Von Franziska Stier – Ankara. Die Regierungsparteien der AKP und der nationalistischen MHP reichten am 4. Oktober einen Gesetzesantrag an das türkische Parlament ein. Dieses Gesetz wird zu einer drastischen Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit führen, befürchten JournalistInnenverbände und -gewerkschaften. Auch 23 internationale Organisationen wie Reporter ohne Grenzen, die Pressefreiheit und Meinungsfreiheit verteidigen, forderten die türkischen ParlamentarierInnen auf, den Gesetzesentwurf zu „Desinformation und falschen Nachrichten“ abzulehnen.
In ihrer Stellungnahme kritisieren sie, dass der Gesetzesentwurf bis zu drei Jahre Gefängnis für die vorsätzliche Verbreitung von „Desinformation und falschen Nachrichten“ vorsieht. Gleichzeitig bleibt die Definition von Desinformation und Vorsatz sehr vage formuliert. „In die Hände der hochgradig politisierten Justiz der Türkei gelegt, würde das Gesetz zu einem weiteren Instrument, um Journalisten und Aktivisten zu schikanieren, und könnte zu einer weit verbreiteten Selbstzensur im Internet führen“, heißt es in einer Erklärung der Reporter ohne Grenzen.
Auch türkische JournalistInnenverbände wie Journalists’ Union of Turkey (TGS), Contemporary Journalists Syndicate (ÇGD) und die Journalist Community veröffentlichten eine Stellungnahme (siehe unten im Wortlaut). Das neue Gesetz verschlechtere nicht nur die Bedingungen, unter denen JournalistInnen in der Türkei arbeiten, es verschlimmere auch die demokratische Krise des Landes. Sie warnen: „Wenn dieses Gesetz in dieser Form umgesetzt wird, wird es in unserem Land keine Presse-, Meinungs- und Kommunikationsfreiheit mehr geben.“ Gleichzeitig kündigen die JournalistInnen auch Widerstand an: „Wir werden diese Zensur nicht hinnehmen; wir werden diesen Kampf mit unseren LeserInnen, der Branche, unseren Kollegen und den Menschen, die für die Presse- und Meinungsfreiheit eintreten, weiterführen.“
Die Stellungnahme im Wortlaut (Übersetzung Franziska Stier):
„Wie wird das Gesetz unser Leben ändern?
Liebe Freunde, in den nächsten Tagen wird das türkische Parlament ein Gesetz diskutieren und verabschieden, das nicht nur das Medienklima im Lande drastisch verändern, sondern auch die Meinungsfreiheit erheblich einschränken und strenge Strafen für die Berichterstattung und Verbreitung ‚irreführender Nachrichten‘ einführen wird.
Während der Debatten über den Entwurf in den parlamentarischen Ausschüssen haben VertreterInnen von Medienorganisationen und den Oppositionsparteien sehr ernsthafte Einwände gegen viele Teile des Entwurfs geäußert und von den VertreterInnen der Regierungsparteien Zusagen erhalten, dass der Text und der Geist des Entwurfs verbessert würden, um zumindest einige der Bedenken der Medien-NGOs zu berücksichtigen. Der Entwurf wird jedoch in die Generalversammlung des Parlaments eingebracht, ohne dass der Text oder der Geltungsbereich verbessert wurden.
Dieser Gesetzesentwurf enthält Änderungen am Pressegesetz und wurde ohne Konsultation oder Berücksichtigung der Einwände von Presseorganisationen und PressevertreterInnen in der Türkei ausgearbeitet. Wir bitten unsere Partner um ihre Unterstützung, damit unsere Einwände sowie die wichtige Solidarität mit den türkischen Medien-NGOs bei der türkischen Regierung und dem Parlament Gehör finden.
1) Nicht nur diejenigen, die „unerwünschte Nachrichten“ produzieren, sondern auch diejenigen, die sie verbreiten helfen, werden bestraft.
Der Gesetzesentwurf wird zum größten Hindernis in unserer Geschichte gegen die Meinungsfreiheit. Mit Artikel 29 wird ein neuer Straftatbestand, die ‚öffentliche Verbreitung irreführender Informationen‘, in das türkische Rechtssystem aufgenommen. Da der Straftatbestand recht vage und offen definiert ist, ist nicht klar, wie die Staatsanwälte gegen diejenigen vorgehen werden, die angeblich falsche Informationen verbreiten. Kritische Beiträge in sozialen Medien könnten als ‚Desinformation‘ angeprangert werden. Durch diese Änderung könnten nicht nur die Verursacher von ‚Falschnachrichten‘, sondern auch diejenigen, die an deren Verbreitung beteiligt sind, strafrechtlich verfolgt werden. Die Kriminalisierung solcher Handlungen könnte zu Entwicklungen führen, die an den Wurzeln unserer Demokratie und den Grundprinzipien der Meinungsfreiheit rütteln könnten.
