Von Sahra Barkini und Alfred Denzinger – Stuttgart-Bad Cannstatt/Welzheim. Am Abend des 9. November versammelten sich auch in diesem Jahr viele Menschen in Cannstatt und Welzheim, um der Opfer der Pogromnacht von 1938 zu gedenken. Wegen der Pandemie wurde die Kundgebung in Cannstatt – wie bereits im letzten Jahr – auf den Marktplatz abgehalten. Es beteiligten sich über 300 Menschen an der Veranstaltung. In Welzheim waren rund 100 TeilnehmerInnen bei der Kundgebung auf dem Hermann-Schlotterbeck-Platz.
Das Gedenken in Cannstatt wird seit 2010 jedes Jahr von einem Kreis an Organisationen und Einzelpersonen organisiert. Nach einer Reihe von Reden zogen die TeilnehmerInnen zum Platz der ehemaligen Synagoge in der König-Karl-Straße, um in einer Schweigeminute der Opfer zu gedenken. Im Anschluss wurden Kränze und rote Nelken niedergelegt. Danach gab es eine Veranstaltung über „Antisemitismus – Von der Ausgrenzung zum Völkermord“.
Der Freie Chor Stuttgart unterstützte die Kundgebung mit antifaschistischen Liedern. Redebeiträge kamen von Julia Friedrich (Geschäftsführerin DGB Baden-Württemberg), dem AABS (Antifaschistisches Aktionsbündnis Stuttgart & Region) sowie von Ulrich Schneider (Historiker, Bundessprecher der VVN-BdA und Generalsekretär der internationalen Föderation der Widerstandskämpfer).
„Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“
Die grüne Jugend, Jusos, Didf Jugend, SDAJ und die Linksjugend Solid beteiligten sich an der Kundgebung mit einem gemeinsamen Redebeitrag. „Das Bekenntnis „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ nahmen manche Akteure weniger ernst als andere. So dauerte es nur 46 Jahre, bis mit dem Jugoslawien-Krieg wieder in Europa ein Krieg ausbrach – wieder mit massiver deutscher Beteiligung und wieder im Interesse des westlichen Monopolkapitals.
Von den Münchner Oktoberfestanschlägen über rechte Strukturen im Staatsapparat hin zu Halle und Hanau ziehe sich die fehlende Entnazifizierung durch die Bundesrepublik Deutschland, so die Rednerin. „Wir sind heute hier um zu gedenken, aber auch zu ermahnen. Wir möchten an den Schwur von Buchenwald erinnern, an den Losungen der Hinterbliebenen des Hitlerschen Faschismus festhalten und uns klar zu ihnen zu bekennen“. Und weiter: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“
Jugendorganisationen fordern parteiübergreifend
Ende der staatlichen Repression gegen antifaschistische Kräfte
Sie betonte, dass sich die Jugendorganisationen trotz politischer Differenzen dazu entschieden hätten, dieses Bekenntnis gemeinsam zu vollziehen. Denn „Antifaschismus darf nicht nur in der Theorie Konsens sein. Ihn gemeinsam zu leben und die historische Notwendigkeit der antifaschistischen Einheitsfront einzusehen, muss unsere Praxis lenken“. Außerdem sagte sie: „Wir fordern ein Ende der Repression gegen antifaschistische Kräfte durch die Bundesrepublik Deutschland, ihre Geheimdienste und ihren Staatsapparat. Wir fordern, dass von deutschem Boden Frieden ausgehen muss. Ein Ende des profitmotivierten Intervenierens. Wir fordern Politik im Interesse derer, die in Frieden leben wollen, anstelle von Politik im Interesse derer, die am Krieg verdienen. Wir fordern das Verbot aller faschistischen Organisationen, wie es nach Artikel 139 Grundgesetz passieren muss“.
Im Anschluss an die Kundgebung zog ein Demonstrationszug zur ehemaligen Synagoge.
Die gesamte Kundgebung ist hier dokumentiert: https://youtu.be/zDRFrQfAqnQ
Gedenken auch in Welzheim
Zur Kundgebung auf dem Welzheimer Hermann-Schlotterbeck-Platz rief das Offene Antifaschistische Treffen Rems-Murr (OAT R-M) in Zusammenarbeit mit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) und dem Bündnis Zusammen gegen Rechts (ZgR) zum vierten Mal in Folge auf. An der Veranstaltung, die musikalisch mit einer Gitarre durch einen antifaschistischen Kollegen begleitet wurde, beteiligten sich rund 100 Menschen.
Bereits in der Nacht davor hatten Unbekannte an der Landstraße von Welzheim Richtung Rudersberg ein Schild mit der Aufschrift „Henkerssteinbruch – Gedenkstätte für die Opfer des ehemaligen KZ Welzheim – nie wieder Faschismus!“ aufgestellt (wir berichteten).
KZ Welzheim: Eine „Station zur Hölle“
Der Vorsitzende des DGB-Ortsverbandes Fellbach, Dieter Keller, hielt für die VVN-BdA eine Gedenkrede. Er hob hervor, dass das KZ Welzheim eine „Station zur Hölle“ war, wie alle KZs in Württemberg. „Von hier gingen Tausende in die Vernichtungslager. Gleichzeitig aber war es selbst die Hölle, wie es Julius Schätzle, selbst Häftling und ehemaliger Landtagsabgeordneter der KPD, in seinem Buch ‚Stationen zur Hölle‘, beschreibt.“
Keller thematisierte die Hintergründe des KZ Welzheim und die des kommunistischen Widerstandskämpfers Hermann Schlotterbeck, nach dem der Platz vor dem ehemaligen KZ benannt ist. „Das langjährige Ringen, eine Straße oder diesen Platz nach Hermann Schlotterbeck zu benennen, sei „teilweise unbequem, aber notwendig gewesen“, so Bürgermeister Thomas Bernlöhr. Die Mauer des Schweigens, des Vergessens und Verdrängens musste durchbrochen werden. Eine Straße oder einen Platz nach einem kommunistischen Widerstandskämpfer zu benennen, das ging konservativen, reaktionären und antikommunistischen Kräften zu weit. „Die Stadt tat sich damit schwer“, führte Keller aus. Dass es nun aber letztendlich doch den Hermann-Schlotterbeck-Platz gibt, sei ein großartiger Erfolg. Er bedankte sich dafür sowohl beim Historischen Verein, dem Gemeinderat, bei Bürgermeister Bernlöhr und den Bürgerinnen und Bürgern, die dazu ihren Beitrag leisteten. Die vollständige Rede von Dieter Keller kann hier nachgelesen werden.
Würdevolle Erinnerungskultur
Der Redner des OAT R-M ging auf die Kontinuität von Antisemitismus in der heutigen Gesellschaft ein und wies explizit auf die starken antisemitischen Tendenzen in der verschwörungstheoretischen Querdenken-Strömung und auf faschistischen Terror hin. Die komplette Rede kann hier nachgelesen werden.
Ein weiterer Redebeitrag war von der Antifaschistischen Perspektive Rems-Murr/Ludwigsburg zu hören. Er befasste sich mit der Funktion des Antisemitismus als gesellschaftlichen Blitzableiters, der den Unmut der Bevölkerung über die Zumutungen des Kapitalismus auf JüdInnen ableitet. Auch diese Rede kann nachgelesen werden.
Im Anschluss an die Kundgebung formierten sich alle TeilnehmerInnen zu einer Spontandemonstration zur Friedhofsgedenkstätte, an der mit Blumen und einer Kerzenniederlegung der Opfer gedacht wurde. Mit Kerzen und einer Schweigeminute fand das Gedenken einen würdevollen Abschluss.
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