Von unserer Redaktion – Stuttgart-Tübingen. Vor dem Stuttgarter Landgericht begann am Montag, 19. April, um 9 Uhr der Prozess gegen zwei junge Männer wegen einer Auseinandersetzung zwischen AntifaschistInnen und Mitgliedern der rechten Scheingewerkschaft „Zentrum Automobil“ am 16. Mai 2020 am Rand einer „Querdenker“-Kundgebung auf dem Cannstatter Wasen. Den Angeklagten wird unter anderem versuchter Totschlag vorgeworfen. Dabei soll einer der Angeklagten „den Tod eines Geschädigten zumindest billigend in Kauf genommen haben“. Die 3. Große Strafkammer (Jugendgericht) wollte in den Räumen des Oberlandesgerichts in Stuttgart-Stammheim verhandeln. Die Verhandlung wurde allerdings kurz nach Beginn bereits unterbrochen und soll am Montag, 26. April, um 9 Uhr fortgesetzt werden. Es sind Termine bis Ende September angesetzt.
Der Vorsitzende Richter erklärte, in der Justizvollzuganstalt (JVA) Stammheim sei es zu einem „diffusen Coronaausbruch“ gekommen. Einer der Angeklagten befinde sich deshalb in Quarantäne. Vor Prozessbeginn hielt die „Solidaritätskampagne Antifaschismus bleibt notwendig“ ab 8 Uhr eine Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude in der Asperger Straße 47 ab, an der sich etwa 120 Menschen beteiligten. Drei „Geschädigte“ treten im Prozess als Nebenkläger auf. Bei einem der Nebenklägeranwälte handelt es sich um den CDU-Landtagsabgeordneten Reinhard Löffler. „Es lässt tief blicken, wenn ein CDU-Innenminister eine Razzia gegen die linke Szene inszeniert und sein Fraktionskollege die betroffenen Neonazis vor Gericht vertritt. Der Schulterschluss eines CDU-Funktionärs mit organisierten Nazis ist ein Skandal“, erklärt Marius Brenner von der Kampagne „Antifaschismus bleibt notwendig!“, welche die beiden Angeklagten vor Gericht unterstützt.
Umfangreiche Leibesvisitationen
Vor dem Gerichtsgebäude befanden sich am Montag zahlreiche Polizeibeamte. Die Polizei filmte BesucherInnen. Einige rechtsradikale „Journalisten“ fotografierten und/oder filmten ebenfalls. Zutritt erhielten lediglich sieben PressevertreterInnen, und es wurden auch coronabedingt lediglich sieben ZuhörerInnen in den Gerichtssaal gelassen. Diese Personen mussten sich einer umfangreichen Leibesvisitation unterziehen. Alle mitgeführten Gegenstände mussten abgegeben werden. Selbst Hosengürtel und Kleingeld wurden eingezogen.
Einer der beiden Angeklagten sitzt in der Stammheimer Justizvollzugsanstalt in Untersuchungshaft. Dorthin war er am Donnerstag, 18. März, aus Tübingen verlegt worden – just am „Tag des politischen Gefangenen“. An diesem Tag gab es in Tübingen am frühen Abend eine Solidaritätskundgebung vor dem Untersuchungsgefängnis.
Aus Sicht der „Solidaritätskampagne Antifaschismus bleibt notwendig!“ sind das Verfahren und die Ermittlungen „absolut politisch motiviert“. Sie zielten „auf die Spaltung und Kriminalisierung der gesamten antifaschistischen Bewegung ab“, heißt es in einer Erklärung. Mit der Kundgebung wolle man sich solidarisch mit den beiden Angeklagten zeigen und eine Gegenöffentlichkeit schaffen.
Rechtsradikale, die eine Gewerkschaft sein wollen
Die Auseinandersetzung am 16. Mai 2020 habe zum vorläufigen Ende von Querdenken in Stuttgart beigetragen. Ein Teil der Mitglieder von „Zentrum Automobil“ rund um den ehemaligen Rechtsrock-Musiker Oliver Hilburger, den IB-Aktivisten Simon Kaupert und den verletzten Pressesprecher der Gruppe, Andreas Ziegler, seien zum Tatzeitpunkt mit Schlagringen bewaffnet gewesen. „Die Mär von einem Angriff auf friedliche Corona-Kritiker weisen wir deswegen zurück“, so ein Sprecher der Kampagne. Die Gruppe scheine vorbereitet gewesen zu sein. Der Vorwurf des versuchten Totschlags der Staatsanwaltschaft Stuttgart sei nicht haltbar, es habe nie eine Tötungsabsicht bestanden.
