Berlin. Rund vierzig Flüchtlinge harren nach Medienberichten noch immer auf dem Dach der Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg aus. Sie wollten am Mittwochvormittag eine Pressekonferenz abhalten, was die Polizei jedoch vereitelte. Am Vortag hatten etwa 900 Polizisten aus Berlin, Brandenburg, Thüringen, Bayern und von der Bundespolizei versucht, trotz Gegenprotesten von etwa 800 Menschen die Schule zu räumen. Das gelang ihnen jedoch nur zum Teil.
Die Polizei hatte auf Anweisung des zuständigen Bezirksamts gehandelt. Bei den Protestaktionen gegen die Räumung soll es in der Nacht zum Mittwoch Verletzte und Sachschäden gegeben haben. Auch mehrere Polizisten hätten Verletzungen davongetragen. Mehrere Abgeordnete versuchten zu vermitteln. Vor Ort war auch der Berliner Linken-Abgeordnete Hakan Tas. Auf seinen Angaben und denen des Berliner Flüchtlingsrats beruht im Wesentlichen unser Bericht.
In dem zuvor leerstehenden Gebäude lebten anderthalb Jahre Flüchtlinge, Obdachlose und Roma-Familien. Zu der Räumung sperrte die Polizei das Gelände weiträumig ab. Sie hinderte nach Aussage mehrerer Zeugen schreibende Journalisten und Fotografen trotz Pressefreiheit an der Berichterstattung.
Laut Polizei Twitter unterstützten die Beamten auf Bitte des Bezirkes Friedrichshain-Kreuzberg die „Umzugsmaßnahmen“, heißt es in der Meldung. Am Abend gab es um 19 Uhr eine Solidaritäts-Kundgebung vor dem Kottbusser Tor. Am heutigen Mittwoch wurden die Solidaritäts-Kundgebungen fortgesetzt.
Zu der Situation:
Polizei setzte Pfefferspray ein
Vor dem Gebäude kommt es am Dienstag zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten. Etwa 60 Protestierende versuchen vergeblich, die Absperrungen an der Ohlauer Straße vor dem früheren Schulgebäude zu stürmen. Polizisten mit Helmen setzen Pfefferspray ein, um das zu verhindern. Eine Sitzblockade vor dem Eingangsbereichs der Schule wird von der Polizei aufgelöst. Die Beamten tragen zirka 30 Demonstranten weg.
Proteste in dem Gebäude
In der Schule errichten einige Flüchtlinge Barrikaden, einige drohen damit sich umzubringen. Nach Angaben über Twitter soll es stark nach Benzin in der Schule riechen. Im 3. Stock sollen sich Bewohner eingesperrt haben, sie drohen mit Selbstverletzung, sollten sie gezwungen werden, die Schule zu verlassen. Flüchtlinge befinden sich auf dem Dach der Schule, sie wollen nicht in die bereitgestellten Unterkünfte, eher wollen sie sterben. „Ich springe“, ruft einer, „wenn sie kommen, um mich zu holen.“
Die Meldungen auf Twitter und Facebook verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Viele User riefen spontan zur Unterstützung der Flüchtlinge gegen die Räumung auf. Mehreren Post auf Twitter zufolge wurde der Bezirksstadtrat Hans Panhoff (Grüne), der mit den Flüchtlingen in der Schule wochenlang verhandelt hatte, vor Ort von Unterstützern massiv beschimpft: „Du hast uns belogen.“ In Charlottenburg und in Spandau sollen nun nach Angaben eines Sprechers des Bezirks für jeden der 211 Flüchtlinge Unterkünfte zur Verfügung stehen.
Zur Vorgeschichte:
Der Berliner Senat hat am 18. März 2014 das „Einigungspapier Oranienplatz“ präsentiert. Es erkannte die Ziele und den Protest der Flüchtlinge als dringend und korrekt an. Alle Seiten der politisch Verantwortlichen begrüßten diese sogenannte Einigung.
Scharfe Kritik äußerte dagegen der Flüchtlingsrat Berlin am Zustandekommen des „Einigungspapiers Oranienplatz“. Laut Flüchtlingsrat lag tatsächlich weder eine Einigung vor, noch war die damit verbundene Räumung des Oranienplatzes „friedlich“. Mit den Bewohnern der besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule gab es zu keiner Zeit Gespräche von Seiten des Senats. Nunmehr drohte die zwangsweise Räumung der Schule.
Flüchtlingsrat: Das Zustandekommen einer angeblichen „Einigung“ wurde vom Senat falsch dargestellt.
Aus Sicht des Flüchlingsrats gilt dennoch: Mit dem „Einigungspapier“ hat der Senat zugleich die Rechtmäßigkeit und Berechtigung des Protests sowie der Forderungen der Flüchtlinge anerkannt. Zu dem „Einigungspapier“ wurden folgende rechtsverbindliche Zusagen vom Senat gemacht:
Darunter erkennt der Senat die Zuständigkeit des Landes Berlin für die Flüchtlinge vom Oranienplatz an. Der Senat sichert den bis dahin schon geduldeten Flüchtlingen zu, dass sie bei der Ausländerbehörde Berlin Anträge stellen können und für die Dauer der Antragsbearbeitung nicht abgeschoben werden. Der Senat stellt Supportteams zur Unterstützung und Beratung der Flüchtlinge zur Verfügung. Der Senat gewährleistet im Gegenzug zum Abbau der Zelte den Flüchtlingen Zugang zu Sozialleistungen, Unterbringung, Versorgung und Krankenbehandlung.
