Von unseren ReporterInnen – Stuttgart-Bad Cannstatt. GegnerInnen der Corona-Schutzmaßnahmen gingen am Samstag, 16. Mai, erneut in Stuttgart auf die Straße. Aufgerufen hatte die Initiative „Querdenken 711“ um den IT-Unternehmer Michael Ballweg. Etwa 5000 Impfgegner, Merkel-Kritiker, ernsthaft um ihre Grundrechte fürchtende Bürger, Esoteriker, Verschwörungstheoretiker, Rechtspopulisten, AfD-Parteigänger, handfeste Neonazis und Neugierige trafen sich wie in der Vorwoche auf dem Cannstatter Wasen. Mehr hatte die Stadt Stuttgart des Infektionsschutzes wegen nicht zugelassen. Etwa 2000 weitere Corona-Verordnungs-Gegner, aber auch GegendemonstrantInnen verfolgten das Geschehen von der angrenzenden Mercedesstraße aus. Am nächsten Samstag wird erneut gegen die Corona-Beschränkungen, aber auch gegen die Vereinnahmung der Corona-Demos von Rechts protestiert. In Stuttgart sind vier Kundgebungen angemeldet.
Vor und nach der Kundgebung am 16. Mai überschlugen sich die Ereignisse. In der Nacht zum Samstag brannten in Untertürkheim drei Fahrzeuge einer Firma, die auch schon bei einer „Demo für Alle“ von Bildungsplangegnern vor der baden-württembergischen Landtagswahl die Veranstaltungstechnik gestellt hatte. Am Samstag sollen Unbekannte vor der Kundgebung drei Männer auf dem Weg zum Wasen angegriffen haben. Zwei mussten ins Krankenhaus. Ein 54-Jähriger – nach Informationen der Stuttgarter Zeitung Daimler-Betriebsrat und Mitglied des „Zentrums Automobil“ – schwebe in Lebensgefahr, hieß es am Dienstag.
Michael Ballweg erklärte nach der Kundgebung der Corona-Verordnungs-Gegner seinen Rückzug als Organisator. Unabhängig davon wolle er weiterhin die im Vorfeld vom Verwaltungsgericht und vom Oberverwaltungsgericht bestätigten Demoauflagen vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen.
Corona-Demos werden fortgesetzt
Die Initiative „Querdenken 711“ meldete dennoch für Samstag, 22. Mai, 15.30 Uhr, eine weitere dreistündige Kundgebung auf dem Cannstatter Wasen an. Einer Sprecherin der Stadt Stuttgart zufolge wird erneut eine Teilnahmebeschränkung von 5000 Personen gelten. Der parteilose Stuttgarter Stadtrat und Landtagsabgeordnete Heinrich Fiechtner, früher AfD, hat für Samstag zu einer Kundgebung um 13 Uhr auf dem Stuttgarter Schlossplatz aufgerufen. Das Motto: „Wir stehen auf für unser Recht! Weg mit allen Beschränkungen“.
UPDATE, 20. Mai, 14 Uhr:
Die für den kommenden Samstag, 23. Mai, geplante Großdemonstration gegen die Coronavirus-Beschränkungen der Initiative „Querdenken 711“ findet nach Angaben der Stadt Stuttgart nun doch nicht statt. Die Versammlungsanmeldung sei von den Veranstaltern zurückgezogen worden, sagte eine Sprecherin am Mittwoch.
Die Stuttgarter Nachrichten meldeten, dass es nach Auskunft der Stadt am kommenden Samstag (15.30 Uhr) dennoch eine weitaus kleinere und privat organisierte Demonstration auf dem Cannstatter Wasen unter dem Titel „Wir stehen auf für unser Recht. Weg mit allen Beschränkungen“ stattfinden soll. Es seien rund 500 Teilnehmer angemeldet.
Der Initiator dieser „privat organisierten Demonstration“ ist der rechtsradikale Ex-AfDler Heinrich Fiechtner. Er will vom Stuttgarter Schlossplatz zum Cannstatter Wasen marschieren.
Linke GegendemonstrantInnen warnen vor einer Vereinnahmung der Proteste gegen die Corona-Verordnung durch Rechtspopulisten und Neonazis. Sie haben eine Gegenkundgebung am Samstag um 14.30 Uhr ebenfalls auf dem Wasen angemeldet. Der Deutsche Gewerkschaftsbund ruft nach Angaben des SWR ebenfalls am Samstag zum „Tag des Grundgesetzes“ zu einer Kundgebung mit 200 Personen auf dem Karlsplatz auf. Für den frühen Sonntagnachmittag kündigt die AfD eine Veranstaltung mit ihrer Bundesvorsitzenden Alice Weidel in der Stuttgarter Innenstadt an.
