Von unseren ReporterInnen – Tübingen. Es regnete, und es wehte ein kalter Wind. Dennoch demonstrierten am Samstag, 18. März, um die Mittagszeit etwa 300 Menschen auf dem Tübinger Holzmarkt für Demokratie und Menschenrechte in der Türkei. Ein gewerkschaftliches Bündnis um den DGB hatte zu der Kundgebung aufgerufen. Prof. Jürgen Wertheimer (WerteWelten) und der Marburger Kriminologe Prof. Dieter Rössner riefen Bundesregierung und Öffentlichkeit eindringlich auf, den demokratischen Kräften zur Seite zu stehen. Man dürfe Recep Tayyip Erdogan bei der Abschaffung von Rechtsstaat und Demokratie nicht länger gewähren zu lassen. Es gebe keinen Zweifel, dass er die Diktatur anstrebe – und es gehe auch nicht nur um die Türkei.
Veranstalter der Kundgebung waren der DGB, Verdi, die GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft), die dju (Deutsche Journalistinnen- und Journalistenunion in Verdi) und der nicht zum DGB gehörende DJV (Deutscher Journalisten Verband). Auch die FDP hatte sich dem Aufruf angeschlossen. Ebenso beteiligten sich Politiker der SPD, der Linken und der Grünen. Beobachter zeigten sich überrascht, dass nicht mehr Menschen mit türkischen Wurzeln auf den Holzmarkt kamen – möglicherweise aus Angst vor Repressalien.
Es sei „fünf vor zwölf für die Demokratie in der Türkei“, sagte Gerlinde Strasdeit vom Tübinger DGB-Kreisverband als Moderatorin. Sie schloss die Kundgebung nach einer guten Stunde mit einer deutlichen Ansage: Der DGB bekenne sich zum Prinzip der Einheitsgewerkschaft und vereine Mitglieder unterschiedlicher Weltanschauung und aus verschiedenen politischen Lagern. Das gelte auch für türkische Kollegen. In den Gewerkschaften fänden sich Anhänger des türkischen Staatspräsidenten und Oppositionelle. Allen stehe Meinungsfreiheit zu. „Aber wir akzeptieren nicht, dass Kollegen wegen ihrer oppositionellen Haltung zu Erdogan bespitzelt, bedroht und verfolgt werden“, stellte Strasdeit unter Beifall klar.
Journalismus ist ein gefährlicher Beruf
Joachim Kreibich (dju), Vizepräsident der Internationalen JournalistInnen-Föderation (IJF), schilderte die Bedrohungen, denen Medienvertreter weltweit ausgesetzt sind. Schon 2010 habe eine türkische Journalistin seinem Verband berichtet, man werde mit einem Jahr Gefängnis schon allein dafür bestraft, dass man das Wort Kurdistan in einem Artikel verwende. „In keinem anderen Beruf muss man mit Strafe rechnen, wenn man ihn gut macht“, zitierte Kreibich einen anderen türkischen Kollegen.
Mit dem Ausnahmezustand habe sich die Lage der JournalistInnen in der Türkei weiter verschlechtert. Viele seien inhaftiert und Verlagshäuser seien geschlossen worden. Kritik an der AKP-Regierung werde mit Terrorismus gleichgesetzt. „Wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden, Menschen ihren Job verlieren und verhaftet werden, protestieren wir – da sind wir uns einig“, sagte Kreibich. Die Inhaftierten bräuchten Solidarität. „Wir werden unsere Stimme erheben und im Bündnis mit demokratischen Kräften in der Türkei dran bleiben“, versprach Kreibich: „Die Mächtigen mögen es nicht, wenn man ihnen auf die Finger schaut. Aber das werden wir tun.“
Akademikerin hält täglich Mahnwache auf dem Holzmarkt
Betül Havva Yilmaz von „Academis for Peace“ hält seit dem 11. Februar täglich auf dem Holzmarkt eine Mahnwache ab und spricht mit vielen Menschen. „Zusammen haben wir den Holzmarkt zu einem öffentlichen Rednerpult gemacht“, sagte sie. Wie viele andere Akademiker hatte die Literaturwissenschaftlerin eine Petition gegen Ausgangssperren unterschrieben, die für die Betroffenen lebensbedrohlich wurden, weil sie sich nicht mehr versorgen konnten. Sie schilderte die Schikanen und Drohungen, denen die Unterzeichner ausgesetzt sind. Die Doktorandin selbst war in Tübingen, als sie von ihrem Arbeitsverbot erfuhr. „Sie werden uns nicht mundtot machen. Wir haben unsere Unterschrift nicht bereut“, war für die Rednerin dennoch klar.
