Tübingen. Rund 200 FriedensaktivistInnen versammelten sich am Samstag, 29. August, in Tübingen zu einer Kundgebung – noch vor dem offiziellen Antikriegstag, dem Jahrestag des Überfalls von Nazi-Deutschland auf Polen, und unter dem Eindruck der Nachrichten über die in einem LKW erstickten und im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge.
Die Flüchtlingspolitik stand an Infoständen und in Redebeiträgen auf dem Holzmarkt vor der Tübinger Stiftskirche im Mittelpunkt – neben dem Gedenken an die Opfer von Krieg und Faschismus. Denn Krieg ist die Hauptursache für Flucht. Neben der Nato standen die Bundesregierung und die Rüstungsexporteure in der Kritik. „Krieg beginnt hier – bekämpfen wir ihn hier!“ war das Motto, unter dem ein Bündnis von Tübinger Initiativen zu der Kundgebung am Samstag aufgerufen hatte. Jens Rüggeberg moderierte.
„Die Finger zeigen auf die Schlepper, nicht auf die Kriegstreiber“, empörte sich Henning Zierock vom Theodorakis-Ensemble, das die Kundgebung neben der Gruppe „Auftakt“ musikalisch begleitete: „Es wird über die Folgen der Kriege gesprochen, aber nicht über die Ursache. Es ist unvorstellbar, wie diese Kriege immer noch weiter wüten. Da reicht nicht nur zu sagen, raus aus der Nato. Man muss die Nato abschaffen“, forderte Zierock, ehe er mit seinem Partner Stefanos Psomas das Lied „Dein Bruder hört’s nicht, Fremde hören’s doch“ auf Türkisch, Griechisch und Deutsch anstimmte.
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Unvorstellbare Zustände auf der Flüchtlingsinsel Lesbos
Das Theodorakis-Ensemble war erst vor kurzem zusammen mit der Gesellschaft Kultur des Friedens aus Griechenland zurückgekehrt. Dort hatte es auf der Insel Lesbos versucht, bei der Versorgung von täglich bis zu 1000 ankommenden Flüchtlingen zu helfen (siehe auch Bitte um Nothilfe für Lesbos und Für Flüchtlinge auf Lesbos). Am Freitag, 4. September, 20 Uhr will die Delegation im Gemeindehaus Lamm am Tübinger Marktplatz von ihrer Reise berichten.
Der 84-jährige Kommunist und Gärtnermeister Gerhard Bialas, der dreißig Jahre in Tübingen Gemeinderat und Kreistagsmitglied war, hatte die Kundgebung eröffnet. Als DKP-Mann wird Bialas seit über sechzig Jahren vom baden-württembergischen Verfassungsschutz überwacht. Ein Ende ist nicht abzusehen.
Nie wieder Krieg von deutschem Boden
Er erinnerte in einer sehr persönlichen Ansprache an die sechzig Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs und die „unzählbar vielen Verkrüppelten, Witwen und Waisen, Heimat und Obdachlosen“. Hitlerfaschisten hatten sie „im Bündnis mit den Rüstungskonzernen und dem Monopolkapital“ auf dem Gewissen. Er selbst erlebte den deutschen Überfall auf Polen als achtjähriger Bub am „Volksempfänger“.
„Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen“, war später die Selbstverpflichtung, die bereits durch den CDU-Kanzler Konrad Adenauer aufgehoben wurde. „Es ist tieftraurig, dass heute das schon tausendmal Gesagte immer wieder gesagt werden muss: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!“, schloss Bialas: „Diese Ermahnung hat leider in Anbetracht von Nazi-Ausschreitungen gegen Asylsuchende nichts von ihrer Bedeutung verloren.“
Ohne Rüstungsexport keine deutsche Waffenproduktion
Walburg Werner sprach für das Tübinger Friedensplenum. Sie thematisierte vor allem die Expansions-Strategie der Nato und forderte den Austritt Deutschlands aus dem Militärbündnis. Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung stellte die Rüstungsexporte in den Mittelpunkt (siehe unten seine Rede im Wortlaut). Ohne sie gäbe es keine deutsche Rüstungsproduktion. Weder Sigmar Gabriel noch ein anderer führender deutscher Politiker beabsichtige, sie einzuschränken – im Gegenteil. Sie seien „das zwingende Ergebnis deutscher Großmachtambitionen“.