Drei Fahrzeuge brannten
Das Feuer auf dem Gelände der Veranstaltungstechnik-Firma VTS in der Augsburger Straße wurde gegen 2.35 Uhr von Anwohnern gemeldet. Als die Polizei eintraf, standen eine Zugmaschine mit Auflieger, ein weiterer Lastwagen (7,49 Tonnen) und ein Lautsprecherwagen „in Vollbrand“, heißt es im Polizeibericht. Die Feuerwehr konnte den Brand löschen. Verletzt wurde niemand.
Die Polizei spricht von „mutmaßlicher Brandstiftung“ und „mehreren zehntausend Euro“ Sachschaden. Bei der Kundgebung auf dem Wasen wurde über Mikrofon ein nicht versicherter Schaden von 200 000 Euro beklagt. Spendensammler liefen mit Büchsen über das Gelände und sammelten Geld.
Lebensgefährliche Verletzungen
Der Vorfall am Samstag gegen 14 Uhr in der Mercedesstraße hat der Polizei zufolge schwerwiegende Folgen. Unbekannte griffen demnach drei Männer im Alter von 38, 45 und 54 Jahren auf dem Weg zur Kundgebung auf dem Wasen an. Nach Zeugenaussagen seien es zwischen zehn und 40 Angreifer gewesen – eine beträchtliche Bandbreite. Die Täter seien schwarz gekleidet und „offenbar maskiert gewesen“, hätten die Männer mit Faustschlägen und Tritten traktiert und verletzt am Boden zurückgelassen. Der 45-Jährige erlitt nach Polizeiangaben leichte Verletzungen. Der 38-Jährige und der 54-Jährige wurden ins Krankenhaus gebracht. Derzeit schwebe der 54-Jährige in Lebensgefahr, hieß es am Dienstag.
Die Polizei habe eine größere Ermittlungsgruppe unter Einbeziehung von Spezialisten des Staatsschutzes eingerichtet. Ein politischer Hintergrund für die Tat könne nicht ausgeschlossen werden. Die Kriminalpolizei ermittle in alle Richtungen. In der Nähe des Tatorts seien unter anderem zwei Schlagringe gefunden worden. Die Staatsanwaltschaft ermittle wegen des Verdachts eines versuchten Tötungsdelikts.
Feierlaune in Cannstatt
Auf dem Wasen selbst war die Stimmung am Samstag bei bestem Frühlingswetter unter der prallen Sonne eher entspannt. Am Eingang erhielten die KundgebungsteilnehmerInnen ein Flugblatt von Querdenken 711, aber auch schon mal Tipps zur angeblich heilenden Wirkung von Edelsteinen. Mit gebührendem Abstand zu den Coronaregel-Gegnern verteilten AntifaschistInnen Flyer mit Hintergrundinformationen zur politischen Einordnung der Demonstrationen, einen „Fakten-Check Corona“ mit Aufruf zur „Solidarität in den Zeiten der Pandemie“. Eine Polizeireiterstaffel hielt sich im Hintergrund. Während die Massen in Richtung Bühne strömten, wurden die Demoauflagen verlesen, und es wurde vor „bezahlten Provokateuren“ gewarnt. Wer einem solchen begegne, solle ihn gewaltfrei festhalten, so die Bitte. Überhaupt sei man eine friedliche Bewegung und greife daher weder Medienschaffende noch Polizisten an.
500 Ordner mussten den Auflagen zufolge eingesetzt werden. Nicht alle trugen den für sie vorgeschriebenen Mund-Nasen-Schutz. Die Menschen gruppierten sich weitläufig auf dem Kundgebungs-Areal. Die meisten hielten sich an den vorgeschriebenen Zwei-Meter-Abstand. Manche hatten Klappsessel oder Liegestühle mitgebracht. Andere gruppierten sich auf ausgelegten Decken – wohl um ihre Zugehörigkeit zum selben Haushalt zu demonstrieren. „Sei kein Trump“ und „Corona ist kein Fake“, war auf vereinzelten kritischen Plakaten am Rande zu lesen.
