Von Sahra Barkini – Stuttgart. Cannstatt war am Samstag, 9. Mai, fest in Demonstrantenhand. Die einen versammelten sich auf dem Wasen, die anderen am Kursaal. Auf dem Wasen hatte die Querdenken711-Initiative wieder zu einer Demonstration „Für das Grundgesetz“ aufgerufen. Es kamen laut Veranstalter 20 000 Menschen (von der Stadt genehmigt waren 10 000), um unter anderem Ken Jebsen als Verschwörungsguru zu lauschen. Für Samstag, 16. Mai, hat der Initiator Michael Ballweg bei der Stadt Stuttgart erneut eine Kundgebung angemeldet – dieses Mal mit 50 000 TeilnehmerInnen, wobei ursprünglich von 500 000 die Rede war. Die Stadt erließ Auflagen, gegen die eine Klage angekündigt wurde. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat einen Eilantrag gegen Auflagen für die morgige Demonstration gegen Corona-Regeln abgelehnt. Um 14.30 Uhr soll am Cannstatter Carre eine von der Stadt bestätigte „kreative Schweigemahnwache“ unter dem Motto „Nein zu Verschwörungsmythen und rechter Hetze!“ stattfinden.
Für den selben Tag hat die AfD in Sindelfingen eine Demonstration angekündigt. Bei der um 15.30 Uhr auf dem Cannstatter Wasen beginnenden „8. Mahnwache für das Grundgesetz“ sind höchstens 5000 TeilnehmerInnen zugelassen, heißt es in dem am Freitag bekannt gewordenen Auflagenbescheid. Je zehn Teilnehmer ist ein Ordner mit Mund-Nasen-Bedeckung zu stellen, insgesamt sind es also 500.
Sie sollen sicherstellen, dass das Abstandsgebot von mindestens 2,5 Metern auf einer ausreichend großen Fläche auf dem Wasen eingehalten wird. Überdies müssen die Veranstalter die Teilnehmenden mehrfach über Lautsprecher und Mikrofon darauf hinweisen, dass das Abstandsgebot auch bei der Abreise eingehalten werden muss und dass in Bussen und Bahnen und auf Bahnhöfen Maskenpflicht gilt.
AfD-Funktionäre und ein „Volkslehrer“
Ausschlaggebend für diese Auflagen dürften die Erfahrungen vom 9. Mai gewesen sein, als vor allem die Maskenpflicht im ÖPNV von vielen Demo-TeilnehmerInnen nicht eingehalten wurde. Zu den Anwesenden bei der Kundgebung gehörten auch der wegen Volksverhetzung verurteilte Nikolai Nerling („der Volkslehrer“), Stefan Räpple, Christina Baum und Hans Peter Stauch von der AfD, Marina Djonovic (NPD und RNF-Funktionärin) und weitere Personen aus dem rechten und rechtsextremen Spektrum, die auch als Ordner eingesetzt waren.
Stefan Räpple wurde im März 2020 wegen parteischädigenden Verhalten aus der AfD ausgeschlossen. Er stand mit Deutschlandfahne und einem Schild mit der Aufschrift „Die Regierung verarscht uns alle“ mitten auf der Kundgebungsfläche. Neben ihm standen die AfD-Landtagsabgeordneten Christina Baum mit einem Schild „Freiheit statt Willkür“ und Hans Peter Stauch. Der als „Volkslehrer“ bekannte Nikolai Nerling gilt als rechtsextremer und antisemitischer Videoblogger. Er wurde im März 2018 fristlos aus dem Dienst einer Berliner Grundschule entlassen und im Dezember 2019 zu einer Geldstrafe wegen Volksverhetzung verurteilt.
Fotos: Emma und Fritz
Im Shirt des „Nationalen Widerstands“
Marina Djonovic, Funktionärin der NPD und des Rings Nationaler Frauen RNF trug ein Shirt mit der Aufschrift „Freiheit für Ursula Haverkamp„. Haverkamp ist eine mehrfach – auch zu Gefängnisstrafen – verurteilte Holocaustleugnerin. Sie war 2019 Spitzenkandidatin der Partei Die Rechte zur Europawahl. Diese Partei sorgte mit ihren rechtsradikalen, manche sprachen von rechtsextremistischen, Wahlplakaten und Slogans für Aufsehen („Wir hängen nicht nur Plakate“ und „Israel ist unser Unglück“).
Es waren auch Männer mit T-Shirts des neonazistischen „Nationalen Widerstands“ zu sehen. Sie wurden teilweise als Ordner eingesetzt. Das Compact Magazin, das der Verfassungsschutz seit März als Verdachtsfall führt, hatte einen Infostand. Ungezählte Nazis tummelten sich unter den Demonstrantinnen und waren oft auch sehr eindeutig als solche zu erkennen. Einige Menschen trugen AfD-Shirts. Erneut anwesend waren der Gründer von „Widerstand2020“ Bodo Schiffmann und der Impfkritiker Hans Tolzin.
