Von unseren ReporterInnen – Winterbach/Weiler. Es war eine berührende, eine beeindruckende Szene am Ende einer Demonstration, wie sie die Weinbau-Region im Rems-Murr-Kreis nur selten sieht. 350 Menschen zogen an Samstagnachmittag, 10. April, von Winterbach nach Weiler, um des zehn Jahre zurückliegenden Brandanschlags auf MigrantInnen zu gedenken. Kurz vor Schluss stellten sich am späten Nachmittag AktivistInnen in Trauerkleidung in Weiler bei der oberhalb der Hauptstraße gelegenen Kirche auf und hielten weithin sichtbar rund 40 Plakate mit den Namen von Opfern rechten Terrors in die Höhe. „Halle, Hanau, rassistischer Mord – Widerstand an jedem Ort“, skandierten sie.
„Damals konnten sich Faschisten in Weiler fast ungehindert organisieren. Mit der Kneipe ‚Linde‘ verfügten sie über ein logistisches Zentrum“, berichtete ein Sprecher des Offenen Antifaschistischen Treffens (OAT) Rems-Murr am Mikrofon auf dem Lautsprecherwagen auf dem Platz gegenüber der Kirche, auf dem sich die DemonstrantInnen versammelt hatten. Damals – das war vor zehn Jahren. In der Nacht vom 9. auf den 10. April 2011 überfiel eine Gruppe von Neonazis auf einem Gartengrundstück in Winterbach neun Migranten. Nach Schlägen, Tritten und einer mörderischen Hetzjagd retteten sich die Überfallenen in letzter Sekunde aus einer in Brand gesetzten Hütte, in der sie Zuflucht gesucht hatten. Sie durchlitten Todesangst. Einige kamen nur mit schweren Verletzungen davon. Andere haben es bis heute nicht geschafft, in ihrem Leben wieder Fuß zu fassen.
Damals protestierten 1300 Menschen mit einer Demonstration gegen die rechte Gewalt. Heute gibt es die „Linde“ in Weiler nicht mehr. Das sei dem anhaltenden Protest zu verdanken, sagte der Sprecher des OAT. In der früheren Neonazi-Kneipe wohnt heute eine Familie. Aber viele rechte Überzeugungen und Strukturen blieben erhalten, und mit der AfD erhielten sie einen parlamentarischen Arm. So riefen die Initiative Rems-Murr nazifrei! und das Bündnis Zusammen gegen Rechts dazu auf, zum 10. Jahrestag erneut an den Brandanschlag in Winterbach zu erinnern und zu vermitteln, dass der Kampf gegen Rassismus und rechte Gewalt weiter aktuell und notwendig bleibt.
„Ohrfeige“ für die Versammlungsbehörde
Die Versammlungsbehörde wollte die Teilnehmerzahl der Gedenkdemonstration im Vorfeld auf 300 begrenzen und verlangte eine Liste mit den Namen der Ordnerinnen und Ordner. Die Veranstalter reichten eine Eilklage ein und das Verwaltungsgericht kassierte beide Auflagen in einem Gerichtsbeschluss. Ob das Ordnungsamt oder die Polizei für die nach derzeitiger Lage rechtswidrigen Auflagen verantwortlich waren, lässt sich nicht feststellen. Die Veranstalter beabsichtigen auf jeden Fall, das Verfahren bis zu einem rechtsgültigen Urteil weiterzuführen.
„Die Ermittlungen waren unzureichend“
Etwa 350 Menschen versammelten sich am Samstagnachmittag mit Maske und mit größtmöglichem Abstand zunächst auf dem Bahnhofsvorplatz in Winterbach. Dort gab es in der Mitte Stellwände und einen Stand mit Infomaterial. Moderator Tim Neumann vom Bündnis Zusammen gegen Rechts Rems-Murr (ZgR) begrüßte die Versammelten.
Walter Burkhardt von der gastgebenden Initiative Rems-Murr nazifrei! erinnerte an den grausamen Anschlag und vergleichsweise milde Urteile für die Täter. Die Sorgfalt der Ermittlungen war und bleibe fragwürdig, erklärte er. Ein Ermittler habe im Prozess die Aussage verweigert, weil ihm keine Genehmigung des Staatsschutzes vorlag. Beweise wie die Brandspuren an der Hütte wurden erst mit großem zeitlichen Abstand gesichert, so, dass viele offene Fragen nicht mehr beantwortet werden konnte. Einer der Angeklagten sei Wiederholungstäter gewesen. Er habe schon früher einen griechischen Geschäftsmann zusammengeschlagen.