Im neuen Semester will Yilmaz ihre Mahnwache einmal wöchentlich vor der Universität abhalten. Sie wirbt für Fernstudiengänge und Stipendien für bedrohte Akademiker, ebenso um Spenden für alle, „die wegen ihres Engagements für Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit ihre Arbeit verloren haben“. Wenn Erdogan in Deutschland Meinungsfreiheit verlangt, solle er begründen, weshalb er Menschen inhaftiert, die sich die Freiheit genommen haben, Nein zur von ihm geforderten Präsidialverfassung zu sagen. So könne etwa Selahattin Demirtas, der Co-Vorsitzende der HDP, nicht in Deutschland auftreten, weil er im Gefängnis sitzt. „Wir sagen Nein, weil wir für eine demokratische Verfassung sind, die die Rechte aller respektiert.“
Wertheimer: Die Zeit des diplomatischen Abwartens ist vorbei
Prof. Jürgen Wertheimer zeichnete ebenfalls ein düsteres Bild. Wer deutsche Regierungspolitiker als Nazis und Faschisten beschimpft, dem müsse das Wasser bis zum Hals stehen – und das sei wohl mit dem Referendum auch der Fall. Er glaube nicht, dass es richtig sei, Erdogan gewähren zu lassen und weiterhin diplomatisch und taktisch vorzugehen, sagte Wertheimer und erinnerte an „Biedermann und die Brandstifter“. Abwarten könne man allenfalls, wenn noch unklar sei, welches Ziel jemand verfolgt. Doch Erdogan verberge seine Absichten nicht, „deshalb ist die Schonzeit vorbei“.
Es sei keinesfalls so, dass man nicht wüsste, was der türkische Staatspräsident vorhat, betonte der Germanist und vergleichende Sprachwissenschaftler. Er warnte davor, Erdogan als „Irren vom Bosporus“ zu bezeichnen. Damit verkenne man dessen „boshafte politische Energie“, „kaltschnäuzige Schnelligkeit“ und „enorme Raffinesse“.
Den Pakt mit einem einschlägig Vorbestraften aufkündigen
„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind“, zitierte Wertheimer frühere Reden Erdogans. „Minarette sind Bajonette, Kuppeln Helme, Moscheen sind unsere Kasernen, Gläubige Soldaten“ – diese Äußerung führte dazu, dass Erdogan 1998 zu zehn Monaten Gefängnis und lebenslangem Politikverbot verurteilt wurde, woran sich die türkische Justiz jedoch nicht hielt.
„Ich frage mich, wann sich Europa seiner Werte besinnt und wann Deutschland den Erpressungspakt mit einem einschlägig Vorbestraften aufkündigt“, sagte Wertheimer. Zu Zeiten der Roten Armee Fraktion (RAF) habe sich die Bundesrepublik nicht erpressen lassen. Die gleiche Entschiedenheit und Entschlossenheit wünsche er sich heute gegen Rechts. Doch möglicherweise seien die Regierungen zu stark damit beschäftigt, Abschiebungen zu vollziehen, merkte der Sprachwissenschaftler sarkastisch an.
Rössner: „Noch kann gewählt werden“
Bis vor zwei Jahren habe es in der Türkei noch Widerstand gegeben – etwa im Gezi-Park oder auf dem Taksim. Die oppositionellen Stimmen seien nicht tot, aber zum Verstummen gebracht worden. Sie müssten ermutigt werden, bevor es zu spät ist. Deutschland habe „eine gewisse Erfahrung mit Ermächtigungswahlen mit katastrophalen Folgen“. Es gehe jetzt nicht nur um die Türkei, sondern „darum, einen Politikertypus unschädlich zu machen“, der um sich greife und den Menschen die Luft zum Atmen und zum eigenständigen Denken nehme.
