Von Sahra Barkini – Stuttgart. Das rechtsterroristische Attentat von Hanau jährte sich am 19. Februar zum ersten Mal. Vor genau einem Jahr wurden im hessischen Hanau neun Menschen mitten aus dem Leben gerissen. Um ihnen zu gedenken gab es in über 100 Städten im In- und Ausland Kundgebungen und Demonstrationen. In Stuttgart beteiligten sich über 1200 Menschen an Kundgebungen an drei verschiedenen Orten.
Die drei Veranstaltungen einte die Trauer um Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin. Ihrer wurde mit Schweigeminuten und gemeinsamem Rufen der Namen gedacht. Im Anschluss an eine von der Didf-Jugend organisierten Kundgebung auf dem Schlossplatz formierte sich auf Initiative von „Stuttgart gegen Rechts“ (SgR) eine Spontandemonstration. Sie zog zum Rathaus, um dort eine Gedenktafel für die Ermordeten anzubringen.
Der Kundgebungstag begann mit der Kundgebung der Didf-Jugend, an der sich unter anderem auch SgR, die DGB-Jugend, die SDAJ und die Falken Stuttgart beteiligten. Der Journalist und Autor Mesut Bayraktar sagte: „Wir sind hier, um der vor einem Jahr durch einen rassistischen Anschlag Ermordeten aus Hanau zu gedenken. Wir fühlen aber auch, dass Gedenken nicht nur Trauern heißt. Wir fühlen auch Wut, die in unseren Körpern kocht, wenn wir der Ermordeten gedenken.“
Man fühle Wut, weil in diesem Land weder vor Hanau noch ein Jahr danach Nennenswertes gegen Rassismus und braunen Hass getan wurde. Man höre nur Worte, aber Taten suche man vergeblich. Weiter sagte er: „Diese Wut in unseren Körpern fordert, dass das Gedenken zum Kämpfen werden soll, um ein für alle Mal mit der rassistischen Nazi-Scheiße Schluss zu machen.“ Der Rassismus sei nicht vom Himmel gefallen so Bayraktar weiter. Er zeige nur wieder offensiver seine Fratze. Auch habe eine vollständige Entnazifizierung nie stattgefunden. Rassismus sei Fleisch vom Fleisch des Kapitalismus. Immer wieder sei zu hören, dass das Elend des Rassismus nur diejenigen kennen, die davon betroffen seien, also Menschen mit Migrationshintergrund. Allerdings habe antirassistischer Widerstand immer dann Früchte getragen, wenn migrantische und nicht-migrantische Unterdrückte eine solidarische Einheit waren. „Für diese Einheit müssen wir kämpfen“, so Bayraktar. Zum Abschluss sagte er: „Kein Vergessen! Kein Vergeben! Gemeinsam gegen Rassismus! Wir wollen atmen!“
Das Sagbare systematisch verschoben
Eine Aktivistin von SgR betonte: „Hanau muss ein Endpunkt sein.“ Vielleicht sei der Anschlag von Hanau nicht vorhersehbar gewesen, aber auch nicht wirklich überraschend. Der Rednerin zufolge war er vielmehr die Umsetzung dessen, was auf rechten Internetseiten, in Telegramgruppen oder Kommentarspalten zu lesen ist. Und auch dessen, was vom RednerInnen Pult im Bundestag angefeuert wird. Der Terror von Hanau habe im gesellschaftlichen Kontext einer Rechtsentwicklung stattgefunden, die sich nicht nur an militanten Neonazis festmache, sondern auch an einer Verschiebung des Sagbaren. Weiter sagte sie: „Zur Tat Entschlossenen können wir nur noch schwerlich was entgegen setzen. An den gesellschaftlichen Umständen jedoch können, müssen wir ansetzen. Und zwar gemeinsam im Bündnis aller dazu bereiter antifaschistischer Kräfte. Davon sind wir überzeugt.“ Man müsse gemeinsame Trauer in gemeinsamen Widerstand verwandeln. Hanau mahne auch über den Jahrestag hinaus.
Der Redner der sozialistischen Jugend „die Falken“ betonte, dass Hanau kein Einzelfall war. Dass radikale Rechte aus rassistischen Motiven Mordanschläge begehen, ziehe sich durch die Geschichte der Bundesrepublik. Das Elend heiße Rechtsruck, Alltagsrassismus und rechte Strukturen in deutschen Sicherheitsbehörden. Der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen werbe für die Zusammenarbeit von AfD und CDU und wittere überall Kulturmarxismus. Maaßen sei nicht das einzige Problem. Es sage aber viel über den Verfassungsschutz aus, wenn man mit Thesen, die er vertritt, dort nicht anecke.