Man sah reihenweise Plakate von „Widerstand2020“ und viele mit Aufschriften wie „Gib Gates keine Chance“, „Corona ist ein Fake“, „Merkel muss weg“ oder „Gegen den Impfzwang“. Mehrere DemonstrantInnen trugen Deutschlandfahnen. Es gab Werbung für KenFM, und ein Plakat, das offenbar Corona mit dem Faschismus gleichsetzt: „Nie wieder Corona Faschismus“.
Klare Kante gegen Rechts
Am Cannstatter Kursaal versammelten sich am Samstagnachmittag etwa 250 GewerkschafterInnen und AntifaschistInnen unter dem Motto „Solidarität. Freiheitsrechte. Klare Kante gegen Rechts“. Aufgerufen hatte ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA, dem Stuttgarter Kreisverband der Linken, Fridays for Future Stuttgart, dem Württembergischen Kunstverein Stuttgart und Antifaschistischen Initiativen.
Die InitatorInnen betonten, diese Kundgebung sei kein Protest gegen das Geschehen auf dem Wasen. Aber es dürfe nicht außer Acht gelassen werden, was dort passiere. Redebeiträge kamen von einem Aktivisten des Antifaschistischen Aktionsbündnissses Stuttgart und Region AABS, von Hanna Binder von Verdi, Joe Bauer und dem Flüchtlingsaktivisten Rex Osa (Refugees4Refugees). Für die musikalische Umrahmung sorgte Stefan Hiss.
Durch die Kundgebung führten zwei Aktivistinnen der Initiative „Solidarität und Freiheitsrechte“. Ihnen war es wichtig zu betonen, dass sie keine weitere Spaltung der Gesellschaft wollen und kein Kaputtsparen wichtiger Infrastrukturen und sozialer Einrichtungen. Sie betonten: „Nur weil wir gegen die platte und rechtsoffene Veranstaltung auf dem Wasen protestieren, verteidigen wir damit nicht die Politik der Bundesregierung.“ Kritik daran gebe es genug, so die Rednerinnen. Deshalb sei diese Initiative gestartet worden. Sie umfasse drei Bereiche: Solidarität, Freiheitsrechte und „Klare Kante gegen Rechts“.
„Keine Querfront“
„Wenn wir von Freiheit reden, meinen wir die Freiheit aller Menschen und nicht nur bis zur eigenen Nasenspitze“, sagte eine der Rednerinnen. Es sei nahezu unerträglich, dass 240 000 deutsche UrlauberInnen zurück geholt wurden, es aber nicht möglich oder politisch gewollt sei, ein Flüchtlingslager wie Moria zu evakuieren.
Bei aller Kritik an den herrschenden Verhältnissen und an der Politik der Bundesregierung werde man niemals gemeinsam mit Rechten und Verschwörungstheoretikern auf die Straße gehen. „Keine Querfront – nicht gestern – nicht heute – nicht morgen“, so die Rednerin. „Es ist großartig, dass ihr heut alle hier seid und wir gemeinsam ein Zeichen setzen gegen einfache Krisenlösungen von rechts, gegen autoritäre Politik, antisemitische Verschwörungstheorien und sonstigen schwurbeligen Schwachsinn“, schloss sie ihren Beitrag.
„Keine klare Abgrenzung gegen Rechts“
„Wir wollen nicht alle dort als Nazis abstempeln“, sagte der Redner des AABS (Antifaschistischen Aktionsbündnisses). Aber die „Grundrechtedemos“ seien von Rechten und VerschwörungstheoretikerInnen unterlaufen. Der Initiator der Demonstrationen, der Waiblingen IT-Unternehmer Michael Ballweg, distanziere sich nicht klar genug von Rechts. Er dulde unter dem fadenscheinigen Argument der Meinungsfreiheit rechte Hetze auf seinen Kundgebungen.
Es gebe aber einen „nicht unbedeutenden Teil unter den Demonstrierenden, die nicht rechts oder gar Faschisten sind“. Es sei oft die Angst vor der Zukunft, die die Menschen auf die Straße treibt, die fehlende soziale und ökonomische Sicherheit, die eine Panik erzeugt. „Es sind die Unsicherheiten auf der Arbeit, die dafür sorgen, dass sich die Menschen Gedanken über die politische und gesellschaftliche Zukunft machen“, so der Redner weiter: „Das müssen wir berücksichtigen.“ Dennoch gebe es eine Tendenz, die klar zu erkennen ist: „Früher oder später wird es auf dem Cannstatter Wasen nicht bei leeren Phrasen und der Forderung nach Grundrechten bleiben. Die Rechten haben bereits einen Fuß in der Tür – schon heute sind mehrere Redner aus dem klar rechten, antisemitischen und verschwörungstheoretischen Spektrum aufgelistet.“
Die Rechnung für die Krise
Hanna Binder von Verdi kritisierte die Geringschätzung von Beschäftigten im Einzelhandel und in der Pflege. Die Arbeitszeitaushöhlung gehe zu Lasten der Gesundheit der Beschäftigten. Sie seien es, die den „Laden am Laufen“ halten. Applaus sei zwar gut, aber eine Prämie sei besser. Binder fürchtet, dass in einigen Monaten die Rechnung für die Krise kommt. Dann drohe in der öffentlichen Daseinsvorsorge eine neue Sparorgie. Und diejenigen, die jetzt in Sonntagsreden die Bedeutung systemrelevanter Beschäftigter betonen, werden sagen „sorry, aber jetzt ist wirklich kein Geld da, befürchtet sie.
