Von Sahra Barkini – Stuttgart. Mehrjährige Haftstrafen für zwei Stuttgarter Aktivisten: Für die Stuttgarter Justiz scheint der Feind klar links zu stehen. Denn Beweise schienen unnötig, allein eine linke Gesinnung führte zur Verurteilung, bemängelt die Rote Hilfe. Während der eine der beiden Angeklagten bereits am 24. Oktober zu drei Jahren und neun Monaten verurteilt wurde, lautete das Urteil gegen den zweiten Angeklagten auf drei Jahre und zwei Monate Haft. Grundlage für die Verurteilungen war laut Mitteilung der Roten Hilfe ein „mehr als fragwürdiges anthropologisches Gutachten“, das sich auf angeblich teils illegale Videoaufnahmen berufe, die dazu noch von schlechter Qualität gewesen seien. Gegen beide Urteile werden Rechtsmittel eingelegt.
Im Sommer 2020, genauer in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni, entlud sich in Stuttgart die Wut über anhaltende polizeiliche Schikanen und rassistische Kontrollen in der Innenstadt. Schon kurz nach der sogenannten „Krawallnacht“ kündigte der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl ein hartes Vorgehen an: „Der Rechtsstaat zeigt Zähne. Das möchte sich der Mob hinter die Ohren schreiben, dass Randale und Gewalt bei uns kein Spaß sind.“
Selbst der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer eilte nach Stuttgart, um sich ein demoliertes Polizeifahrzeug anzusehen, das extra nochmal medienwirksam in die Innenstadt gekarrt wurde. Die angeblich beteiligten Jugendlichen wurden der versammelten Presse ohne Schuhe, dafür mit Hand- und Fußfesseln und einem sackähnlichen Gegenstand über den Köpfen vor dem Gerichtsgebäude präsentiert. Menschenwürde Fehlanzeige. Die betroffenen Jugendlichen waren teilweise monatelang in Untersuchungshaft und wurden zu hohen Bewährungs- oder gleich Haftstrafen verurteilt. Teilweise wurden sie in der zweiten Instanz gekippt, weil sie unrechtmäßig waren.
In den Tagen nach der „Krawallnacht“ wurden Stammbaumrecherchen gefordert. Und schnell wurden Rufe verschiedener Akteure laut, es müssten auch Linke beteiligt gewesen sein. So kam es im März 2022 zu mehreren Hausdurchsuchungen (siehe „Mit Rammböcken ins Lilo eingebrochen„). Noch am selben Abend reagierten AktivistInnen mit einer Kundgebung auf die Durchsuchungen am Morgen (siehe „Gemeinsam gegen Repressionen„).
Im Oktober 2022 folgten nun die Prozesse gegen zwei Angeklagte. Die Verfahren stützten sich auf anthropologische Gutachten. Es existieren von den Vorgängen im Juni nur extrem schlechte Videoaufnahmen, auf denen schemenhaft Gestalten zu sehen sind. Herangezogen wurden auch Videoaufnahmen eines geparkten Teslas im „Wächter-Modus“ (in diesem Modus laufen Kameras im Stehen mit, und wenn etwas dem Tesla sehr nah kommt oder er erschüttert wird, werden Rundum-Bilder aufgezeichnet. Dies ist datenschutzrechtlich unzulässig). Warum Bilder, die gegen die Datenschutzbestimmungen verstoßen, überhaupt vor Gericht herangezogen werden, ist fraglich.

Entstehen so die Polizeiarchive? Dieses Foto entstand 2020 bei einer friedlichen Demonstration in Stuttgart. Die Polizei filmte und fotografierte nahezu ununterbrochen VersammlungsteilnehmerInnen.
Um die beiden Angeklagten zu überführen, wurden diese Aufnahmen mit polizeilichem Vergleichsmaterial abgeglichen. Dieser Datenpool besteht ausschließlich aus Aufnahmen von 20 Menschen der linken Szene. Sowohl Polizei als auch Justiz scheinen sich von Beginn an darauf versteift zu haben, politisch linke AktivistInnen zu verurteilen. Die Rote Hilfe schreibt dazu: „Da Gesichtszüge oder andere körperliche Merkmale nicht klar zu erkennen waren, konzentrierte sich der Gutachter auf Körperhaltung, Bewegungsabläufe und Kleidungsstücke. Obwohl er nur acht der mehr als 200 für solche Gutachten nutzbaren Merkmale einbeziehen konnte, vermerkte er als Ergebnis ‚Identität hoch wahrscheinlich‘ – nur die dritthöchste Wahrscheinlichkeitskategorie, aufgrund derer der Genosse jetzt drei Jahre und zwei Monate in Haft soll; eine frühere Bewährungsstrafe von acht Monaten wurde dabei einbezogen.“
Im Prozess, der am 24. Oktober endete, waren gegen den Angeklagten neben der angeblichen Teilnahme an der „Krawallnacht“ noch zwei weitere Vorwürfe erhoben worden: So soll er nach Ansicht des Gerichts an einer körperlichen Auseinandersetzung mit einem Anhänger der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ am Rand einer „Querdenken“-Demonstration Anfang Mai 2020 beteiligt gewesen sein. Außerdem wurde ihm ein „tätlicher Angriff“ auf einen Polizeibeamten vorgeworfen, da sich der Aktivist einem Polizisten in den Weg gestellt haben soll, als dieser einen Mitdemonstranten festnehmen wollte.
„Obwohl zu den beiden ersten Anklagepunkten keine Beweise, sondern ausschließlich inhaltlich nicht aussagekräftige Aussagen von PolizeizeugInnen und das fragwürdige Vergleichsgutachten existieren, fällte die Richterin das hohe Urteil von drei Jahren und neun Monaten und entschied sich bewusst gegen die Anwendung des Jugendstrafrechts“, so die Rote Hilfe: „Dass es sich dabei um offen politische Justiz handelte, erklärte sie selbst, indem sie das Urteil mit der „ideologischen Verblendung“ des Angeklagten begründete.“
Anja Sommerfeld vom Bundesvorstand der Roten Hilfe kommentierte die hohen Haftstrafen wie folgt: „Die Stuttgarter Justiz hat mit diesen Urteilen erneut bewiesen, dass sie bei der Verfolgung von linken AktivistInnen nicht einmal den Schein von Rechtsstaatlichkeit zu wahren versucht, Ziel ist nicht die Verfolgung von Straftaten, sondern die Einschüchterung einer kämpferischen linken Bewegung in der Stadt, indem engagierte AktivistInnen unter fadenscheinigen Vorwänden aus ihrem Leben herausgerissen und auf Jahre inhaftiert werden. Doch dieser staatlichen Strategie stellen wir unsere organisierte Solidarität entgegen. Wir lassen die Genossen nicht allein. Die Rote Hilfe e. V. solidarisiert sich mit den beiden Betroffenen und fordert ein Ende der politischen Justiz in Baden-Württemberg, die immer mehr Linke einsperrt. Wir fordern die umgehende Freilassung der gefangenen Stuttgarter Antifaschisten Jo, Dy und Findus und die Aufhebung der jetzigen Urteile!“
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