Die Situationen stellen sich wie folgt dar:
Hürden bei der Umsetzung sowie Verhinderung der Arbeit der Supportteams. Diese waren in den ersten drei Monaten ausschließlich damit beschäftigt, im Rahmen ungeklärter Fragen die Unterbringung, Versorgung, Registrierung und Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge zu regeln. Verantwortlich dafür waren Streitigkeiten innerhalb der unterschiedlichen Senatsverwaltungen, maßgeblich hat die Innenverwaltung dies blockiert.
Die Innenverwaltung verweigert eine verbindliche Erklärung zur Zuständigkeit des Landes Berlin. Die Innenverwaltung hat bisher keine der zugesagten Umverteilungen vorgenommen. Der Berliner Innensenat betrachtet die Flüchtlinge als illegal, und die Integrationsbeauftragte stellt lediglich sogenannte „Oranienplatzkarten“ aus, auf deren Rückseite vermerkt ist:
„Diese Karte entfaltet keinerlei rechtliche Ansprüche“. Ein Abschiebeschutz wird nicht gewährt.
Bislang wurde keine Einzelfallprüfung durchgeführt:
Erst seit dem 11. Juni 2014 besteht die Möglichkeit, zur Antragstellung in der Ausländerbehörde vorzusprechen. Seither erfolgen Vorladungen verbunden mit der Drohung, dass im Falle des Nichterscheinens das Recht auf Unterbringung und Versorgung verloren gehe. Humanitäre Gründe werden ignoriert, wie psychotherapeutische Stellungnahmen zu traumatisierten Flüchtlingen. Die Innenverwaltung unterläuft damit so systematisch die Ziele der Vereinbarung. Vermittlungen in Deutschkurse, Praktika, Unterstützung bei der Arbeitssuche, Ausgabe von Krankenscheinen sind entgegen dem „Einigungspapier“ bisher nur höchst unzureichend oder gar nicht erfolgt.
Es ist festzuhalten, der Senat macht Zusagen, seine Innenverwaltung setzt diese nicht um:
Klaus Wowereit hatte in seiner Regierungserklärung „Flüchtlingspolitik in Berlin“ vom 10. April 2014 von einem „fairen“ Verfahren im Umgang mit den Flüchtlingen vom „Oranienplatz“ gesprochen. Die Innenverwaltung handelt entgegengesetzt und begeht somit Wortbruch. Politisch heißt dies, dass dem Berliner Innensenat das Schicksal der Flüchtlinge vollkommen gleichgültig ist.„Hinhaltetaktik und Abschiebung durch die Hintertür zeigen die Skrupellosigkeit der Innenverwaltung. Die betroffenen Flüchtlinge werden im juristischen Niemandsland gehalten. Sie geraten in eine unzumutbare Situation, weil sie nicht wissen, ob sie nicht in den nächsten Stunden festgenommen und abgeschoben werden“.
Die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik ist gescheitert. Bei dem Versuch, Schutz vor Verfolgung in Europa zu finden, kommen jedes Jahr mehrere tausend Menschen ums Leben. Der Protest der Flüchtlinge, wie er sich am „Oranienplatz“, in der Gehart-Hauptmann-Schule und an anderen Orten zeigt, ist berechtigt.
Es hat eine grundlegende Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik zu erfolgen, die Flüchtlingen den sicheren Zugang nach Europa gewährleistet, ihre Freizügigkeit schützt und ihre sozialen und politischen Rechte umsetzt.
Ein von der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten zur rechtlichen Situation der Flüchtlinge vom „Oranienplatz „
von Prof. Andreas Fischer-Lescano und Matthias Lehnert (Universität Bremen) bestätigt ausdrücklich den rechtsverbindlichen Charakter des „Einigungspapiers“ vom 18. März 2014.
Gutachten Rechtliche Situation der Flüchtlinge vom Oranienplatz (PDF)
Der Sozialrechtsexperte Georg Classen vom Flüchtlingsrat Berlin kommt eindeutig zu dem Schluss, dass aus der faktischen Duldung auch sozialrechtliche Ansprüche folgen. Diese Erklärung kann hier
www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/Krankenscheine_Lampedusa.pdf
eingesehen werden
19. März 2014: Schein-Einigung für den Oranienplatz soll Räumung ermöglichen, www.fluechtlingsrat-berlin.de/print_neue_meldungen2.php.
10. April 2014: „Augenmaß, Menschlichkeit und klare Regeln“. Regierungserklärung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin zur Flüchtlingspolitik, www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/2014/pressemitteilung.103226.php.
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