2) Lokale Zeitungen trifft es besonders
Die offiziellen Werbeeinnahmen, die die Hauptlebensquelle unserer Lokalzeitungen sind, könnten um 75 Prozent zurückgehen. Dieser finanzielle Rückschlag könnte etwa 8000 unserer KollegInnen arbeitslos machen. Während Websites in den Anteil der amtlichen Anzeigen des Bundesanzeigeramtes (BIK) einbezogen werden, ohne dass eine zusätzliche Ressource geschaffen wird, wird der Anteil der lokalen Printmedien schrumpfen. Von den 953 Zeitungen, die berechtigt sind, amtliche Anzeigen zu veröffentlichen, handelt es sich um etwa 30 überregionale und der Rest lokale Zeitungen. Berücksichtigt man die Zeitungen, die darauf warten, in die Liste der Zeitungen aufgenommen zu werden, die amtliche Anzeigen veröffentlichen dürfen, so könnten bis zu 1000 Lokalzeitungen dem Risiko eines erheblichen Rückgangs ihrer Einnahmen aus amtlichen Anzeigen ausgesetzt sein.
3) Der Unterschied zwischen Lokalzeitungen und Nachrichtenwebsites wird sich verringern und verschwimmt. Äußerungen, dass gesetzliche Regelungen für Internet-Nachrichtenseiten zu einem späteren Zeitpunkt getroffen werden sollen, haben zu Befürchtungen geführt, dass dadurch eine Lücke entsteht. In Bezug auf die erworbenen Rechte werden die lokalen Printmedien Verluste im Sinne von gleichen Kosten und gleicher Funktion erleiden. Institutionalisierte Lokalzeitungen, die seit langem existieren, die Arbeitsplätze geschaffen haben, die dem Berufsstand jahrelang durch die Zahlung von Steuern gedient haben, drohen nun mit den erst vor kurzem eingerichteten Internet-Nachrichtenseiten gleichgestellt zu werden. Während Reporter, Redakteure und Chefredakteure von Lokalzeitungen die Rolle des ‚Gatekeepers‘ übernehmen, um die Richtigkeit der Nachrichten zu gewährleisten, dürften die neuen Entwicklungen diese wichtige Funktion schwächen.
4) Strafe für das Teilen in sozialen Medien
Beiträge in den sozialen Medien, die von den Machthabern als gefährlich eingestuft werden, werden mit schweren Strafen belegt. Instant-Messaging-Dienste werden verpflichtet, Informationen über die Interaktionen ihrer Nutzer an die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (BTK) weiterzugeben.
5) Ein Zuckerbrot und zehn Peitschen für die Online-Presse
Der etwas positive Aspekt des Vorschlags besteht darin, dass er unseren KollegInnen, die in der Internetpresse arbeiten, den Status von Journalisten verleiht und ihnen den Weg zum Erhalt eines Presseausweises ebnet. Trotzdem sind unter bestimmten Bedingungen auch harte Sanktionen gegen die Onlinepresse vorgesehen. Websites, die ihrer Liefer- und Aufbewahrungspflicht nicht nachkommen, können mit einer Geldstrafe von bis zu einer Milliarde Lira belegt werden. Außerdem werden die Presseausweise von Journalistinnen (ein persönliches Recht), die für Websites arbeiten, die ihre Eigenschaft als ‚Nachrichtenseite‘ verloren haben, ebenfalls entzogen.
6) Websites werden mit Klagen überhäuft
Der Schutz der Persönlichkeitsrechte ist wichtig, aber als solcher könnten Nachrichten-Websites einem dauerhaften Chaos ausgesetzt werden. Während für die Einreichung einer Klage eine Frist von vier Monaten gilt, die sich nach dem Datum der Veröffentlichung von Inhalten in der gedruckten Presse richtet, wird dies bei Nachrichten-Websites nicht der Fall sein. Vielmehr müssen Nachrichten-Websites für die von ihnen veröffentlichten Inhalte mit einer Untersuchung rechnen, und die Behörde, die die Untersuchung durchführt, muss diese innerhalb von vier Monaten nach einer Beschwerde abschließen. Mit anderen Worten: Es gibt keine Verjährungsfrist für die Erhebung von Klagen gegen Nachrichtenseiten in Bezug auf ihre Inhalte. Dies bedeutet, dass Websites, die täglich Hunderte von Nachrichten veröffentlichen, jahrelang ohne Verjährung verklagt werden können.