Auch eine Sprecherin und ein Sprecher der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend SDAJ forderten ein Ende der Rüstungsproduktion. Da „Kriegsproduktion ungeheuer profitabel ist“, werde das jedoch kein leichter Kampf werden, prophezeiten sie. Sie verlangten eine Enteignung der Rüstungsbetriebe und Konversion, also die Umstellung der Produktion auf zivile Güter. Fünf weitere Mitglieder der Gruppe legten sich derweil mit scheinbar blutverschmierten T-Shirts auf das heiße Pflaster des Holzmarkts und verharrten eine Viertelstunde regungslos in der Sonne. Auf Schildern stand die Zahl der Flüchtlinge, die in den letzten Jahren an Europas Außengrenzen starben.
Keine Waffen für die Türkei und Saudi-Arabien!
„Die Erschütterung über tote Flüchtlinge ist heuchlerisch, wenn daraus keine Konsequenzen gezogen werden“, sagte die Bundestagsabgeordnete der Linken Heike Hänsel. Tatsächlich werde eine Politik, die zu Flucht und Vertreibung führt, jedoch „einfach so fortgesetzt“, über die Verantwortung der Nato und der westlichen Regierungen werde nicht gesprochen. Auch der Ukraine-Konflikt zeige, dass „die Militarisierung der deutschen Politik gerade so weiter“ gehe – gleichzeitig über die zunehmende Zahl von Flüchtlingen zu klagen, sei „Perversion“.
Auch die Türkei und Saudi-Arabien würden mlitärisch weiter unterstützt. „Diese Kriege werden für knallharte wirtschaftliche Interessen und nicht für uns geführt“, empörte sich Hänsel über eine Hochglanz-Werbebroschüre der Marine, in der das Gegenteil behauptet wird und die ihr in Kiel in die Hände fiel: „Diese Form des Wohlstands will ich nicht mehr.“
Hänsel: Flüchtlingsnotstand ist künstlich herbeigeführt
Die Bundestagsabgeordnete zeigte sich überzeugt, dass Deutschland viel mehr für Flüchtlinge tun könnte. Zustände wie in Mannheim, wo es Gerangel um Wasser gab, oder am Lageso in Berlin, wo Flüchtlinge auf der Wiese mangels Unterkunft über Nacht campieren, müsse es nicht geben. „Die Kapazitäten werden künstlich knapp gehalten, um das Signal auszusenden, kommt nicht hierher. Das verurteile ich!“, ärgerte sich die Abgeordnete: „Ich kann es nicht mehr hören, dass Deutschland nicht alle Flüchtlinge aufnehmen kann. Als ob alle kommen wollten – 40 Millionen sind allein in ihren Ländern auf der Flucht!“
Christian Harde ging als Sprecher der VVN-BdA vor allem auf den Krieg in der Ukraine ein. Er habe bereits 7000 Tote gefordert. Zwei Millionen Ukrainer befänden sich auf der Flucht – davon eine Million „im geschmähten Russland“. Obwohl die Opposition unterdrückt und verfolgt werde, was ein deutliches Zeichen für eine Diktatur sei, erhalte das Land vom IWF einen Schuldenschnitt. „Sind das die europäischen Werte, für die der Maidan unterstützt wurde?“, fragte er mit Blick auf faschistische Umtriebe. Er kritisierte die Nato-Osterweiterung und die Sanktionen gegen Russland. Noch immer sei die Kriegsgefahr groß, obwohl alle Umfragen zeigten, „dass sich die übergroße Mehrheit hier keinen Krieg mit Russland aufschwatzen lassen will“. Harde forderte, dass der blockfreie Status der Ukraine und die guten Beziehungen zu Russland wiederhergestellt werden.
Erdogan will Kurdistan ins Chaos stürzen
Lukas von der Gruppe „Auftakt“ sang ein Lied für Kobane. Eine Sprecherin des kurdisch-demokratischen Gesellschaftszentrums Reutlingen-Tübingen kritisierte die Politik Erdogans. In den letzten 72 Tagen seien in der Türkei und den kurdischen Gebieten 78 Menschen getötet und 1628 in Untersuchungshaft genommen worden. 92 befänden sich weiter in Haft. „Diese Menschen wurden offensichtlich Opfer staatlicher Gewalt“, sagte die Sprecherin.
