Von Alfred Denzinger – Stuttgart. Vor dem Stuttgarter Amtsgericht standen am Mittwoch, 15. Januar, zwei Aktivisten, die im März 2019 mit einer spektakulären Hausbesetzung in der Stuttgarter Forststraße 140 ein bundesweit beachtetes Zeichen gegen Miethaie, Spekulantentum und Gentrifizierung gesetzt hatten. Das Haus wurde geräumt und die angetroffenen AktivistInnen wurden erkennungsdienstlich behandelt. Amtsrichter Ropertz verurteilte die beiden Angeklagten zu jeweils 900 Euro Geldstrafe zuzüglich Gerichtskosten wegen Hausfriedensbruchs.
Für den Prozess waren ursprünglich zwei Verhandlungstage angesetzt. Der zweite Termin (Dienstag, 4. Februar) entfällt durch das bereits jetzt gefällte Urteil.
„Das herrschende Recht ist das Recht der Herrschenden“
Vor Verhandlungsbeginn versammelten sich in den frühen Morgenstunden vor dem Gerichtsgebäude ein Dutzend Menschen zu einer Kundgebung. Sie brachten damit ihre Solidarität mit den Hausbesetzern zum Ausdruck. Eine Rednerin sprach für die Rote Hilfe zu den TeilnehmerInnen. Sie führte aus, dass Recht und Gesetz das Bestrafen von Widerstand gegen die Wohnungsnot vorsehe. Die Beweggründe seien nicht entscheidend, sondern in welchen Verhältnissen sie zu den bestehenden Eigentumsverhältnissen stünden.
Eine Hausbesetzung stelle die Sinnhaftigkeit des Privateigentums an Grund und Boden in Frage. Wenn diese Dinge aber hauptsächlich als Kapitalanlage und als Spekulationsobjekt dienten, dann sei klar, dass die Mieten explosionsartig stiegen. Ein kluger Kopf habe mal bei einer Demonstration auf ein Transparent geschrieben: „Das herrschende Recht ist das Recht der Herrschenden“. Die komplette Rede der Roten Hilfe kann hier nachgehört werden.
Da der zuständige Richter offenbar von einem „erheblichen Sicherheitsrisiko“ ausging, sicherten zahlreiche Justizmitarbeiter und Polizisten den Ablauf im und um das Gerichtsgebäude. Alle ZuschauerInnen – auch PressevertreterInnen – wurden vor dem Gerichtssaal durchsucht und abgetastet. Sämtliche Gegenstände mussten abgegeben werden. Hiervon ausgenommen waren nur die Schreibutensilien der JournalistInnen. Bei Außenstehenden wurde dadurch der Eindruck erzeugt, es handle sich hier um einen schweren Terrorismus-Prozess.
Da beide Angeklagte ihren Einspruch gegen die ursprünglichen Strafbefehle auf die Rechtsfolgen beschränkten, wurden die beiden vorgeladenen Polizeizeugen nicht benötigt. Die Beweisaufnahme wurde geschlossen.
„Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“
Der 57-jährige ledige, mittellose Mietaktivist wurde von Rechtsbeistand Thomas Jung vertreten. Jung erklärte in seinem Schlussplädoyer, die AktivistInnen hätten „nicht ganz ohne Stolz eingeräumt“, dass sie das Haus besetzt hätten, um auf die enorm große Wohnungsnot aufmerksam zu machen. Es sei der Verdienst der HausbesetzerInnen, die Frage der Wohnungsnot bundesweit auf die Tagesordnung gebracht zu haben. Im übrigen sei es schon eigenartig, in Bezug auf ein Haus, das zehn Jahre leer stand, von Hausfriedensbruch zu reden.
Schließlich appellierte der Rechtsbeistand an den Richter, mutig zu sein. „Sehen sie die positiven Noten dieser Aktion und verzichten sie auf eine Bestrafung.“ Am Ende seines Plädoyers stellte Jung die Frage, ob der Schutz toter Steine vor dem Schutz von Menschen stehe. Der Spruch von Georg Büchner aus dem Jahr 1834 wäre auch heute noch angesagt: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“
Unbeeindruckt von den Worten des Verteidigers – und obwohl der Angeklagte über keinerlei Einkommen verfügt (er bezieht auch keine Harz IV-Leistungen) – verurteilte ihn der Richter zu 90 Tagessätzen à 10 Euro.
Gerechtigkeit oder „Klassenjustiz“?
