seit über anderthalb Jahren.
Wissen eigentlich Oberbürgermeister Frank Nopper aus Backnang und Ordnungsbürgermeister Clemens Maier aus Trossingen nicht, welch Schauspiel sich samstags in der Stuttgarter Innenstadt abspielt? Weil’s in der beschaulichen Provinz am Wochenende gewöhnlich ruhig ist? Oder ist das wieder eine komische Art der Deeskalation?
Während der „QuerdenkerInnen“-Demonstration am Ostersamstag war es Maier ja auch ein persönliches Anliegen, AntifaschistInnen von der Polizei einkesseln zu lassen, statt den selbsternannten FreiheitskämpferInnen den Marsch durch die Stadt zu verwehren.
Es ist unbegreiflich, und es macht wütend. Fast bin ich versucht, selbst „Stuttgart wach auf“ zu rufen – aber mit dem Zusatz: „In deiner Stadt laufen Nazis rum.“
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