Von Sahra Barkini und Alfred Denzinger – Stuttgart-Bad Cannstatt/Welzheim. Wie in jedem November seit zehn Jahren versammelten sich am Abend des 9. November zahlreiche Menschen in Cannstatt und Welzheim, um der Opfer der Pogromnacht von 1938 zu gedenken. Der Corona-Pandemie geschuldet gestaltete sich der Abend in Cannstatt ein wenig anders als gewohnt. So wurde die Kundgebung auf den Marktplatz verlegt. Im Anschluss zogen die TeilnehmerInnen in einer Demonstration zur ehemaligen Synagoge in die König-Karl-Straße, um einen Kranz und rote Nelken niederzulegen.
Die KundgebungsteilnehmerInnen trugen einen Mund-Nasen-Schutz und achteten auf Abstand, während sie den RednerInnen und den beiden Musikern Alon Wallach und Andreas Geyer vom Ensemble Asamblea Mediteranea lauschten. Ralf Chevalier vom Bündnis zum Gedenken an die Opfer der Pogromnacht führte durch den Abend. Unter anderem sprachen Ingrid Bauz vom Mauthausen Komitee und zwei Vertreterinnen des Antifaschistischen Aktionsbündnis Stuttgart und Region (AABS).
Bauz ging in ihrer Rede auch darauf ein, dass Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus und Homophobie noch immer nicht verschwunden seien. Im Gegenteil, so Bauz, sie erlebten weltweit Aufwind, was viel Anlass zur Sorge gebe. Weiter sprach sie über die Nacht der Pogrome von 1938. Die meisten verhafteten Männer aus dem Raum Stuttgart kamen in das Gestapo-Gefängnis nach Welzheim oder direkt ins KZ nach Dachau.
Auch in Stuttgart endete der Terror nicht mit dem Niederbrennen der Synagogen. Die Stuttgarter Synagoge wurde vom Branddirektor in zivil mit einem Eimer Waschbenzin angezündet. Den Brand in Cannstatt legte der Leiter der Feuerwache. Auch in Stuttgart wurden Geschäfte demoliert und geplündert.
Der Antifaschist Gerhard Dürr, zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt, berichtet noch heute, dass er tags darauf mit Mutter und Tante in der Stuttgarter Innenstadt unterwegs war und diesen Anblick nicht vergessen kann. Sie hatten damals nicht den Mut, zur Synagoge in der Hospitalstraße zu gehen. Angst und Schrecken lagen in der Luft und verfehlten nicht ihre Wirkung. Mit Blick auf das Heute sagte Bauz, es werde immer dringlicher, den Neofaschismus und den gesellschaftlichen Rechtsruck zu stoppen und zurückzudrängen
Weiter sagte sie: „Wie schnell sich eine gesellschaftliche Situation verändern kann, erleben wir seit dem Ausbruch des Corona-Virus. Den sogenannten Querdenkern ist es gelungen, zehntausende zu Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen zu mobilisieren. Mit dabei die AfD, die Identitären, Reichsbürger und Verschwörungstheoretiker. Ein solcher verkündete in Leipzig von der Bühne, das Corona Virus sei eine jüdische Erfindung. Eine Abgrenzung gegen Rechts sucht man vergeblich“. Diese Toleranz gegenüber Neofaschisten und Rechtspopulisten sei völlig inakzeptabel und dürfe nicht unwidersprochen bleiben, forderte Bauz zum Abschluss ihrer Rede.
Zwei Sprecherinnen des AABS sagten, die gesellschaftliche Stimmung sollte allen zu denken geben. Rassismus und Antisemitismus werde wieder salonfähig – nicht zuletzt durch die AfD. Rechte Netzwerke bei Bundeswehr und Polizei, Anschläge in Halle und Hanau und die Selbstenttarnung des NSU seien keine Einzelfälle mehr. Auch das Phänomen „Querdenker“ zeige, wie schnell eine rechtsoffene Bewegung an Dynamik gewinnen kann.
Rechte fänden dort offene Plattformen für ihre plumpen Antworten auf die Krise. Vor einem Jahr hätte keiner gedacht, dass sich Tausende in Stuttgart unter ein rechtsoffenes Label stellen. Gerade deshalb gebe es viele Gründe, antifaschistisch aktiv zu werden. Antifaschismus heiße auch weiterhin, keinen Meter preiszugeben. Egal ob „AfD, Identitäre oder rechte Schwurbler“ – man dürfe ihnen Stuttgart nicht überlassen. Die Rednerin fügte hinzu: „Wir werden nicht aufgeben, gerade weil wir aus der Geschichte gelernt haben.“
Im Anschluss an die Reden zogen die TeilnehmerInnen in einer Demonstration zur ehemaligen Synagoge, um einen Kranz und rote Nelken niederzulegen. Die gesamte Cannstatter Gedenkveranstaltung zum Nachsehen gibt es hier: https://youtu.be/ADJCwnU88wU
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Gedenken auf dem Hermann-Schlotterbeck-Platz
Das Offene Antifaschistische Treffen Rems-Murr (OAT-RM) organisierte zusammen mit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der AntifaschistInnen Rems-Murr (VVN-BdA) zum dritten Mal in Folge die Gedenkkundgebung vor dem ehemaligen KZ in Welzheim. Mit 50 KundgebungsteilnehmerInnen wurden die Besucherzahlen der letzten Jahre deutlich übertroffen (siehe „Erinnern heißt kämpfen„).
Dieter Keller vom DGB Fellbach eröffnete die Kundgebung mit einer Rede zu den geschichtlichen Hintergründen des KZ Welzheim und besonders zu dem Widerstandskämpfer, nach dem der Platz vor dem ehemaligen Standort des Konzentrationslagers benannt ist: den Kommunisten Hermann Schlotterbeck. Zum 75. Jahrestag der Räumung des KZs fasste der Gemeinderat in Welzheim den Beschluss zur Umbennung des Platzes. Die jahrzehntelange Arbeit der VVN-BdA, des Historischen Vereins Welzheim und wohl auch die Gedenkkundgebungen dürften zu dieser Entscheidung beigetragen haben (sie hierzu „Späte Ehrung für Hermann Schlotterbeck„).
Keller führte am Ende seiner Rede aus, dass der Hermann-Schlotterbeck-Platz ein wichtiger Bestandteil der antifaschistischen Gedenkstättenarbeit in Welzheim sei. „In einer Zeit, in der Rassisten und Neofaschisten immer dreister auftreten, nicht einmal vor Mord und Gewalt zurückschrecken, ist er gleichzeitig Mahnung und klares Bekenntnis zu: Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg!“ (siehe Video unten).
Die Rede des OAT-RM thematisierte die Kontinuität von Antisemitismus in der heutigen Gesellschaft und wies explizit auf die starken antisemitischen Tendenzen in der verschwörungstheoretischen Querdenker-Strömung hin (siehe Video unten).
Reinhard Neudorfer hielt für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der AntifaschistInnen Rems-Murr (VVN-BdA) ein Grußwort (siehe Video unten).
Nach der Kundgebung besuchten die TeilnehmerInnen die nahegelegene Friedhofsgedenkstätte, an der mit einer Blumen- und Kerzenniederlegung nach einer Schweigeminute das würdige Gedenken abgeschlossen wurde.
Videos/Audio
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