Erdogan verspreche sich offenbar einen Erfolg der AKP bei den bevorstehenden Wahlen, wenn er Kurdistan ins Chaos stürzt. Dabei gebe es nur ohne Waffen einen Weg zum Frieden: „Es gibt keinen Sieger in einem Krieg. Es ist stets die Menschheit, die verliert.“ Zuletzt sprachen Vertreter und Vertreterinnen der Organisation Solidarität International, die Unterschriften für einen Korridor nach Rojava sammelt, der MLPD, die ein Gesundheitszentrum in Kobane errichten will, und des Frauenverbands Courage.
Ein breites Bündnis rief zur Kundgebung auf
Zur Kundgebung hatten aufgerufen: Tübinger Friedensplenum und Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsgegnerInnen (DFG-VK), DKP, Frauenverband Courage, Gesellschaft Kultur des Friedens, Informationsstelle Militarisierung (IMI), Kurdischer Verein Tübingen-Reutlingen, DIE LINKE, Mahnwache für den Frieden, MLPD, Solidarität International, Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ), Tübinger Linke (TÜL), Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der AntifaschistInnen (VVN-BdA).
Weitere Kundgebungen sind für den 1. September in vielen Städten angekündigt (sie auch „Die Waffen nieder!„)
In Stuttgart findet eine Gedenkfeier und Kranzniederlegung am Dienstag, 1. September 2015, um 17 Uhr am Mahnmal für die Opfer des Faschismus (Stauffenbergplatz / zwischen Karlsplatz und Altem Schloss) statt. Folgende RednerInnen sind angekündigt: Philipp Vollrath, DGB-Stadtverbandsvorsitzender Stuttgart, Bernhard Löffler, DGB-Regionsgeschäftsführer Nordwürttemberg und Janka Kluge, VVN / Bund der AntifaschistInnen. Darüber hinaus soll es ein Theaterstück des Offenen Treffen gegen Krieg und Militarisierung geben. Die musikalische Umrahmung wird Werner Grimm (Arbeiterlieder und Folk) übernehmen.
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Die Rede der Bundestagsabgeordneten der Linken Heike Hänsel im Wortlaut:
Krieg erzeugt Massenflucht
Entsetzen über tote Flüchtlinge im Mittelmeer, Bestürzung über tätliche Angriffe auf Migranten, Erschütterung über Brandanschläge gegen geplante Unterkünften für Asylbewerber. Allerdings vor allem nette Worte und Gesten parat, gleichzeitig denken diesselben Politiker jedoch über repressive Maßnahmen nach, sei es die Errichtung von Zäunen mit NATO-Draht, der Einsatz der Armee, die Forderung nach Einbeziehung der NATO, eine beschleunigte Abschiebung und die Definition »sicherer Herkunftsländer«, oder der Einsatz von Militär zum Kampf gegen vermeintliche oder tatsächliche Menschenschmuggler. Die Bestürzung über diese Toten ist heuchlerisch und verlogen, wenn daraus keine Konsequenzen gezogen werden und die europäischen Regierungen weiterhin auf Abschottung setzen! Sie sind mitverantwortlich für diese Toten! Deshalb muss der EU der Friedensnobelpreis aberkannt werden! Wir fordern, endlich die Grenzen zu öffnen nach Europa, legale Einreisewege, Transportkapazitäten und humanitäre Visa. Nur so können Menschen davor bewahrt werden, im Mittelmeer zu ertrinken oder in LKWs elendig zu ersticken!
Gleichzeitig betreiben dieselben Regierungen jedoch alles Erdenkbare, um die Massenflucht in Richtung Europa noch zu verstärken. Denn die meisten der Flüchtlinge aus Ländern kommen, in denen Mitgliedstaaten der NATO Krieg führen oder zumindest unterstützen. Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Balkan, dem Irak, Syrien und Libyen usw. gibt es doch nur, weil ihnen die Existenz durch NATO-Angriffskriegen zerstört wurde und weil die radikalen Kräfte mit Waffen ausstattet wurden, die in diesen Ländern wüten. Das heißt dann, Demokratie exportieren. Jetzt werden aber die „Schleuser“ für die Flüchtlingswelle verantwortlich gemacht. Dabei gibt es die nur deshalb, weil die Menschen aus dem Elend wollen, den die NATO-Staaten mit der „Verbreitung von westlichen Werten“ verursacht haben.
