Von Alfred Denzinger – Stuttgart. Seit Mitte September steht ein junger Antifaschist vor dem Stuttgarter Amtsgericht. Den vierten Verhandlungstag am Montag, 12. Oktober, dominierte ein etwas unbeholfen, verwirrt wirkender Zeuge. Er kam zu spät, weil er seinen Termin angeblich vergessen hatte, sich nach einem Telefonanruf der Staatsanwältin dann doch noch auf den Weg machte, aber dann unterwegs zum Amtsgericht in eine Pfütze gefallen sein will. Auch die Kumpanei zwischen Justizangestellten und „Leibwächtern“ eines AfD-Stadtrats, der als Zeuge beim dritten Verhandlungstag geladen war (siehe „Eine eifrige Staatsanwältin, ein eingeschüchterter Einzelkämpfer und merkwürdige Kumpaneien„ und „Kumpanei im Gerichtssaal hat Folgen„), wurde abermals thematisiert.
Pikante Neuigkeit dabei: Es wurde bekannt, dass Staatsanwältin Henze das Gerichtsgebäude am 29. September zusammen mit den AfD-„Leibwächtern“ verlassen hat. Es gibt einen Augenzeugen, der Henze auch noch weit außerhalb des Hauptausgangs des Gerichtsgebäudes mit den beiden Männern zusammen gesehen hat. Die Staatsanwältin gab auf Nachfrage des Rechtsanwalts an, dass sie die Männer nicht kenne.
Rechtsanwalt Franz Spindler gab zu Verhandlungsbeginn eine Erklärung zu den Vorfällen ab. Er führte den Sachverhalt aus und teilte mit, dass er eine Dienstaufsichtsbeschwerde (DAB) gegen einen Beamten des Sicherheitsdienstes „SGS“ eingereicht habe. Der Sicherheitsmitarbeiter soll davon ausgegangen sein, dass es sich bei den beiden „Leibwächtern“ um Polizeibeamte gehandelt habe. Auch das gemeinsame Verlassen des Gerichtsgebäudes der Staatsanwältin und der beiden dubiosen Männer wurde angesprochen.
Gegenüber den Beobachter News kommentierte Rechtsanwalt Spindler:
„Die privilegierte Behandlung der zwei Begleiter des AfD-Zeugen Barth durch die Sicherheitsbeamten des SGS bei der Personenkontrolle stellt einen klaren Rechtsbruch dar. Bis heute ist nicht bekannt, welchen Status diese Personen hatten. Waren es Privatpersonen, Mitarbeiter eines professionellen Sicherheitsdienstes? Trugen diese Personen Schusswaffen mit sich? In jedem Fall sprechen die Beamten von Waffen/gefährlichen Gegenständen, die diese bei der Kontrolle abgeben mussten. Warum durften sie jedoch entgegen der richterlichen Verfügung Mobiltelefone und Schreibwerkzeuge in den Sitzungssaal verbringen? Der direkt kontrollierende Beamte spricht von einem Irrtum, er habe die Personen für Polizisten gehalten. Ein anderer Beamter berichtet jedoch davon, dass diese Personen vor der Kontrolle – ihm allerdings unbekannte – Dienstausweise vorzeigten. Wenn diese Personen bei der Kontrolle aber irgendwelche Dienstausweise gezeigt haben, weshalb konnte dann ihr Status nicht eindeutig geklärt und die Kontrolle dementsprechend durchgeführt werden? Die Verteidigung hat bei dem Präsidenten des Landgerichts Stuttgart als Dienstherrn der Einheit Dienstaufsichtsbeschwerde eingelegt, die lapidare Erklärung, es habe sich um ein Versehen gehandelt, kann nicht zufriedenstellen. Dass Personen aus dem rechten Spektrum beim Zugang zum Gerichtssaal offenbar völlig konträr und gänzlich weniger genau überprüft werden als andere BesucherInnen, lässt Zweifel an der Objektivität der Beamten aufkommen. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der immer wieder weitere Netzwerke zwischen Sicherheitsbehörden und rechten Kreisen bekannt werden, ist das inakzeptabel.“
Der verwirrte Zeuge aus der Pfütze
Der scheinbar dauerverwirrte Klaus N. (Name von der Redaktion geändert) erschien zunächst bereits am Montag, 5. Oktober, vor dem Gerichtssaal. Er wurde von den Sicherheitsleuten an der Kontrollstelle vor dem Saal darauf hingewiesen, dass er sich wohl im Datum vertan habe. Er zog daraufhin sichtlich gefrustet von dannen.
