Von Sahra Barkini – Stuttgart-Bad Cannstatt. Esther Bejarano hat den Holocaust überlebt und ist auch mit 94 Jahren nicht müde, um gegen den weltweiten Rechtsruck zu kämpfen und ihre Stimme zu erheben. Sie ist eine der letzten ZeitzeugInnen des Nazi-Regimes. Das „Bündnis zum Gedenken an die Opfer der Pogromnacht in Cannstatt“ hatte Bejarano & Microphone Mafia zu einer Lesung mit anschließendem Konzert ins Cannstatter Rathaus eingeladen. Am 9. November, 81 Jahre nach der Pogromnacht, als deutschlandweit die Synagogen brannten und jüdische Menschen misshandelt wurden, trat sie im Cannstatter Rathaus auf. Es war bis auf den allerletzten Platz besetzt.
Erst vor wenigen Tagen hat Esther Bejarano in einem offenen Brief an Bundesfinanzminister Olaf Scholz dagegen protestiert, dass das Berliner Finanzamt der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten) die Gemeinnützigkeit aberkannt hat. „Entscheidet hierzulande tatsächlich eine Steuerbehörde über die Existenzmöglichkeit einer Vereinigung von Überlebenden der Naziverbrechen?“, fragte die Ehrenvorsitzende der VVN den Bundesfinanzminister.
Vom Mädchenorchester in Auschwitz …
Singen sei ihre Rache an den Nazis sagte Esther Bejarano einmal. Und das tat sie in Bad Cannstatt, sie sang mit glockenheller Stimme. Der Abend begann mit einer Lesung. Esther Bejarano erzählte ihre Geschichte. Sie wurde 1943 ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht, wo sie zuerst schwere körperliche Arbeit verrichten musste. Als dort ein Mädchenorchester entstand, meldete sie sich als Akkordeonspielerin. Dabei spielte sie kein Akkordeon, nur Klavier und Blockflöte. Ein Klavier gab es aber nicht, und dass sie Blockflöte spielte, fiel ihr nicht ein.
Dennoch schaffte sie die Aufnahmeprüfung und wurde Akkordeonspielerin im Mädchenorchester. Als Orchestermitglied war sie von der schweren Arbeit, vom Steineschleppen, befreit. Immer wieder wurde im Orchester der Schlager „Bel Ami“ gespielt. Dieser sollte auch an dem Abend in Cannstatt noch eine Rolle spielen.
Da Bejarano nach Nazi-Terminologie zu einem Viertel Arierin war, wurde sie ins KZ Ravensbrück verlegt. Von dort gelang ihr mit vier Freundinnen die Flucht, und so überlebte sie den Holocaust. Ihre Geschichte schrieb die 1924 in Saarlouis geborene Jüdin im Buch: „Erinnerungen – vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap Band gegen Rechts“ auf.
… zur Rap-
Die Lesung zog die ZuhörerInnen vollkommen in ihren Bann. Danach begann Bejaranos Konzert. Seit 2007 tritt sie mit ihrem Sohn Joram und Kutlu Yurtseven sowie Rossi Pennino (er fehlte in Cannstatt) von der Kölner Band „Microphone Mafia“ auf. Die Songs, vereinzelt auch auf Hebräisch gesungen, haben alle klare Botschaften. Frieden, Menschlichkeit – sie sind alle antirassistisch. Durch den Rap von Kutlu bekommen sie eine enorme Dynamik und begeistern auch das junge Publikum.
Zwischen den Liedern thematisierte Kutlu die Anschläge von Rostock, Solingen und Mölln und auch das Schweigen der Gesellschaft. Er kritisierte die Ausbeutung durch Nestlé, die NSU-Morde und auch den Fall von Oury Jalloh (siehe „Schwere Misshandlungen vor dem Tod„) . Angesichts der aktuellen Ereignisse und Entwicklungen durch den aufkeimenden Rassismus warnte Kutlu: „Wenn wir nicht irgendwann unser Schweigen brechen, dann wird uns dieses Schweigen erschlagen.“ Dazu passend folgte der Song Ínsalar, in dem es heißt: „Menschen leiden, doch du bist still. Menschen brennen, doch du bist still.“
Mit Hand, Herz und Verstand
Auch ein Lied aus Kutlus Heimat Köln durfte nicht fehlen. „Wann jeiht dr Himmel widder op – Wann geht der Himmel wieder auf“. Ursprünglich von der bekannten Karnevalsband „Höhner“ geschrieben, begeisterte der Song in Kölner Mundart auch das schwäbische Publikum. In einem der bekanntesten Arbeiterlieder „Avanti Popolo“ rappte Kutlu darüber, dass wieder ein rauer Wind durch dieses Land weht. Bejarano singt dazu: „Schaut in unsere Augen, und seht die Entschlossenheit. Hört auf unseren Protest, unsere Gesänge, die Sehnsucht nach Menschlichkeit. Das wichtigste Kapital der Erde die Menschheit. Es beginnt mit einem leisen Flüstern und endet in einem großen Aufschrei. Wir entlarven falsche Masken, die hinter dunklen Lügen die Zukunft belasten. Bei eurem Maskenball geben wir jetzt den Takt an. Il popolo trionferá. Mit Hand, Herz und Verstand.“
Kutlu erzählte, dass er und Rossi Pennino von Esther Bejarano als Enkel adoptiert wurden. Sie sind nun also „verenkelt“, diese Wortschöpfung hofft er irgendwann im Duden zu lesen. Gegen Ende des zweistündigen Konzerts sang Bejarano den Titel, der ihr vielleicht das Leben gerettet hat: „Du hast Glück bei den Frauen, Bel Ami“,und auch das Publikum stimmte mit ein. Hier wurde sehr deutlich, dass Musik für Bejarano ein Medium ist, um das Erlebte zu verarbeiten.
Zum Abschluss und mit Unterstützung des Publikums im Saal durfte „Bella Ciao“ nicht fehlen. Der beeindruckende, bewegende Abend endete mit Standing Ovations und langanhaltendem Applaus. Im Anschluss daran signierte Esther Bejarano noch ihr Buch.
Der Abend in Cannstatt hatte mit einer Gedenkveranstaltung an der ehemaligen Synagoge in der König-Karl-Straße. Daran nahmen mehrere hundert Menschen teil (wir berichteten).
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