Es ist bisher seitens der NATO und der EU absolut nichts unternommen worden, um die Kriege in diesen Ländern zu beenden – im Gegenteil, man setzt ausschließlich auf militärische Lösungen, also auf noch mehr Krieg. Dazu gehören auch die NATO-PartnerLänder, Saudi-Arabien, Katar, die terroristische Gruppen unterstützen und von der Bundesregierung mit waffen beliefert werden. Dazu gehört auch die Türkei, die Bombenangriffe auf Syrien und die kurdischen Gebiete durchführt, und trotzdem weiterhin von der Bundesregierung unterstützt wird. Stopp der Rüstungsexporte in diese Länder!
Die deutsche Außenpolitik hat sich an dieser Regime-Change-Politik in Syrien von Anfang an beteiligt, ohne die menschlichen Konsequenzen zu bedenken. Und die deutsche Außenpolitik setzt immer offener auf Krieg, militärische Absicherung von Wirtschaftsinteressen. Ganz offen wirbt zum Beispiel die Bundeswehr mit Flugblättern, an einem Stand eines Kite-Surfing-Weltmeisterschaften an der Nordsee: FLYER „Unser Wohlstand“
Das betrifft übrigens auch die Ukraine. Hunderttausende Ukrainer haben seit dem vom Westen unterstützten Putsch in Kiew ihr Land verlassen, sei es aus Angst vor den immer mehr anschwellenden Konflikten, wegen der Einberufung zur Armee, auf der Flucht vor Bomben und Granaten oder wegen der Zerstörung ihrer Häuser.
Die Bundeswehr beteiligt sich an den größten Militärmanövern seit Ende des Kalten Krieges in Osteuropa, darunter der Ukraine. Landstreitkräfteübung »Rapid Trident« in der Westukraine und an dem Marinemanöver »Sea Breeze« im Schwarzen Meer. Eine reine Provokation für Rußland, die den Ukraine-Krieg verschärft und nicht zu einer politischen Lösung beitragen wird.
Zusätzliche 20 Millionen Euro sollen in diesem Jahr in Manöver fließen. Grund für die Aufstockung der Mittel von 70 auf etwa 90 Millionen Euro seien die Nato-Übungen im östlichen Bündnisgebiet. 154.000 Soldaten nehmen in diesem Jahr für die Bundeswehr an internationalen Truppenübungen teil. Das sind mehr als doppelt so viele wie 2013. Damals waren es etwa 73.000 Soldaten.
Dabei geht es nicht nur ums Training an der Waffe. Vielmehr soll mit den Manövern auch ein Zeichen an Russland gesendet werden: In Polen und den baltischen Staaten nehmen 4400 Bundeswehr-Soldaten an 16 Manövern teil. So soll den an Russland grenzenden Nato-Partner der Rücken gestärkt werden.
Auch der Rüstungsetat, einer der höchsten in der Geschichte der Bundesrepublik, wird nochmal um 8 Milliarden Euro für die kommenden Jahre aufgestockt.
Die Massenflucht beenden heißt nicht, Flüchtlinge und Fluchthelfer bekämpfen, sondern dass Kriege endlich gestoppt werden, dass ernsthaft politische Lösungen gefunden werden. Der Rüstungsetat muss nicht aufgestockt, sondern radikal gestrichen werden, für soziale Entwicklung, für die Unterstützung von Flüchtlingen, für ein bundesweites Wohnungsprogramm für alle.
Übergriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterstützer:
Während wir in Lesbos sind, sehen wir Nachrichten über Flüchtlingsproteste in Deutschland, z.B. in Mannheim fehlt ausreichend Wasser, in Berlin lagern hunderte bei Hitze vor den Einrichtungen, und das in einem der reichsten Länder der Erde! Welch eine Schande! Die Kapazitäten werden bewußt knapp gehalten, das Signal nach wie vor ist: bleibt weg! Wir brauchen endlich eine ausreichende, menschenwürdige Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge, die zeigt: ihr seid willkommen!