Nachdem N. am Montag, 12. Oktober, zwischen 12.40 und 12.53 Uhr mehrfach vergeblich über die Lausprecheranlage des Gerichts aufgerufen wurde, hat ihn wohl die Staatsanwaltschaft telefonisch erreicht. Der im internen Polizeiauskunftssystem als „Reichsbürger“ geführte Zeuge N., der sich gern als „Journalist“ ausgibt, soll gesagt haben, er habe den Termin vergessen. Er mache sich aber sogleich auf den Weg. Während der Aussage eines Polizeizeugen rief der mutmaßliche Reichsbürger N. im Gerichtssaal an und teilte Richterin Susanne Böckeler mit, er sei hingefallen und jetzt nass. Böckeler: „Dann kommen sie nass!“ Um 14 Uhr erscheint N., trocken und mit sauberer Kleidung, schließlich vor Gericht.
Mutmaßlicher Reichsbürger am Kopf getroffen?!

Immer provokativ unterwegs, der „Berichterstatter“ N., für den sicher kein Presseprivileg gilt – Archivbild 2017
N. erklärt eingangs, er sei 56 Jahre alt. Auf die Frage der Richterin nach der beruflichen Tätigkeit gab N. an: „Sozialhilfeempfänger“. Später fragte Rechtsanwalt Spindler den Zeugen N., ob er als Journalist vor Ort gewesen sei. Die überraschende Antwort lautete: „Nein, als Berichterstatter“.
Der Zeuge soll bei einer Demonstration von Fridays for Future (FFF) in Stuttgart am 10. Mai 2019 von mehreren Personen angegangen worden sein. Er stellte Strafantrag wegen „gefährlicher Körperverletzung“. Ein 35-jähriger Polizeizeuge erklärte vor Gericht, er sei zum Tatort beordert worden. Dort habe sich N. zu erkennen gegeben und gesagt, er habe „im Zuge seiner Pressefreiheit die Versammlung gefilmt“. Man habe ihn angegriffen und versucht, sein Tablet zu stehlen. Ihm sei auch das aufgenommene Video vom Aufzug und dem (mutmaßlichen) Angriff gezeigt worden. Erkannt habe er niemanden.
Angeblich soll aber später ein Beamter des Staatsschutzes Personen erkannt haben. Eine polizeiinterne Datenabfrage zur Person des Herrn N. habe ergeben, dass dieser der Reichsbürger-Szene zuzuordnen sei. Anhand seiner Formulierungen sei klar gewesen, dass „er polizeierfahren ist“. Verletzungen habe er an N. nicht gesehen, aber N. gab an, am Kopf getroffen worden zu sein. Der Angreifer soll ein vermummter Vollbartträger (rot) gewesen sein. Der Angeklagte hat weder rote Haare, noch einen Vollbart.
Mehrere Ermittlungsverfahren

Auch auf dem Hetzportal PI-News hinterließ der selbsternannte „Journalist“ seine Spuren – Archiv-/Symbolbild
Auf Nachfrage von Rechtsanwalt Spindler gab der Polizist an, N. habe Belastungseifer vor Ort gezeigt. Die Frage, ob gegen N. Verfahren anhängig seien, beantwortete der Polizeibeamte mit „weiß ich nicht“.