Im vergangenen Jahr wurden fast wöchentlich rechte Chatgruppen in der Polizei aufgedeckt. So auch am 30. November in Baden-Württemberg. Was für AntifaschistInnen ein Alarmsignal ist, nämlich bewaffnete Neonazis, die im Staat für Sicherheit sorgen sollen, scheine für die meisten bürgerlichen Medien kaum noch eine Nachricht wert. Das Problem sei nicht mit dem Aufdecken von rechten Chatgruppen und der zeitweiligen Suspendierung einzelner Menschen gelöst, sondern strukturell in der Polizei verankert. Zum Abschluss sagte der Redner: „Wir kommen immer wieder zu dem Schluss, dass wir diesen Behörden nicht trauen können, nicht im Alltag, nicht im Privaten und ganz sicher nicht bei der Aufklärung und Verhinderung rechter Anschläge. Darum stehen wir heute hier, um der Opfer zu gedenken, und weil klar ist, dass wir Antifaschismus nur selbst organisieren können.“
„Es gibt keine Einzeltäter“
Eine weitere Rede kam von einem Vertreter der SDAJ. „Rechter Terror entstammt keinem Vakuum, rechter Terror ist keine Epidemie, die diese Gesellschaft ohne erklärlichen Ursprung befällt. Rechter Terror erwächst einem Nährboden aus Alltagsrassismus, aus sogenannten besorgten Bürgern, aus einer Ellenbogen-Gesellschaft, in der Gegeneinander statt Füreinander gekämpft wird“, sagte er und fuhr fort: „Das was in Hanau vor einem Jahr geschehen ist, ist mit nichts zu vergleichen. Es war blanker Rassismus, blanker Menschenhass, der sich auf abscheuliche Art und Weise entfaltet hat. Dennoch dürfen wir nicht den Fehler machen, den Rassismus als grausame Einzelentscheidung abzutun. Sowie es keine Einzeltäter gibt, die fern von gesellschaftlichen Zusammenhängen agieren, so gibt es kein Symptom ohne Krankheit, keinen Rassismus ohne Rechtsruck.“
Er betonte, es gehöre zu den obersten Pflichten aller SozialdemokratInnen, KommunistInnen und fortschrittlichen Kräfte, aus den schrecklichen Kapiteln deutscher Geschichte zu lernen und eine Wiederholung um jeden Preis zu verhindern. Denn wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert, sei dazu verdammt, sie zu wiederholen. Und weiter sagte er: „Es ist unsere Aufgabe als vereinte Linke, gegen alle Relativierungen und Verharmlosungen Rechten Terrors kontra zu halten. Kommen sie in Form der sogenannten Hufeisentheorie, die versucht, die Rechte und die Linke gleich und einer bürgerlichen Verfassungstreuen Mitte gegenüber zu setzen. Oder in Form der Aberkennung der Gemeinnützigkeit der VVN-BdA und ähnlicher Organisationen. Gegen all diese Vorhaben der anti-antifaschistischen Kräfte müssen wir konsequent gemeinsam vorgehen.“ Zum Abschluss der Rede sagte er: „Gedenken heißt verändern. Denn eins ist klar: Wer die Kämpfe nicht geteilt hat, der wird teilen die Niederlage.“
Tafel mit Namen und Gesichtern der Toten
Nach der Kundgebung auf dem Schlossplatz zogen die TeilnehmerInnen in einer kurzen Spontandemonstration zum Rathaus, um dort eine Gedenktafel für die Ermordeten anzubringen. In einer Stellungnahme von „Stuttgart gegen Rechts“ heißt es hierzu: „An der Fassade des Stuttgarter Rathaus am Pierre-Pflimlin-Platz hängt seit heute eine Edelstahlplatte mit den Namen und Gesichtern der Toten von Hanau. Die Platte haben wir im Rahmen unserer Gedenkaktion mit vielen anderen Menschen dort angebracht und eingeweiht. Das geschah selbstbestimmt und bewusst ohne Rücksprache mit der CDU-geführten Stadtverwaltung. Mit einem Redebeitrag und einem Flugblatt haben wir die Aktion erklärt und bekennen uns als Bündnis dazu.“
Danach gingen die TeilnehmerInnen zu den beiden weiteren Gedenkkundgebungen auf den Marienplatz und den Karlsplatz. Die Kundgebung auf dem Karlsplatz hatte Migrantifa Stuttgart organisiert. Auch dort wurde in Redebeiträgen der Opfer gedacht und an die Mordnacht erinnert. Faisal von der „Black Community Foundation“ begann seine Rede mit einem Zitat aus der New York Times. Sie schrieb bereits 2018, es gebe „braune Fäulnis im Herzen des deutschen Staates“. Diese Fäulnis resultiere aus den 50er und 60er Jahren, als man nichts Besseres zu tun hatte, als mit Nazis zusammenzuarbeiten. Das mache sich bis heute bemerkbar, so der Redner. Er kritisierte, dass Bekennerschreiben, ein Manifest oder Auffälligkeiten vor rechten Straftaten unbemerkt bleiben. Das Attentäter von Ort zu Ort ziehen können, ohne aufgehalten zu werden.