Horst Seehofer bereits 2011: „bis zur letzten Patrone“ dagegen wehren, dass „wir eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme bekommen“.
Die Riege von Politikern, die einerseits rechte Übergriffe beklagen aber gleichzeitig nicht müde werden täglich zu betonen, es können nicht alle hier Platz finden, wird immer länger, angefangen von der Kanzlerin, Sigmar Gabriel, Innenminister De Maiziere, aber auch der Grüne MP Winfried Kretschmann, der bereits den „sicheren“ Herkunftsländern zugestimmt hat, und auch in Tübingen der grüne OB Boris Palmer.
Gleichzeitig werden auch die Ideen und Vorschläge, wie man Flüchtlinge schneller los wird oder abhalten kann nach Deutschland zu kommen immer kreativer, große Auffangzentren in Griechenland und Italien, schnelle Abschiebung der sog. Westbalkanflüchtlinge, Kürzung des Taschengeldes, Sachleistungen statt Geld, Geld für die Rückkehr. Stattdessen brauchen wir aber mehr Vorschläge und mehr Geld für die menschenwürdige Unterbringung, Versorgung und Integration von Flüchtlingen!
Es gibt überall Menschen, die sich engagieren, auch auf Lesbos haben wir griechische Initiativen kennengelernt, die solidarisch sind mit Flüchtlingen. Es gibt sie in jedem Land, auch bei uns, viele, lasst uns zusammenschließen, in Europa, vernetzen und gemeinsam kämpfen für ein menschliches Europa!
Die Rede von Jürgen Wagner von der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI):
Liebe Freundinnen und Freunde,
für uns als Friedens- und Antikriegsbewegung ist die Sache klar: wir lehnen jede Form von Rüstungsexporten kategorisch ab!
Und wir sind damit nicht allein! Umfragen zufolge befürworten 82 Prozent der deutschen Bevölkerung ein Verbot oder zumindest eine drastische Einschränkung der Rüstungsexporte!
Wir sollten uns allerdings keinen Illusionen hingeben, dass wir in dieser Frage allzu viele Verbündete in der Politik hätten. Und das gilt auch für Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, obwohl ihm fälschlicherweise vorgeworfen wird, er betätige sich als Totengräber der deutschen Rüstungsindustrie.
Dass das Unfug ist, zeigten schon die kürzlichen Meldungen, denen zufolge die Exportgenehmigungen von Januar bis Juni 2015mit 6,35 Mrd. Euro bereits fast den Gesamtwert von 2014 erreicht haben!
Liebe Freundinnen und Freunde,
die Wahrheit ist: Deutschland exportiert weiter Waffen auf Teufel komm raus!
Wer Gabriels rüstungspolitische Grundsatzrede vom 8. Oktober 2014 genau verfolgt hatte, dem war ohnehin klar, dass an dem Gejammer der Rüstungsindustrie, der Wirtschaftsminister wolle ihr an den Kragen, absolut nichts dran ist.
Darin erteilte Gabriel nicht einmal Waffenlieferungen in Krisengebiete eine Absage, die Unterstützung der Peschmerga befürwortete er zB ausdrücklich:
„Aber zugleich müssen wir – und das ebenfalls mit großer Klarheit – feststellen, dass es natürlich legitime sicherheits- und bündnispolitische Interessen gibt, welche die Lieferung von Rüstungsgütern und Kriegswaffen rechtfertigen können. […] Deutschland und seine Partner haben ein eigenes Interesse daran, Piraterie, Terrorismus und Proliferation von Waffen, wie sie im Nahen und Mittleren Osten auftreten, einzudämmen. […] Die Lieferungen an die Kurden im Norden des Irak, die der Abwehr einer fanatisch-grausamen Terrorbewegung wie dem so genannten ‚Islamischen Staat‘ dienen, sind weder ein Tabubruch und noch gar ein Widerspruch zu unseren Werten und Rechtsregeln.“
Liebe Freundinnen und Freunde,
so redet niemand, der ernsthaft an einer Begrenzung der Rüstungsexporte interessiert ist.
