Von Walter Burkhardt – Schorndorf. In der Manufaktur in Schorndorf ist seit dem 7. Oktober die Ausstellung „Vergessene Geschichte“ über „50 Jahre Berufsverbote“ zu sehen. Bei der Eröffnung führte Michael Csaszkóczy mit Gesang und Gitarre in die Ausstellung ein. Er war auch für die musikalische Umrahmung mit kritischen Liedern zwischen den Redebeiträgen verantwortlich. Am 26. Oktober ist vor der Oper in Stuttgart eine Kundgebung mit der Forderung nach Wiedergutmachung geplant.
Michael Csaszkóczy, aktiver Antifaschist und engagiertes GEW-Mitglied, ist selbst Betroffener der Berufsverbotspraxis. Er ist als Lehrer der beste Beweis dafür, dass der Radikalenerlass aus dem Jahr 1972 nicht der Vergangenheit angehört. Csaszkóczy erhielt unter der damaligen CDU-Kultusministerin Annette Schawan in Baden-Württemberg 2004 Berufsverbot. Er gehört somit zu den jüngsten Berufsverbotsfällen. 2007 wurde das Berufsverbot gegen ihn vom Verwaltungsgerichtshof Mannheim aufgehoben.
Dieter Keller, Mitglied der DKP und des DGB-Kreisvorstandes und aktiv im Kampf gegen Berufsverbote, eröffnete im Namen des Vorbereitungsteams die Ausstellung und begrüßte die Anwesenden. Sein besonderer Dank galt den Mitveranstaltern der Ausstellung mit Rahmenprogramm, Michael Csaszkóczy für die musikalische Begleitung, den beiden Radikalenerlass-Betroffenen und Mitgliedern des Vorbereitungsteams Sigrid Altherr-König und Lothar Letsche, überdies Matthias Fuchs, dem Vorsitzenden des DGB-Kreisvorstandes Rems-Murr und Markus Rapp, Mitglied der GEW und des DGB-Kreisvorstandes, für ihre Grußworte. Cuno Brune-Hägele, Verdi-Geschäftsführer, musste wegen eines familiären Trauerfalls kurzfristig absagen.
In seiner Begrüßung ging Dieter Keller auf die umfangreiche Studie des Historischen Seminars Heidelberg (finanziert vom Wissenschaftsministerium) ein, die seit Mai dieses Jahres vorliegt. Das Ergebnis der Studie: Die Anwendung des „Radikalenerlasses“ war grundsätzlich unrecht. Dieser Studie zum Trotz sind „…die Berufsverbote nicht endgültig vom Tisch, weist die Feststellung der Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag hin. Zitat: … dass Verfassungsfeinde schneller aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden können“, so Dieter Keller. Und weiter: „Der Landtag von Brandenburg will einen Verfassungstreue-Check und eine Regelanfrage verabschieden. Andere Länder wollen nachziehen. Das gilt es von uns allen gemeinsam zu verhindern.“
„Wir fordern eine vollständige und sofortige Rehabilitierung, Entschuldigung und umfassende Entschädigung aller Betroffenen. Wir weisen jeden erneuten Angriff auf Demokraten mit Entschiedenheit zurück“, stellte Keller klar. In diesem Zusammenhang wies er auf eine Kundgebung am Mittwoch, 26. Oktober, ab 17 Uhr in Stuttgart vor der Oper hin. Bei dieser Kundgebung soll Druck auf die Landesregierung aufgebaut werden mit dem Ziel, die Forderungen der Berufsverbote-Betroffenen nach Wiedergutmachung zu erfüllen. Kai Burmeister, Vorsitzender des DGB-Landesbezirks Baden-Württemberg, wird als Redner anwesend sein.
Auch die beiden Grußworte von Matthias Fuchs (DGB) und Markus Rapp (GEW) waren geprägt von Solidarität mit den Betroffenen der Berufsverbote. Denn die Opfer dieser unsäglichen und undemokratischen Einschüchterungspolitik des sogenannten Radikalenerlasses waren überwiegend Gewerkschaftsmitglieder. Die Berufsverbotspraxis , die historische und aktuelle, war beziehungsweise ist ein elementarer Verstoß gegen das Grundrecht der „freien Berufsausübung“. Darin waren sich die beiden Gewerkschafter einig. Sie forderten auch eine vollständige Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen. Für sie war klar, dass Berufsverbote nicht in Einklang mit dem Grundgesetz zu bringen sind; so auch das bereits erwähnte Ergebnis der Studie des Historischen Seminars Heidelberg.
Lothar Letsche (ehemals Schorndorf), selbst betroffen, führte in die Ausstellung „Vergessene Geschichte“ ein. Sie wurde von der Niedersächsischen Initiative gegen Berufsverbote zusammengestellt und ist inhaltlich und zeitlich gut strukturiert. Sie umfasst 24 Tafeln sowie vier Tafeln aus Baden-Württemberg. Die Themen im einzelnen:
1. Definition
Berufsverbote ? Was ist das denn ?
2. Obrigkeitsstaat
Berufsverbote für „Radikale“: unter anderem das Bismarcksche Sozialistengesetz gegen „sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Umtriebe“.
3. Weimarer Republik
Anfang vom Ende: Der Kaiser ging, die Generäle blieben: Die Revolution im November 1918 scheiterte, weil es nicht gelang, die Strukturen des preußischen Militär- und Obrigkeitsstaats zu beseitigen.
4. NS-Diktatur
Entlassung von Nazigegnern und Juden aus dem öffentlichen Dienst: Vernichtung der Existenz.