Der zweite Angeklagte hat eine Anstellung auf 450 Euro-Basis. Der ledige 24-Jährige erklärte, Stuttgart sei bei den Mieten „inzwischen die teuerste Großstadt Deutschlands“. Das führe dazu, „dass es immer mehr Wohnungslose gibt“. Profitinteressen Weniger stünden im Widerspruch zu den Interessen der Allgemeinheit. Hausbesetzungen seien eine praktische Antwort darauf. Es sei kein Wunder, dass Hausbesetzungen „die Stadtregierung in Panik“ versetze.
Es gelte festzuhalten, dass ein rechtswidriger Zustand bestehe, wenn AktivistInnen gegen Leerstand und für von Wohnungsnot betroffene Familien kämpften. Ein rechtskonformer Zustand sei hingegen der aktuelle Wohnungsmarkt. Dieses Recht diene nicht der Allgemeinheit, „sondern wenigen Vermietern, Spekulanten, und Kapitalanlegern“. Für eine solche Justiz gebe es einen Begriff: „Klassenjustiz“. Die vollständige Prozesserklärung des jungen Aktivisten kann hier nachgelesen werden.
Rechtsanwalt Paolo Beeren erklärte in seinem Plädoyer, der Wohnungsmarkt in Stuttgart sei prekär. Die Wohnungsnot in Großstädten – speziell in Stuttgart – sei die größte Herausforderung unserer Zeit. Er könne bei der Hausbesetzung keine kriminelle Energie erkennen, sagte er, und bat um eine milde Strafe.
Auch bei diesem Angeklagten zeigte der Amtsrichter keine Gnade. Er verurteilte den jungen Mann zu 60 Tagessätzen à 15 Euro.
Weiter aktiv für die Belebung von Leerstand
Das Kollektiv „Leerstand beleben“ teilte nach dem Prozess gegen die beiden Hausbesetzer mit:
„Die Kriminalisierung von AktivistInnen, die auf den untragbaren Zustand von tausenden leer stehenden Wohnungen aufmerksam machen, geht weiter. Der Prozess ist vorbei. Es gab für die beiden Angeklagten insgesamt Geldstrafen in Höhe von 1800 Euro. Zum Vergleich: In Stuttgart stehen mindestens 3000 Wohnungen leer, und die Stadt hat in den vergangenen VIER Jahren insgesamt 2400 Euro an Strafen gegen Eigentümer ausgesprochen, die Häuser unbegründet leer stehen lassen. Die Angeklagten kündigten in einer politischen Erklärung an, weiter aktiv für die Belebung von Leerstand einzutreten. Wieder einmal hat die Justiz heute gezeigt, wessen Interessen sie vertritt. – Der zweite Verhandlungstermin im Februar fällt nun aus. Allerdings gibt es im März dann ein Verfahren gegen zwei weitere Angeklagte. Dort gibt es jedoch eine Terminänderung. Der Prozess findet – entgegen früheren Ankündigungen – erst am 4. März vor dem Amtsgericht statt.“
Vorgeschichte
Nach der Hausbesetzung hatte es ergebnislose Verhandlungen mit den Anwälten des Eigentümers der Immobilie Forststraße 140 und mit der von dem grünen Oberbürgermeister Fritz Kuhn regierten Stadt Stuttgart gegeben. Die Stadt hatte sich scheinbar uneigennützig als Vermittler eingeschaltet.
Dennoch wurde die Forststraße 140 mit einem starken Polizeiaufgebot in den frühen Morgenstunden des 28. März 2019 geräumt (siehe „Protest gegen Mietenwahnsinn„). Rechtliche Grundlage für diese Räumung war eine Allgemeinverfügung der Stadt Stuttgart, die sich unmittelbar zuvor als eine Art „Kümmerer“ betätigt hatte.
In den knapp drei Wochen der Hausbesetzung hatten sich dort solidarische Strukturen entwickelt, die aus Sicht des für die Räumung zuständigen Bürgermeisters eine „Störung der öffentlichen Sicherheit“ darstellten.
- Die Forststraße 140 wurde im März 2019 besetzt …
- … und renoviert (Bernd Riexinger, Parteivorsitzender Die Linke, bei der Arbeit) …
- … und schließlich von der Polizei geräumt
Die bei der Räumung angetroffenen MietaktivistInnen wurden von der Polizei auf den Pragsattel gebracht und im dortigen Revier einer ausgiebigen erkennungsdienstlichen Behandlung unterzogen. Erst nach mehreren Stunden des Polizeigewahrsams wurden sie wieder auf freien Fuß gesetzt.
- Archivbild
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