7) Der Presseausweis wird seine Bedeutung verlieren
Der Presseausweis hat für JournalistInnen keinen Sinn mehr, da der Entwurf den Führungskräften von Vereinen und Stiftungen sowie vielen öffentlichen Bediensteten das Recht auf einen Presseausweis einräumt. Durch die Aufnahme der Klauseln der Presseausweis-Kommission in den Gesetzesentwurf wird verhindert, dass die Berufsverbände dieses Gesetz vor die Verwaltungsgerichtsbarkeit bringen und sich damit einen rechtlichen Schutzmantel der Immunität zulegen. In der 9-köpfigen Kommission, die darüber entscheidet, wer für einen Presseausweis in Frage kommt und wer nicht, werden nur zwei VertreterInnen von Journalisten sein, während fünf Mitglieder direkt vom Präsidenten bestimmt werden.
8) Die BIK wird zu einer Strafanstalt
Die Behörde für öffentliche Anzeigen (BIK), die eingerichtet wurde, um offizielle Anzeigen in fairer Weise an die Zeitungen zu verteilen, und die für die Erbringung von Vermittlungsdiensten unabhängig von Meinung und Inhalt zuständig ist, wird mit großen Befugnissen als Institution ausgestattet, die sowohl Geldstrafen als auch Strafen für Zeitungen und Internet-Nachrichtenseiten verhängt. Die Behörde für öffentliche Werbung wird zum „Hüter“ der Print- und Digitalmedien, so wie die RTÜK für Fernsehen und Radio.
9) Bandbreite kann eingegrenzt werden
Die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologien (BTK) wird Kommunikationsplattformen wie soziale Medien und WhatsApp mit strenger Überwachung und Strafen bedrohen. Social-Media-Unternehmen, die sich nicht an die strengen Auflagen halten, z.B. Informationen über die Nutzung bereitzustellen oder gegen Konten vorzugehen, denen Straftaten vorgeworfen werden, müssen mit einer Geldstrafe von 30 Mio. TL rechnen und ihre Bandbreite wird um 95% eingeschränkt, was gleichbedeutend mit einer Schließung sein könnte. Die BTK kann Geldstrafen von bis zu 3 Prozent des weltweiten Umsatzes von Social-Media-Unternehmen verhängen. Welcher Social-Media-Riese würde 3 Prozent seines weltweiten Umsatzes als Strafe an die Türkei zahlen? Der Artikel zielt darauf ab, den Bereich der Gedanken- und Meinungsfreiheit zu kontrollieren, indem Druck auf Social-Media-Unternehmen ausgeübt wird.
10) Diejenigen, die sich beruflich wehren, werden härter bestraft
Als wir im Juni im Parlament unsere Einwände vorbrachten und sagten: ‚Lasst uns diese umstrittenen Artikel so umgestalten, dass sie nicht mehr zweideutig sind, denn sie bereiten uns große Sorgen‘, wurde uns nicht zugehört. Stattdessen wurden wir dafür bestraft, dass wir unsere professionellen Einwände geäußert haben. Nicht nur, dass die Institutionen, die für den Zweck geschaffen wurden, berufliche Absprachen zu treffen, in Sanktionsbehörden umgewandelt werden, auch die punktgenau verhängten Strafen werden ausgeweitet.
Im Vorfeld der anstehenden Wahlen muss ein klares ‚NEIN‘ zu allen gesetzlichen Regelungen ausgesprochen werden, die es staatlichen Institutionen erlauben, Nachrichtenquellen, die die Öffentlichkeit mit korrekten Informationen versorgen sollen, willkürlich wie einen Schraubstock zu kontrollieren.
Als JournalistInnen warnen wir gemäß unserer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft erneut sowohl die Gesetzgeber als auch die Öffentlichkeit.
Wenn dieses Gesetz in dieser Form umgesetzt wird, wird es in unserem Land keine Presse-, Meinungs- und Kommunikationsfreiheit mehr geben.
Wir werden diese Zensur nicht hinnehmen; wir werden diesen Kampf mit unseren LeserInnen, der Branche, unseren Kollegen und den Menschen, die für die Presse- und Meinungsfreiheit eintreten, weiterführen.“
Folge uns!