5. Bonner Republik I
Nachkriegsjahre: Artikel 131 Grundgesetz und die Rückkehr der Nazis. Dieser Artikel aus dem Jahr 1951 ermöglichte, zentrale Positionen im Staatsapparat, vor allem in der Justiz und den Geheimdiensten, wieder mit ehemaligen Nazis zu besetzen.
6. Bonner Republik II
1950er und 1960er Jahre: Remilitarisierung und Repression; Gegner der Militarisierung Westdeutschlands wurden nach dem sogenannten „Adenauer-Erlass“ 1950 aus dem Staatsdienst entlassen.
7. Bonner Republik III
„… weder Information noch Fakten“: Totalitarismusideologie. Zur Bekämpfung der linken Opposition wurden Faschismus und Stalinismus oder Kommunismus, kurz „Rechts und Links“ gleichgesetzt.
8. Bonner Republik IV
Flächendeckende Überwachung von Post und Telefon
9. Bonner Republik V
Verschärfung der politischen Repression: Zum Beispiel durch die Notstandsgesetze von 1968 wurden demokratische Rechte eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt.
10. Bonner Republik VI
Der „Radikalenerlass“ vom 28. Januar 1972.
11. Bonner Republik VII
Verlauf eines Berufsverbotsverfahrens: Prozesse gegen Berufsverbote zogen sich bis zu zehn Jahre hin. In der Regel folgte die Justiz den Vorgaben der Verwaltung. Die Opfer mussten alle Kosten tragen. Waren sie aus den Gewerkschaften ausgeschlossen worden, erhielten sie keinen Rechtsschutz, keine finanzielle Unterstützung.
12. Bonner Republik VIII
Einzelne waren betroffen – viele waren gemeint, Teil 1
Vorwürfe: Mitgliedschaft und Aktivitäten in der DKP
Vorwürfe: Unterstützung der Studentenbewegung, Verfassen kritischer Texte
13. Bonner Republik IX
Einzelne waren betroffen – viele waren gemeint, Teil 2
Vorwürfe: Antimilitarismus, Antifaschismus
Vorwürfe: Kandidaturen für Hochschulparlamente und vermutete Mitgliedschaft in kommunistischen Organisationen
14. Bonner Republik X
Folgen der Berufsverbote:
Die jahrelange Dauer der Gerichtsverfahren zermürbte viele Opfer; 70 Prohzent der Klagen wurden schließlich abgewiesen. Die extremen Belastungen führten nicht selten zu psychischen Erkrankungen. Die Berufsverbote zielten auf die Existenz der Betroffenen, sie bedeuteten vielfach Hilfsarbeit oder Arbeitslosigkeit.
15. Bonner Republik XI
„Weg mit den Berufsverboten!“ – Solidarität und Widerstand im In- und Ausland und zwei wichtige Urteile:
Die Berufsverbotspraxis stieß von Anfang an auf massive Kritik. Im April 1973 gab es in Dortmund eine erste Protestdemonstration mit 20 000 TeilnehmerInnen. Danach konstituierte sich die zentrale Initiative „Weg mit den Berufsverboten“, die über Jahre die Arbeit zahlreicher örtlicher Komitees koordinierte.
In allen Nachbarländern berichteten die Medien ausführlich und kritisch über die Berufsverbote. Es gründeten sich Komitees zur Unterstützung der Betroffenen.
16. Bonner Republik XII
Berufsverbote 1967 – 1986: Zahlen und Namen:
Folgen des Radikalenerlasses: Etwa 3,5 Millionen Personen wurden politisch überprüft. Mehr als 10 000 Berufsverbotsverfahren wurden eingeleitet, etwa 2500 BewerberInnen nicht eingestellt und 250 BeamtInnen entlassen. Die Dunkelziffer dürfte erheblich höher liegen.
17. Bonner Republik XIII
Abschaffung der „Regelanfrage“ – Rolle der Geheimdienste
Ende der 1970er Jahre konzentrierten sich die Einstellungsbehörden und die Geheimdienste auf die Überprüfung derjenigen Personen, bei denen bereits Verdachtsmomente vorlagen. Das war ein weniger aufwendiges Verfahren und auch effizienter als die „Regelanfrage“.
18. Berliner Republik
Aus der Geschichte lernen: kein neuer „Radikalenerlass“! Die Folgen des „Radikalenerlasses“ von 1972 sind immer noch spürbar: Entpolitisierung, zerstörte berufliche Werdegänge, Duckmäusertum, Altersarmut. Zögerlich beginnt in einigen Bundesländern die Aufarbeitung der Geschichte. Gleichzeitig sind aber auch Versuche zu beobachten, die unheilvolle Praxis durch Regelanfragen beim Verfassungsschutz, Fragebögen und Bespitzelung wieder zu beleben; ein passendes Beispiel hierfür ist auch der Koalitionsvertrag der Ampelregierung.
Dieter Keller bedankte sich abschließend bei Lothar Letsche für die ausführliche Einführung in die Ausstellung, bei Matthias Fuchs und Markus Rapp für ihre lebendigen und solidarischen Grußworte und bei Michael Csaszkóczy für seine kritischen Liedbeiträge. Er bedankte sich auch bei den Besuchern für ihr Interesse an der Ausstellung und lud sie zu einem lockeren Ständerling und zu einem konstruktiven und anregenden Austausch ein. Die Einladung wurde gerne angenommen und es gab intensive Gespräche.
Veranstaltungshinweise:
Donnerstag, 20. Oktober, 19 Uhr, Manufaktur (Hammerschlag 8, 73614 Schorndorf), Kino Kleine Fluchten: Gesprächsrunde/Interviews mit Betroffenen.
Mittwoch, 26. Oktober, 17 Uhr, Kundgebung in Stuttgart vor der Oper.
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