Von der Deutschlandfahne bis zur Reichskriegsflagge
Doch es überwog eine merkwürdige Mischung aus überwiegend deutschen und vereinzelt ausländischen Fahnen, wobei der Frontmann einer Band sich als einziger an einer gezeigten Reichskriegsflagge störte. Die mitgebrachten Plakate reichten von „Merkel muss weg“ über Angriffe auf Bill Gates bis zur eindringlichen Warnung davor, sich bloß nicht impfen zu lassen. Auch Aluhüte waren vereinzelt zu sehen, ebenso ein Schild „Nein zur Zwangsimpfung, ja zu Marihuana“. Auffällig waren die zahlreichen Plakate und Transparente der Partei „Widerstand 2020“, die zur Bundestagswahl 2021 antreten will und für die kräftig die Werbetrommel gerührt wurde.
„Achtung, Achtung, in Stuttgart ist das Freiheitsvirus ausgebrochen“, ging die Kundgebungseröffnung in frenetischem Jubel unter. Ebenso sei es in München, Darmstadt, Hamburg und Ulm. Es folgte Kritik an den Demoauflagen und die schon gewohnte Medienschelte. Die Initiative „Querdenken 711“, die sich gern aufs Grundgesetz beruft, hat offenbar Probleme mit der Pressefreiheit. Schon im Vorfeld hatte sie versucht, die versammelten JournalistInnen mit ihrer Unterschrift unter eine obskure Erklärung auf wohlwollende Berichterstattung zu verpflichten.
Für und gegen den Verfassungsschutz
Nun bedankte man sich zynisch bei ihnen: „Ihr hab mit eurer diffamierenden Berichterstattung offen gezeigt, wie die Massenmedien funktionieren.“ Man bitte die Medien, „ab jetzt wahrheitsgemäß, unparteiisch und vollständig zu berichten.“ Sonst passiere, „was unausweichlich ist – Ihr werdet nicht mehr gebraucht“, hieß es unter dem Johlen der Menge.
Wegen der Corona-Schutzmaßnahmen und ihrer öffentlichen Warnung, der Protest werde zunehmend von rechtsgerichteten Kräften unterwandert, standen jedoch auch die Bundes- und die Landesregierung im Visier von Querdenken 711. Der Redner rief den Verfassungsschutz, der allerdings die gleiche Warnung ausgesprochen hat, dazu auf, die Regierungen zu beobachten.
Es herrscht Partystimmung
Es wurden mehrere Video-Beiträge eingespielt, zunächst – verbunden mit einem Spendenaufruf – vom Löscheinsatz der Feuerwehr auf dem Gelände der Tontechnikfirma in der Nacht zuvor, dann von Wolfgang Wordarg. Der Arzt und frühere SPD-Bundestagsabgeordnete hält die Corona-Pandemie für harmlos, die Schutzmaßnahmen hingegen für einen „riesengroßen Blödsinn“. Der „Lockdown“ müsse sofort aufhören. Es werde sehr viel aufzuarbeiten geben, „wenn dieser Wahnsinn zu Ende ist“.
- Neonazistische Symbolik …
- … und klare Botschaft
Mahnwache am Cannstatter Carré
GegnerInnen des weiterhin stark von Rechts unterwanderten Protests hatten am Samstag keine Gegenkundgebung auf dem Wasen angemeldet, sondern beschränkten sich darauf, Infomaterial zu verteilen. Im Vorfeld gab es jedoch eine Mahnwache am Cannstatter Carré. Anmelder war – weitgehend auf eigene Faust – ein Bezirksbeirat der „Fraktion“ im Gemeinderat. Das Medieninteresse war beträchtlich, nicht jedoch die Resonanz auf den kaum verbreiteten Kundgebungsaufruf. Auch ein Anti-Konflikt-Team der Polizei war vor Ort.
Es gab weder Plakate noch Transparente. Doch es wurden einige Parolen mit Kreide auf den Boden gemalt – etwa „Flüge limitieren, Verkehrswende jetzt!“, „S 21 Baustopp sofort“, „Verschwörungstheorien – so ein Quatsch“ oder „Rettungsschirm für Menschen, nicht Konzerne“.
Der Anmelder sprach schließlich einige erklärende Worte. Auf dem Wasen träfen sich Verschwörungstheoretiker, verbreiteten Mythen und rechte Hetze. Theorien seien wissenschaftlich verifizierbar, Mythen hingegen nicht, warnte er davor, Rattenfängern auf den Leim zu gehen.
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