Generell kündigte Gabriel sogar eine Initiative zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Rüstungsindustrie an – also zur Unterstützung ihrer Exporttätigkeit. Diese Überlegungen wurden nun auch eins zu eins in das „Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der Verteidigungsindustrie in Deutschland“ vom 8. Juli 2015 übernommen.
Ein wesentliches Element in Gabriels Grundsatzrede und im nachfolgenden Strategiepapier ist das Ziel, die deutsche Rüstungsindustrie durch Fusionen wettbewerbs- also exportfähiger zu machen.
Einen ersten Vorgeschmack dafür haben wir bereits bekommen: Aktuell deutet alles darauf hin, dass Gabriel sein OK für den Zusammenschluss des deutschen Panzerbauers Kraus Maffai-Wegmann mit der französischen Nexter geben wird.
Damit will man sich gegen die Konkurrenten General Dynamics und BAE Systems „besser“ in Stellung bringen. Und gleichzeitig hätte die Fusion den „Vorteil“, dass hierdurch künftig die noch laxeren französischen Exportrichtlinien beim Export von Kampfpanzern zur Anwendung kommen.
Liebe Freundinnen und Freunde,
Fakt ist: Weder Gabriel noch irgendein anderer führender deutscher Politiker hat die Absicht, die Rüstungsexporte einzuschränken– im Gegenteil. Weshalb ist dies der Fall?
Eine erste, relativ einfache Antwort lautet: Weil es sonst keine deutsche Rüstungsindustrie gäbe – ohne Exporte wäre sie schlicht nicht überlebensfähig. Solange es also eine deutsche Rüstungsindustrie gibt, solange wird es auch deutsche Rüstungsexporte geben.
In den Worten von Claus Günther, BDI-Vorsitzender Ausschusses Sicherheit: „Wir brauchen Exporte, denn allein durch die dünne nationale Auftragsdecke wird die deutsche Rüstungsindustrie nicht überlebensfähig sein.“
Die Politik sieht das genauso, wenn etwa CDU-Rüstungsexperte Henning Otte angibt: „Deutschland als souveräner Staat muss in der Lage sein, seine Soldaten in Kernbereichen mit Waffen aus eigener Produktion auszustatten, um nicht auf zweitklassiges Material vom Weltmarkt angewiesen zu sein. Damit diese Schlüsselindustrien lebensfähig sind, müssen sie auch exportieren können.“
Doch weshalb hat die Politik ein solches Interesse an dem Überleben der Rüstungsindustrie?
Hier kursieren drei Antworten:
Erstens: Wegen der vielen Arbeitsplätze: Das ist Quatsch!
In der Rüstungsindustrie sind gerade einmal 98.000 Menschen beschäftigt, im Kernbereich sogar nur 17.000. Selbst die höhere Zahl bedeutet über den Daumen gepeilt lediglich einen Anteil von 0,24 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland.
Zweitens wegen ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung: Noch größerer Humbug!
Die Rüstungsindustrie steuert etwa 1 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei. Das ist überschaubar. Zum Vergleich: Allein die Autoindustrie kommt auf 7 Prozent.
Eine Konversion, also die Umstellung der Rüstungsproduktion auf die Herstellung ziviler Güter, wäre also möglich – es fehlt dazu aber der politische Wille.
Und das hat mit der dritten und entscheidenden Antwort zu tun, weshalb die Rüstungsindustrie und ihre Exporte gestärkt werden sollen:
Eine eigenständige Rüstungsindustrie gilt als unerlässlicher Machtfaktor eines erstrangigen weltpolitischen Akteurs. Die Gleichung ist also simpel: Ohne Rüstungsexporte, keine deutsche Rüstungsindustrie. Ohne deutsche Rüstungsindustrie, keine eigenständige deutsche Militärpolitik. Ohne eigenständige deutsche Militärpolitik, keine deutsche Großmachtpolitik!
Rüstungsexporte sind also das zwingende Ergebnis deutscher Großmachtambitionen. Deshalb halte ich es für zentral, dass wir neben der moralischen Verwerflichkeit von Rüstungsexporten auch diese strategisch-machtpolitische Funktion der Waffenausfuhren stärker in den Fokus der Kritik rücken!
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