Von Sahra Barkini – Stuttgart. Über hundert Menschen gedachten am Freitag, 9. Oktober, in der Stuttgarter Innenstadt mit Reden und einer Schweigeminute der beiden Todesopfer von Halle und aller anderer Opfer rechter Gewalt. An diesem Tag jährte sich der Terroranschlag von Halle. Zu der Gedenkkundgebung riefen das Antifaschistische Aktionsbündnis Stuttgart und Region (AABS) und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) auf. Im Anschluss wurden 100 Kerzen und die Namen der Menschen aufgestellt, um an sie zu erinnern.
Auf dem Schlossplatz standen Stellwände, die den Prozess in Halle dokumentierten. Als Redner und Moderatoren gingen Janka Kluge von der VVN-BdA und AktivistInnen des OTKM (Offenes Treffen gegen Krieg und Militarisierung) und des AABS auf den geschichtlichen Hintergrund des Antisemitismus und die Verstrickungen von Staat und Neonazis ein. Alle Redner betonten, dass antifaschistische Arbeit notwendig sei. Wer gegen Neonazis kämpfe, könne sich auf den Staat nicht verlassen. Auch wurden Neonazi-Aktivitäten im Stuttgarter Raum thematisiert.
Es sei wichtig, dass ein Jahr nach diesem Anschlag gezeigt werde, dass Rassismus, Antisemitismus und neonazistische Hetze weder in Halle noch in Stuttgart Platz haben, erklärte Janka Kluge. Vor einem Jahr wollte ein Neonazi die Synagoge in Halle stürmen und dort ein Massaker anrichten. Vor zwei Tagen wurden zwei Gedenkplakate der Opfer mit Hakenkreuzen beschmiert. Dies zeige deutlich, dass Antisemitismus tief in der Gesellschaft verwurzelt ist, so Kluge.
Einfach nur menschlich bleiben
„Wir müssen uns diesem Hass und dieser Irrationalität entgegen stellen. Es ist wichtig das wir klare Kante zeigen“, appellierte sie an die Anwesenden. Zum Schluss ihrer Rede zitierte sie Marlene Dietrich, die einmal sagte: „Ich bin aus Anstand Antifaschistin geworden.“ Kluge fügte an: „Man muss nicht links sein, man muss nicht Kommunist sein, um gegen Nazis zu sein, man muss einfach nur menschlich bleiben.“
Eine Rednerin des OTKM sprach unter anderem über das Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr in Calw. Schon seit der Gründung 1990 etablierten sich beim KSK rechte Netzwerke mit antisemitischen und den Holocaust relativierenden Aussagen – bis hin zu faschistischen Netzwerken wie dem Hannibal-Komplex. Der Skandal des KSK wird als Einzelfall abgestempelt und nicht als strukturelles Problem gesehen. Das macht es rechten Netzwerken einfach sich auszubreiten, so die Rednerin. Beinahe täglich würden neue „Einzelfälle“ bekannt, zuletzt in der Polizei von NRW. 30 PolizistInnen wurden vom Dienst suspendiert. Dies sei aber nur die Spitze des Eisbergs. Der Staat habe offenbar kein Interesse daran, gegen Faschisten in den Sicherheitsbehörden vorzugehen. Im Gegenteil – er braucht sie.
Sie sagte weiter: „Faschistische Terroranschläge können verhindert werden, doch der Staat ist auf dem rechten Auge blind.“ Ein Beispiel hierfür sei der NSU. Die Opfer und deren Familien seien zunächst selbst verdächtigt worden. So wurde erst nach Jahren klar, dass Neonazis jahrelang unbehelligt morden konnten. Noch immer werde die Aufklärung durch die Sicherheitsbehörden behindert, um zu verschleiern, wie sehr der deutsche Staat in die Terrornetze verstrickt ist. Die Rednerin weiter: „Hätte der Staat ein wirkliches Interesse daran, rechte Netzwerke und faschistischen Terror zu bekämpfen, dann hätten Anschläge wie der von Halle verhindert werden können.“
Neonazis horten scharfe Waffen
Der Moderator der Kundgebung sprach über rechte Umtriebe in der Region Stuttgart. Erst kürzlich wurde in Marbach am Neckar ein Wohnhaus und eine Kirche Ziel eines rassistischen Brandanschlags. In Fellbach gab es im letzten Jahr zwei Razzien gegen die bewaffneten Nazinetzwerke Blood & Honour und Combat18. Auch der NSU hatte Kontakte in die Region. Naziterroristen horteten scharfe Waffen, teilweise auch Kriegswaffen und Sprengstoff – aber nicht aus Sammlerliebe, sondern um zu töten. Bei Razzien fänden sich immer wieder Namenslisten von bekannten Linken oder auch von migrantischen Geschäftsinhabern.
Ein Redner des AABS ging auf den in Deutschland vorherrschenden Antisemitismus ein und auf die Querdenker-Demonstrationen. Gerade in den letzten Monaten erlebe man einen Aufschwung und Etablierung des Antisemitismus. Nicht nur offen sondern meist verklausuliert und hinter angeblichen Erklärungen für die großen und kleinen Probleme in unserer Gesellschaft versteckt. Spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie und den Protesten gegen die Maßnahmen zu deren Eindämmung drängten Verschwörungsideologien in die Öffentlichkeit.
„Gerade am Beispiel der „Querdenken“- Kundgebungen in Stuttgart, Berlin oder letzten Sonntag in Konstanz kann man das sehr gut sehen“, sagte der Redner weiter: „Denn die Verschwörungsideologen sind dort keine am Rand stehende Minderheit. Sie sind fester Bestandteil des Ganzen. Sie stellen den organisatorischen Rahmen und werden von allen Teilnehmenden zumindest toleriert, wenn nicht gar akzeptiert.“ Wenn Neonazis bei Querdenker-Demonstrationen akzeptiert werden, wenn sie nicht befürchten müssten, bei ihrem Auftauchen direkt konfrontiert zu werden, könnten sie sich etablieren.
Solidarische Gesellschaft als Alternative
Und weiter: „Ja, wir als Antifas können Taten wie in Halle nicht direkt verhindern. Weder sind wir – wie die Nazis – bis an die Zähne bewaffnet, noch können wir in die Köpfe einzelner schauen. Doch was wir können, ist ihnen das Fundament zu entziehen. Das ideologische Fundament – fernab jeder wirklichen Solidarität unter den Menschen.“ Zu den Anschlägen wie in Halle oder Hanau könne es nur kommen wenn Nazis sich frei entfalten können. Dies zu verhindern, ist die Aufgabe der AntifaschistInnen. Man müsse ihnen möglichst viel Raum in der Gesellschaft streitig machen. Zum Schluss sagte er: „Es ist unsere Aufgabe, für eine neue solidarische Gesellschaft zu streiten, in der Auswüchse wie Antisemitismus, Rassismus und Faschismus ein für alle Mal der Vergangenheit angehören.“
Nach einer Schweigeminute entzündeten die KundgebungsteilnehmerInnen 100 Kerzen für die seit 1990 von Rassisten und Nazis Ermordeten in der BRD. Die Kerzen wurden zusammen mit Namensschildern aufgestellt. Das Meer aus Kerzen veranlasste PassantInnen stehenzubleiben und der Opfer rechter Gewalt zu gedenken.
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