Die Krise habe bewiesen, wessen Arbeit existenziell für die Gesellschaft ist. „Das dürfen wir nicht wieder vergessen! Alle, die uns durch diese schwere Corona Zeit bringen, müssen dauerhaft besser gestellt werden“, forderte Binder. Zum Abschluss sagte sie: „Gewerkschafter waren und sind immer ein Bollwerk gegen den Faschismus. Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus.“
Faschisten greifen offene Lebensart an
Joe Bauer sprach über die Kunst- und Kulturszene, die von der Corona-Krise sehr gebeutelt ist. Er sagte: „Der Kunst- und Kulturbetrieb sind unverzichtbar für ein humanes Klima und die Aufklärung in einer halbwegs demokratischen Gesellschaft“. Gute Bühnen seien immer international und antirassistisch, dem Menschsein verpflichte. Das sei der Grund, warum „heute wie damals die Faschisten ihren hinterlistigen Kulturkampf führen. Sie wollen die offene Lebensart zersetzen und zerstören“.
Bauer zufolge zeigt Corona, wie schnell die prekären Bedingungen Kulturschaffende an dem existenziellen Abgrund treiben. Deshalb müsse man sich in Zukunft dafür einsetzen, dass die Bedingungen für kulturelle Arbeit besser und würdiger werden als vor der Krise. Weil viele Künstler momentan nicht einmal mehr das Geld hätten, sich im Supermarkt Lebensmittel zu kaufen, gründete Bauer mit Freunden die Künstlersoforthilfe.
„Männer mit Hitlergruß“
Rex Osa berichtete von seinen Beobachtungen in Cannstatt. Er sei auf dem Weg zum Kursaal vielen Menschen mit teils komischen Transparenten begegnet, und es seien ihm Männer begegnet, die den Hitlergruß machten. Für ihn zeige das, in welcher Gesellschaft wir leben.
Doch auch, wenn bei der Kundgebung am Kursaal weniger Menschen versammelt seien als am Wasen, „sind wir stärker“, sagte Osa. Denn die Menschen auf dem Wasen hätten keine politische Richtung, es seien nur Mitmacher. Jetzt während der Pandemie zeige sich sehr deutlich, dass Geflüchtete für den Staat nur Menschen zweiter Klasse seien. Sie müssten aber Teil der Gesellschaft werden, und alle müssten zusammen stehen.
Von Mindestabstand keine Rede
Während bei dieser durch ein breites Bündnis getragenen Kundgebung sowohl Abstände eingehalten als auch auf Mund-Nasen-Schutz (MNS) geachtet wurde, zeigte sich am Cannstatter Wasen ein ganz anderes Bild.
Der Veranstalter Ballweg hatte ursprünglich bei der Stadt eine Kundgebung mit 50 000 TeilnehmerInnen angemeldet. Die Stadt Stuttgart begrenzte die Anzahl der Teilnehmenden auf 10 000 und setzte fest, dass ein Mindestabstand von 1,5 Metern eingehalten werden muss. Dies nannte die Stadtverwaltung „strenge Richtlinien“. Es wurde allerdings weder die begrenzte TeilnehmerInnentzahl eingehalten, noch wurden es die Abstände. Der Veranstalter spricht zwischenzeitlich von 20 000 TeilnehmerInnen.
Als der neurechte Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen für etwa zwei Minuten die Bühne betrat, bekam man den Eindruck, ein Popstar stehe auf der Bühne. Die Menschenmenge stand dicht gedrängt, die erforderlichen Abstände – Fehlanzeige. Seine eigentliche Rede hielt Jebsen dann allerdings versteckt hinter der Bühne, abgeschirmt mit einer Decke, da er „auf Augenhöhe“ zu den Menschen sprechen wollte. Und weil er so ein Menschenfreund ist, verschwand er im Anschluss an seine Rede schnell und gut versteckt unter einer Decke.
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Weitere Bilder von der rechtsoffenen Kundgebung auf dem Wasen
Weitere Bilder von der Kundgebung „Solidarität. Freiheitsrechte. Klare Kante gegen Rechts“
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