Im Fall von Hanau nahm keiner die Notrufe entgegen. Als die Polizei endlich vor Ort war, wurde der Ausweis eines Mannes kontrolliert, obwohl der Mann bereits Opfer des Täters war und eine Kugel im Hals hatte. An Bundeskanzlerin Angela Merkel gerichtet, die von den Medien den Zusatz „Mutti“ bekam, fragte er: „Haben Sie auch Herz oder nur Show für uns übrig? Und ist es eigentlich Ihr Ziel vor Ende der Legislaturperiode, den Zusatz Rabenmutter zu erzielen? Sie sind auf dem besten Weg dorthin. Wer sonst verschließt die NSU-Akten 120 Jahre und lässt keine Gerechtigkeit walten. Ich würde sagen, so ’ne Mutter will ich nicht.“ Auch wenn es für viele hart klinge: Wer sage denn, dass nicht er der nächste ist oder nicht seine Mutter die nächste ist, die leiden muss. Und weiter: „Wie viele sollen noch leiden? Was soll noch passieren? Wieviel sollen wir noch hinnehmen?“
Alltagsrassismus bereitet den Boden
Ein weiterer Redner war Taner von „Aufstehen gegen Rassismus Stuttgart“. Er las einen Facebook-Kommentar vor: „Wohin widerliche Menschenverachtung und rechtsradikale Hetze führen, wenn sie nicht rechtzeitig bekämpft werden, kann man an der einen Ecke des Karlsplatzes sehen: die ehemalige Gestapo Zentrale „Hotel Silber“. Und an der anderen Ecke beim Mahnmal gegen den Faschismus“. Er bezeichnete die AfD als Dreh- und Angelpunkt der rechten Bewegung, eine faschistische Partei. Der Mörder von Hanau hatte ein rassistisches Weltbild, welches ihn mit dem Weltbild der AfD verbinde. Wenn die AfD von Umvolkung spricht – von MigrantInnen von MuslimInnen, die die einheimische Bevölkerung verdrängen -, so habe dies der Mörder von Hanau ebenfalls getan. Die AfD sei die organisierte Form des Rassismus, Triebkraft und Verstärker des Rassismus.
Taner sagte: „Viele haben nach Hanau völlig zu Recht festgestellt: Die AfD hat mitgeschossen.“ Aber auf welchem Boden diese Saat aufging, müsse ebenfalls gefragt werden. Man müsse über Alltagsrassismus reden, über Rassismus in Form der Asylgesetzgebung, über Racial Profiling und über rassistische Gewalt auch von Teilen der Polizei. Geredet werden müsse auch über die Abschottungspolitik der EU und Deutschlands. Und auch über Abschiebungen in ihrer Selbstverständlichkeit. All dies biete den Boden für die faschistische Saat. Aber damit auf diesem Boden etwas gedeihe, brauche man auch Wasser und Licht. Die lieferten Menschen wie Thilo Sarrazin, dessen millionenfach verkauftes Buch „Deutschland schafft sich ab“ von 2016 auch zur Literatur des Attentäters von Hanau gehörte.
Aber auch Pegida und CSU-Innenminister Horst Seehofer lieferten Wasser und Licht. Etwa wenn er von Migration als Mutter aller Probleme sprach oder zynisch bemerkte, dass ausgerechnet an seinem 69. Geburtstag 69 Menschen nach Afghanistan abgeschoben wurden. Das liefere denjenigen, die über Clan-Kriminalität reden oder rassistische Talkshows organisieren, die Legitimation rechter Gewalt und rechten Terrors. Zum Schluss sagte der Redner: „Der Kampf gegen Rassismus und der Kampf gegen Faschismus gehören zusammen.“
Nach der zeitgleich auf dem Marienplatz abgehaltenen Gedenkveranstaltung formierte sich eine Spontandemonstration zurück in die Innenstadt. Über die Tübinger Straße, den Rotebühlplatz zum Pierre-Pflimlin-Platz zog eine lautstarke Demonstration, um abermals an die Opfer zu erinnern.
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