Wie aktuell und notwendig der Protest gegen Rechts weiterhin sei, hätten Neonazi-Schmierereien in einer Unterführung in Weinstadt gezeigt. „Es gibt weiter Nazi-Aktivitäten“, betonte Burkhardt. In den Jahren nach dem Brandanschlag habe die AfD an Stärke gewonnen, sagte der Moderator. Man müsse „klare Kante zeigen“. Das unterstrich auch ein Sprecher der DiDF-Jugend, einer Organisation von und für MigrantInnen. Er thematisierte in seiner Rede vor allem die Verstrickung von Behörden in rechten Terror, bei der es sich schon längst um keine Einzelfälle mehr handle. Nach der Selbstenttarnung des NSU hätten die Behörden eher auf Vertuschung als Aufklärung gesetzt. Elf Jahre lang seien zuvor die Familien der Opfer schikaniert worden. Doch schon zuvor – nach Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen – habe man gewusst, „dass die Behörden auf dem rechten Auge blind sind“.
Sozialabbau, Privatisierung und unbezahlbare Wohnungen seien die wahren Gründe des Rechtsrucks. Sie würden überdeckt durch Rassismus und Rechtspopulismus. „Nur vereint können wir Rassismus und Nationalismus erfolgreich bekämpfen“, sagte der Vertreter der DiDF und forderte ein Recht auf menschenwürdige Teilhabe für alle, unabhängig von ihrer Herkunft und Staatsangehörigkeit. Seine Organisation trete seit 40 Jahren mit Weltoffenheit, Antifaschismus und Solidarität für dieses Ziel ein.
„Keine Lösungen von Rechts“
Christa Walz vom DGB Rems-Murr stellte den Rechtsruck in Zusammenhang mit den derzeitigen Krisen als „anhaltenden, massiven Störungen des politischen und gesellschaftlichen Systems“ – von der Corona-Pandemie über die Ebbe in den öffentlichen Haushalten und die Klimakrise bis zur weltweiten Gefährdung der Menschenrechte, von der etwa Amnesty international spricht. Angesichts der Komplexität dieser Krisen und ihrer Folgewirkungen dürfe man deren Lösung nicht den Rechten überlassen, ob sie nun mit „alternativen Fakten“ nach Art von Donald Trump operierten, mit Rechtspopulismus wie die AfD oder mit rechtem Terror.
Klares Feindbild der Rechten seien Flüchtlinge und Migranten. Ihnen gehe es „nicht um oben und unten, sondern um drinnen und draußen“. Ihre angeblichen Lösungen beinhalteten stets Terror und Gewalt, ihre falschen Analysen erzeugten Chaos. Dagegen sei es Aufgabe der Gewerkschaften, zukunftsorientiert zu denken und umfassende Verteilungsgerechtigkeit zu fordern. Gewerkschaften seien im Kern antifaschistisch. Das dürfe nicht durch die Forderung nach „parteipolitischer Neutralität“ überdeckt werden.
Die von Rems-Murr nazifrei! angeführte Demonstration zog durch Winterbacher Wohngebiete in Richtung Weiler. Vorne raus liefen der Einsatzleiter der Polizei, der zuständige Ordnungsamtsleiter und Beamten des Antikonfliktteams. Die TeilnehmerInnen trugen allesamt Masken und versuchten, große Abstände einzuhalten – doch das erwies sich in zum Teil engen und vollgeparkten Straßen als schwer. „Wer schweigt, stimmt zu, lasst Faschisten nicht in Ruh'“ wurde skandiert, ebenso „Ob Pegida oder AfD, stoppt den Rechtsruck in der BRD“ oder „Nazis morden, der Staat macht mit. Der NSU war nicht zu dritt“. Auch andere Parolen richteten sich gegen die AfD als „parlamentarischer Arm der Nazis“ – so etwa „Rassistisch, sexistisch, neoliberal – AfD, Partei fürs Kapital“.
Wenig Vertrauen in die Behörden
Anwohner beobachteten das Geschehen teils ablehnend, teils interessiert oder mit Sympathie von Hauseingängen, Balkonen und Fenstern aus. Es gab immer wieder Megafondurchsagen, um sie zu informieren. An der Ecke Neue Gasse – Karlstraße rammten DemonstrationsteilnehmerInnen neben einer Bank Pfosten in die Erde und stellten Plakate auf. Der Tenor der Aufschriften: Man könne sich im Kampf gegen rechten Terror nicht auf die Behörden verlassen. „Ab wie vielen Einzelfällen hat eigentlich der rechte Terror in der Polizei System?“ wurde etwa gefragt oder appelliert: „Staat und Nazis Hand in Hand, organisiert den Widerstand“.