Das Recht in Anspruch zu nehmen, um es abzuschaffen, stehe am Beginn jeder Diktatur, begann der Jurist Prof. Dieter Rössner seine eindringliche Warnung. Wenn jemand dabei sei, die rechtsstaatliche Kultur abzuschaffen, müsse man dagegenhalten. „Noch kann gewählt werden, noch kann verhindert werden, dass das Recht zu Unrecht wird“, so sein Appell.
Weder Gewaltenteilung noch unabhängige Justiz
Die von Erdogan angestrebte Präsidialverfassung ordne ihm als Chef der Exekutive das Parlament und die Justiz unter. Damit gebe es keine Gewaltenteilung und keine Kontrollorgane mehr. Die Entwicklung zur Diktatur verlaufe in drei Schritten: Damit, dass nur noch der Präsident den Ausnahmezustand ausrufen kann; dass Dekrete Erdogans die vom Parlament verabschiedeten Gesetze ausschalteten; und dass Richter von einem Rat eingesetzt werden, über den der Präsident bestimmt.
„Die Abschaffung der unabhängigen Justiz ist der probate Schritt eines Diktators zur Machtergreifung. Das muss verhindert werden“, sagte Rössner. Erdogan habe gleich im Juli 2016 sämtliche kritischen Richter aus ihren Ämtern entfernt. Die meisten der 4000 Amtsenthobenen seien noch im Gefängnis, und es wurden 29 Anwaltsvereine aufgelöst. Die Angehörigen der Inhaftierten erhielten keinerlei Unterstützung, sogar Kinder seien auf sich allein gestellt. „Es herrscht Willkür und Furcht statt Recht. Damit können Menschen nicht friedlich zusammenleben“, betonte der Kriminologe.
Bundesregierung soll Finanzhilfen zurückfordern
Nun sorgten die eingesetzten regimetreuen Richter und Staatsanwälte dafür, dass jede Kritik im Keim erstickt wird. Erdogan kaschiere seine Diktatur mit dem Hinweis auf die Vergangenheit Deutschlands und anderer Länder. Er habe von 2007 bis 2013 vier Milliarden Euro erhalten, um Rechtsstaat und Demokratie aufzubauen. „Von der deutschen Regierung wird dieses Geld nicht zurückgefordert, sondern weiter kaschiert“, empörte sich Rössner.
Unerträglich seien für ihn die persönlichen Folgen, die Freund und Kollegen tragen müssten. Ähnliche Erfahrungen habe wohl die Generation seiner Großeltern gemacht. Es treffe ihn persönlich, dass Menschen, mit denen er erst vor kurzem etwa bei Kongressen über Demokratie diskutiert und am Aufbau rechtsstaatlicher Prinzipien gearbeitet habe, nun in Zehn-Mann-Zellen inhaftiert seien, in denen sich vier Gefangene ein Bett teilen müssten: „Sie werden total kaputt gemacht.“
Hoffnung auf den internationalen Strafgerichtshof
Die größte Lüge sei, dass man in der Türkei versucht, legal die Illegalität herzustellen. Ihm bleibe nur eine Hoffnung, sagte Rössner: „Heute gibt es einen internationalen Strafgerichtshof. Die Strafe trifft zuletzt alle Diktatoren, wenn ihre Macht vorüber ist. Davor sollten sie Angst haben.“
Fast 150 Medienschaffende seien in der Türkei inhaftiert, sagte Pia Grund-Ludwig, Kreisvorsitzende des DJV. Es sei die höchste Zahl gefangener Journalisten in einem Land. DJV und dju wollten konkret helfen, indem sie Patenschaften übernehmen – ein Modell, das auch für andere Berufsgruppen taugen könne. Eine solche Patenschaft habe auch schon einen Erfolg hervorgebracht: Ein inhaftierter Kollege werde jetzt im Gefängnis medizinisch versorgt.
Wer Pressefreiheit fordert, darf zu „Lügenpresse“ nicht schweigen
Grund-Ludwig sah aber auch Parallelen zwischen der Situation in der Türkei und Angriffen auf Journalisten andernorts: Wer für Pressefreiheit in der Türkei eintrete, müsse sich auch gegen Beschimpfungen wie „Lügenpresse“ aussprechen.
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