Hausdurchsuchungen, Festnahmen, U-Haft
Die Rote Hilfe spricht von einer „umfangreichen Repressionswelle gegen antifaschistische Strukturen im Südwesten, vor allem im Großraum Stuttgart“ im Zug der Ereignisse vom 16. Mai 2020. Die eigens gegründete Ermittlungsgruppe „Arena“ habe einen „umfassenden staatlichen Feldzug gegen linke Gruppen“ initiiert. Bei einer Razzia in mehreren Städten seien am 2. Juli 2020 die Wohnungen von neun AntifaschistInnen durchsucht und der Stuttgarter „Jo“ verhaftet worden. Nach mehrmonatiger Untersuchungshaft sei er am 14. Januar frei gekommen. Der am 4. November 2020 verhaftete „Dy“ sei weiter in Haft. Anja Sommerfeld vom Bundesvorstand der Roten Hilfe wirft der grün-schwarzen Landesregierung in Baden-Württemberg vor, seit vielen Jahren „brutal gegen linke und besonders gegen antifaschistische Strukturen“ vorzugehen.
Fortsetzungstermine am Landgericht sind am 26.4., 3.5., 5.5., 10.5., 12.5., 17.5., 7.6., 9.6., 14.6., 16.6., 28.6., 5.7., 7.7., 12.7., 19.7., 21.7., 11.8., 1.9., 20.9., 22.9., 27.9. und 29.9.2021, jeweils um 9 Uhr.
Solidarität auch in Tübingen
Bei der Kundgebung am 18. März, dem „Tag des politischen Gefangenen“, im Hof des Amts- und Landgerichts in der Doblerstraße in Tübingen wurden alle Redebeiträge ins Englische und weitere Sprachen übersetzt, und es gab antifaschistische Musik. Dass einer der beiden Cannstatter Angeklagten am Morgen zurück nach Stammheim verlegt wurde, sei „entweder Zynismus, oder damit der gemeinsame Moment der Solidarität zerstört wird“, sagte ein Redner zur Eröffnung. Die Versammlung wurde von nur wenigen Polizisten beobachtet. Eine Rednerin von „Woman defend Rojava“ thematisierte die Kriminalisierung der PKK und die „enorme Repression gegen die kurdische Freiheitsbewegung“. Das zeige sich nicht nur an Straf-, sondern auch am Verlauf von Ausweisungs- und Einbürgerungsverfahren. „Der deutsche Staat ist der verlängerte Armt des türkischen Faschismus“, kritisierte die Rednerin.
„Ihr seid nicht allein“, betonten Rednerinnen und Redner zur Freude der Insassen der Justizvollzugsanstalt an den Fenstern immer wieder. Eine Sprecherin des OTFR (Offenes Treffen gegen Faschismus und Rassismus für Tübingen und Region) sprach die Auseinandersetzung in Bad Cannstatt an, über die jetzt vor dem Landgericht verhandelt wird. Es gebe einen Rechtsruck. Die von der AfD geforderte Politik werde bereits umgesetzt. Der Paragraf 129 a werde in erster Linie als politisches Werkzeug eingesetzt. Es gebe einen „überengagierten Schutz für Rechte“, „Anquatschversuche“ und „Gefährderansprachen“. Jeder Handlungsspielraum, den man Faschisten lasse, helfe ihnen jedoch, ihre Strukturen auszubauen. „Vom NSU zum Zentrum Automobil ist der Weg kürzer, als man denkt“, sagte sie: „Solidarität heißt, dass wir, die nicht im Knast sitzen, weiter gegen Faschisten kämpfen“.
„Antifaschismus bleibt notwendig“, so eine Sprecherin der Solidaritätskampagne. Trotz unterschiedlicher Ansichten „sind wir alle Teil der antifaschistischen Bewegung“: „Solidarität heißt in der Praxis: auch dann zusammenstehen, wenn es ungemütlich wird.“ – „Wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen“, wurde mehrfach skandiert.
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