Als kurz vor dem Ortsende von Winterbach blauer Rauch aufstieg, waren sofort Polizeifotografen zur Stelle. Doch die Polizei blieb gelassen und die Stimmung entspannt. Nach dem Ortsschild zog die Demonstration durch eine Unterführung unter der Bahnlinie hindurch nach Weiler, einem Ortsteil von Schorndorf. Vorbei an der ehemaligen „Linde“ erreichte der Zug den Platz vor der Kirche, wo der Lautsprecherwagen der Veranstalter bereits auf sein Eintreffen wartete.
Ein als „Kollege Schorsch“ angekündigter Redner rief dazu auf, nicht zu schweigen und nicht wegzuschauen – „wenn wir das tun, werden wir das Geschwür des Rassismus nie überwinden“. Er hob hervor, wie viele unterschiedliche Menschen in Weiler zusammengekommen seien, und erinnerte daran, dass niemand bestimmen kann, wo er geboren wird und in welche Familie hinein – „das ist ein Teil des Schicksals“.
„Wir sind immer die Gearschten“
„Die Geschichte von Deutschland ist durchwebt von rechter und faschistischer Gewalt“, sagte ein weiterer Redner von „0711 United“, eine aus der Bewegung Black lives matter entstandene Gruppierung. Es gebe zu viele Opfer. „Unterm Strich sind wir immer die Gearschten“, schilderte er den Eindruck Jugendlicher mit ausländischen Wurzeln. „Erinnern heißt kämpfen – für eine migrantische Selbstorganisierung und den antifaschistischen Einheitskampf“, schloss er. Währenddessen stellten sich auf der gegenüberliegenden Seite der Hauptstraße bei der Kirche schwarz gekleidete AktivistInnen auf und hielten Plakate mit den Namen von vierzig Menschen in die Höhe, die von Neonazis ermordet wurden.
Der letzte Redner der Schlusskundgebung war ein Vertreter des Offenen Antifaschistischen Treffens (OAT) Rems-Murr. Er erinnerte an die Kneipe „Linde“, die Faschisten als logistisches Zentrum gedient habe – und an das Erstarken der AfD in den Jahren 2015/2016. Die Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte stieg. Währenddessen hätten Abgeordnete der AfD im Bundestag gegen „Kopftuchmädchen und Messermänner“ gehetzt. Heute lasse die EU MigrantInnen lieber im Mittelmeer ertrinken, als sie aufzunehmen. Der Redner sprach von einer Doppelmoral, „weil hinter rassistischer Ideologie knallharte wirtschaftliche Interessen stehen“. Nur durch jahrelangen Protest habe man „den Rückzug der Rechten aus der Linde“ erreicht, schloss der Redner: „Lasst uns 365 Tage im Jahr antifaschistisch und für eine solidarische Gesellschaft kämpfen.“
„Mischung auf verschiedenen Spektren“
Tim Neumann, Pressesprecher des Bündnisses Zusammen gegen Rechts, zog eine positive Bilanz: „Es gibt viele Gründe, weshalb wir zufrieden auf die Demonstration zurückblicken können. Ersteinmal konnten wir wie viele andere antifaschistische Demonstrationen unter Beweis stellen, dass ein sicheres Demonstrieren auch unter Corona-Verhältnissen möglich ist. Die Mischung aus den verschiedenen Spektren der antifaschistischen Bewegung, die durch die wahrnehmbare Teilnahme von AnwohnerInnen wunderbar ergänzt wurde, hat sich meiner Meinung nach auch in den Redebeiträgen niedergeschlagen. Migrantische Organisationen und Einzelpersonen, Gewerkschaften, antifaschistische AktivistInnen – wir freuen uns wirklich sehr, ihnen eine Bühne verschafft zu haben.“
Beinahe folgerichtig sei auch, dass man „nicht nur gerade einem jungen Publikum die damaligen Geschehnisse näherbringen konnten, sondern auch der aktuelle Bezug zu Themen wie Verstrickung von rassistischer Gewalt abseits der rechten Szene, zum Beispiel in staatlichen Organen oder die Gefährlichkeit der AfD durchgehend vorhanden war. Auch wenn wir einen gewissen Abstand zu den TeilnehmerInnenzahlen der Gedenkdemonstrationen im letzten Jahrzehnt haben, blicken wir insgesamt positiv auf unsere Arbeit zurück. Als Bündnis werden wir mit Sicherheit diskutieren, wie wir in Zukunft als Teil der antifaschistischen Bewegung auf den damaligen Brandanschlag zurückkommen und in welchen gesellschaftlichen Bereichen wir weiter Erinnerungsarbeit leisten können.“
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