(Anmerkung der Redaktion: Gegen N. laufen mehrere Ermittlungsverfahren in Strafsachen. Auch eine Unterlassungsklage vor dem Landgericht Stuttgart ist anhängig.)
N. gab vor Gericht weiter an, er habe auf der Demonstration „mehrere Linksextremisten entdeckt“. Er sprach von „Antifa-Terrorgruppen“. Rechtsanwalt Spindler wollte von N. wissen, ob er die „PI-News“ kenne. N.: „Ja, allgemein bekannt“. Spindler erklärte dem Zeugen, er habe auf „PI-News“ einen Artikel von ihm gefunden. N. kleinlaut: „Hab mal da einen Artikel eingereicht, aber ich weiß nicht, ob das dort veröffentlicht wurde.“ „Haben sie einen online-Kanal?“ „Ja, mehrere.“
Für das Hetzportal will niemand verantwortlich sein

Auch der rechte Aktivist Michael Stürzenberger ist als Autor auf dem Hetzportal PI-News zu finden. Ist er einer der Drahtzieher? – Archivbild 2019
Rechtsanwalt Spindler gab nach der Entlassung des Zeugen N. eine Erklärung vor Gericht zu „PI-News“ ab. Er thematisierte darin den hetzerischen, islamfeindlichen Charakter der rechtsradikalen Online-Plattform. Spindler führte mehrere Beispiel an, die Gewalt bis hin zu Mordaufrufen beinhalteten. In den Kommentaren seien auch unter einem Text aus dem Jahr 2015 „Todesankündigungen“ zur Person des Politikers Walter Lübcke zu finden. Dieser wurde am 1. Juni 2019 vor seinem Wohnhaus durch einen Kopfschuss getötet. Der am 15. Juni 2019 festgenommene Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.
(Anmerkung der BN-Redaktion: Die rechtsradikale Hetzseite wird seit vielen Jahren ohne das vorgeschriebene Impressum – und daher anonym geführt. Auf unsere Nachfrage beim Staatsschutz wurde uns erklärt, dass man „gegen Pi-News“ keine rechtliche Handhabe hätte. Das fehlende Impressum reiche nicht aus, um die Seite zu sperren.)
Was macht eine Polizeitruppe innerhalb einer Versammlung?
Drei weitere Polizeizeugen belasteten den Angeklagten mit Vorwürfen, die im Zusammenhang mit einem „Bürgerschoppen“ von Burschenschaften in Tübingen und dem Protest gegen ihn am 12. Mai 2019 stehen. Die ersten beiden Zeugen erkannten den Angeklagten im Gerichtssaal nicht. Beide Polizisten wurden bei ihrem Einsatz nicht verletzt.
Der dritte Zeuge, ein 37-jähriger Polizei-Gruppenführer, bahnte sich nach eigenen Angaben den Weg durch die „linksorientierte Kundgebung“. Dabei habe sich ihm der Anklagte in den Weg gestellt und ihm mit der flachen Hand einen Stoß in die Brust versetzt. Der Beamte blieb nach eigenen Angaben unverletzt. Ein Kollege des Zeugen soll vom Angeklagten mit „Du Drecksau“ beleidigt worden sein. Auf den vor Gericht vorgespielten Polizeivideos ist unter anderem zu hören: „Deutsche Polizisten schützen die Faschisten“ und „Alerta, Alerta, Antifascista“
(Anmerkung der Redaktion: Mehrere Gerichtsurteile dokumentieren, dass Polizeibeamte innerhalb einer Versammlung nichts zu suchen haben. Dies dürfte auch im vorliegenden Fall zutreffen. Wäre dem so, so wäre der Polizeieinsatz des Gruppenführers unverhältnismäßig und somit rechtswidrig gewesen – ein Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit.)
Der Prozess – voraussichtlich mit Urteilsverkündung – wird am Montag, 19. Oktober, um 9 Uhr, fortgesetzt. Zuvor ist für 8 Uhr eine antifaschistische Kundgebung vor dem Amtsgericht (Hauffstraße 5) angekündigt.
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