Singen. Ein elfjähriges Kind wurde am 6. Februar etwa um 16.30 Uhr nach einer anlasslosen Personenkontrolle in Handschellen abgeführt und auf das Polizeirevier in Singen gebracht. Das teilt der Verband Deutscher Sinti und Roma (VDSR) Baden-Württemberg mit. Er vertritt die Interessen der betroffenen Familie. Sie hat Strafanzeige gegen die beteiligten Polizisten wegen Freiheitsberaubung und Nötigung im Amt erstatte. Anwaltlich wird sie von Mehmet Daimagüler vertreten, der als Nebenklagevertreter in vielen Prozessen, so zum Beispiel im „NSU-Verfahren“, Opfer politisch motivierter Gewalt vertreten hat.
Zu dem Vorfall kam es dem VDSR zufolge, als mehrere Kinder vor dem Wohnort ihrer Großmutter spielten. Zwei Polizeibeamte hätten bei ihnen eine Personenkontrolle durchgeführt. Das elfjährige Kind, das später in Handschellen auf das Polizeirevier gebracht wurde, gab den Beamten der Singener Polizei sein Alter an. Die Beamten seien darauf hin abgezogen. Kurze Zeit später seien zwei weitere Polizeibeamte erschienen und hätten erneut eine Personenkontrolle durchgeführt.
Kontaktaufnahme verboten
Einer der Beamten habe das Kind in gebrochenem Romanes angesprochen. Schon das mache deutlich, dass die Beamten das Kind der Minderheit der Sinti und Roma zuordneten. „Hierbei wurde das Kind sinngemäß mit den Worten „Einer von den Zigeunern, die kennen wir ja“, „Du kommst eine Nacht hinter Gittern“ und „Der Tod kommt dich holen“ bedroht“, wirft der VDSR den Polizeibeamten vor. Sie durchsuchten das elfjährige Kind und fanden ein kleines Klappmesser. Das Kind erklärte, dass es dieses für Arbeiten im Garten bei sich habe.
Die Mutter und der Vater der anderen Kinder hätten bereits versucht die Kinder telefonisch zu erreichen, um sie zum Essen nach Hause zu holen. Die Beamten verboten den Kindern, an ihre Handys zu gehen. „Sie legten nun dem Kind, das sie durchsucht hatten, Handschellen hinter dem Rücken an. Das Kind flehte die Beamten an, seine Mutter benachrichtigen zu dürfen, die sich nicht weit entfernt in der Wohnung aufhielt“, so der VDSR. Es wies die Beamten auch darauf hin, dass es wegen eines kurz zuvor erlittenen Unfalls drei angebrochene Rippen hätte und an Asthma leide. Das Kind wurde dennoch mit körperlicher Gewalt auf den Rücksitz des Einsatzwagens verbracht. Im Auto wiederholte es, dass es an Asthma leide und die Fesselung ihm Atemprobleme bereite. Als Reaktion habe die Polizeibeamtin gesagt: „Halt die Schnauze“.
Eltern in Angst
Die anderen Kinder hätten die Mutter des Kindes informiert, heißt es weiter. Diese rief sofort bei der Polizeiwache an und fragte nach ihrem Kind. Die Antwort lautete sinngemäß: „Das weiß ich doch nicht. Jedenfalls nicht hier“. Sie wies auf die Vorerkrankung des Kindes hin und bat um die Suche nach ihrem Kind per Funk. Sie rief nach kurzer Zeit erneut an, um nach der Suche nach ihrem Kind zu erkundigen. Die Polizei fand das Kind nicht und die Beamten der Wache nahmen den dritten Anruf der Mutter nicht mehr entgegen.
In der Zwischenzeit war das Kind in Handfesseln auf der Polizeiwache angekommen. Erst als ein weiterer Beamter hinzu kam, wurden dem Kind die Handschellen abgenommen. Das Kind sei 30 Minuten in einem Verhörzimmer festgehalten und schließlich freigelassen worden. Danach sei es „vollkommen verängstigt alleine nach Hause“ gelaufen und habe dabei eine viel befahrene Schnellstraße überquert, auf der es im Jahr zuvor von einem Auto angefahren worden war. Weder der Mutter noch dem Kind sei mitgeteilt worden, warum die Polizei so verfuhr.
Eine Sprecherin des zuständigen Polizeipräsidiums Konstanz teilte der „Süddeutschen Zeitung“ auf Anfrage mit, man prüfe die Vorwürfe. Es sei noch zu früh, um eine Bewertung abzugeben, man nehme solche Vorwürfe aus Prinzip sehr ernst, müsse aber erst den Sachverhalt gründlich aufklären.
Vollständige Aufklärung gefordert
Daniel Strauß, Vorstandsvorsitzender des VDSR Baden-Württemberg, fordert die vollständige Aufklärung des Übergriffs. Er will sich an den baden-württembergischen CDU-Innenminister Thomas Strobl wenden „im Vertrauen darauf, dass die Rechtstaatlichkeit wiederhergestellt wird“ – und ebenso an die Koordinatorin des Rates für die Angelegenheiten der deutschen Sinti und Roma in Baden-Württemberg, Staatsministerin Theresa Schopper (Grüne).
Der Fall füge sich in eine Reihe von aktuellen Vorkommnissen von Polizeigewalt gegen die Minderheit der Sinti und Roma ein, wie 2016 in Heidelberg und 2020 in Freiburg und auch in Singen. Ende April wurden in der Nähe von Freiburg bei einem Einsatz von Polizei- und Ordnungsamt Angehörige einer Roma-Familie zum Teil schwer verletzt (siehe „Schläge und Hundebisse„). Ein 48-jähriger Familienvater erlitt schwere Verletzungen durch Bisse eines Polizeihundes, zwei Frauen und ein weiterer Mann wurden durch Schläge verletzt. Der Polizeieinsatz erfolgte nach Angaben des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma wegen einer Bagatelle, bei der es um eine Parkplatzfrage vor der Haustür der Geschädigten gegangen sein soll. Die Ermittlungen laufen noch.
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