Von unseren ReporterInnen – Stuttgart. Mindestens 660, vielleicht sogar 700: Die Polizei nahm am Samstag, 30. April, über ein Drittel der etwa 1500 DemonstrantInnen gegen den Bundesparteitag der AfD auf dem Stuttgarter Messegelände fest und hielt sie den ganzen Tag über gefangen – ebenso mindestens drei Journalisten, die angeblich verbotswidrig die Autobahn überquert hatten. Gegen diesen Eingriff in die Pressefreiheit protestierte die dju (Deutsche JournalistInnen-Union in Verdi) am Sonntag scharf (siehe unten im Wortlaut). Erst am Abend kamen die Festgenommenen wieder frei. Zahlreiche Protestierende wurden – hauptsächlich durch Pfefferspray – verletzt. Über sechzig mussten allein vom Demo-Sanitätsdienst Südwest und seinen HelferInnen versorgt werden.
Die DemosanitäterInnen gehen dabei von einer hohen Dunkelziffer aus. Die Polizei meldete am Samstag drei leicht verletzte Beamte. Das veranstaltende Aktionsbündnis gegen den AfD-Bundesparteitag, dem fast 50 Organisationen angehören, warf der auffallend aggressiv auftretenden Polizei vor, ihre „Eskalationsstrategie der letzten Tage“ fortgeführt zu haben.
Am Sonntag, 1. Mai, veröffentlichten auch die festgenommenen Journalisten eine Presseerklärung. Insgesamt handelte es sich im Lauf des Tages wohl um vier. Einer der zunächst Festgenommenen erlitt demnach einen Kreislaufzusammenbruch und wurde ins Krankenhaus gebracht. Die beiden zunächst verbliebenen Fotografen werfen der Polizei vor, sie mit Kabelbindern gefesselt und den ganzen Tag in eine aus Bauzäunen errichtete Zelle in der Halle gesperrt zu haben.
Polizei will Journalisten nicht als solche erkannt haben
Während sich die Polizei nach einem Bericht des Südwestrundfunks damit zu rechtfertigen versucht, die Fotografen hätten sich nicht als Journalisten zu erkennen gegeben, betonen die beiden, immer wieder darauf hingewiesen zu haben, dass sie einer journalistischen Tätigkeit nachgegangen seien und sich auch zweifelsfrei als Journalisten ausweisen könnten. Sie werfen der Polizei „gleich mehrere Verstöße an diesem Tag“ vor. Der schwerwiegendste sei „sicherlich der erhebliche Eingriff in die Pressefreiheit“ (siehe die Erklärung unten im Wortlaut).
Trotz der vielen Festnahmen demonstrierten am Nachmittag mindestens 3500 AfD-GegnerInnen in der Stuttgarter Innenstadt. Am frühen Abend gab es vor der Gefangenen-Sammelstelle in Halle 9 der Stuttgarter Messe erneut eine Eskalation. Dorthin waren DemonstrantInnen gezogen, um die Freilassung der Festgenommenen zu fordern. Sie meldeten eine Eil-Versammlung an – was die Polizei nicht daran hinderte, in und vor der Gefangenen-Sammelstelle massiv gegen die Demonstrierenden vorzugehen und ihnen das Fronttransparent zu entreißen.
Polizei kesselte gleich morgens DemonstrantInnen ein
Einige Festgenommene berichteten uns, gleich am Morgen festgesetzt, bis um die Mittagszeit in Polizeikesseln verblieben und schließlich zur Halle 9 gebracht worden zu sein. Was ihnen genau vorgeworfen werde und wie es weitergehen solle, habe ihnen niemand gesagt. Allerdings stand offenbar die Drohung im Raum, bis Sonntagabend, 20 Uhr, festgehalten zu werden. Einige klagten, sie seien elf Stunden lang mit gefesselten Händen festgehalten worden.
Eine ganze Gruppe erklärte, der Fahrer der von ihnen benutzten S-Bahn habe sie auf Geheiß der Polizei schon eine Haltestelle vor der Messe aus dem Waggon bitten müssen. Sie seien dann über die Felder gegangen und eingekesselt worden. Den Tag über hätten sie nur eine Scheibe Brot und eine Banane erhalten. Vier Festgenommene seien im Bus zusammengebrochen, weil es zu heiß war. Die Polizei hingegen verbreitete per „Twitter“, die Festgenommenen würden – auch medizinisch – gut versorgt.
Polizei lässt Festgenommene erst am Abend frei
Ein Beamter des bayerischen USK (Unterstützungskommando) drohte während der Versammlung einem gerade per Handy telefonierenden Fotografen der Beobachter News einen Platzverweis an. Die wenig erhellende Begründung: Er behindere Maßnahmen. Seinen Namen mochte der Polizist auf Nachfrage nicht nennen: „Das geht Sie gar nichts an.“
Kurz darauf kündigte die Polizei per Durchsage an, die Festgenommenen aus Halle 9 in kleinen Gruppen freizulassen und zu öffentlichen Verkehrsmitteln zu bringen. Damit erübrige sich die Versammlung. Die noch außerhalb Stehenden wurden in Busse gedrängt, die angeblich ebenfalls zu Bus- und Bahnhaltestellen fahren sollten.
Brennende Reifen auf der Bundesstraße
Bereits ab 6 Uhr morgens blockierten DemonstrantInnen Zufahrten zum Kongresszentrum der Messe und zum Parkhaus. Es gab auch Barrikaden. Auf der B 27 brannten einige Reifen. Die Autobahn 8 war etwa zehn Minuten lang blockiert. Bis die Polizei eintraf, waren die BlockiererInnen schon weg. Der Parteitag mit über 2400 AfD-Mitgliedern begann wegen des erschwerten Zugangs mit einstündiger Verspätung.
Die Polizei war am Samstag mit über 1000 Einsatzkräften an der Messe und ähnlich vielen Beamten später in der Innenstadt präsent. Mit Blockaden, angeblich mitgeführten Eisenstangen und Holzlatten oder dem Werfen von Pyrotechnik begründete sie ihr hartes Durchgreifen – zumindest, bis Nachrichtenagenturen und überregionale Zeitungen berichtet hatten, Randalierer wären mit Latten und Eisenstangen auf Polizisten losgegangen. In einer Presseerklärung des Reutlinger Polizeipräsidiums vom späten Nachmittag las sich das deutlich anders.
Laut Polizei Blockaden mit Baustellenmaterial
Dem „linksautonomen Spektrum zuzurechnende Personen“ hätten am Morgen unmittelbar nach ihrer Ankunft beim Fernbusterminal bengalische Feuer und Böller gezündet und die Durchfahrt des dortigen Kreisverkehrs blockiert, ein Großteil sich schließlich vermummt. Mehrere Personen hätten an einer Baustelle Latten und Stangen aufgenommen und mit ihnen Blockaden errichtet. Später seien Einsatzkräfte mit Leuchtraketen beschossen und mit Flaschen beworfen worden. Insgesamt hätten sich unter 1000 friedliche DemonstrantInnen etwa 900 „gewaltbereite Linksautonome“ gemischt, so die Polizei.
In einer Presseerklärung der Stuttgarter Polizei zur Demonstration des Aktionsbündnisses in der Innenstadt war von Schlagwerkzeugen keine Rede mehr. Demnach hätten die Beamten eine Frau und drei Männer zunächst in Gewahrsam genommen, die Vermummungsmaterial, Wurfgeschosse und Messer mitgeführt hatten.
Polizei schleust AfD-Anhänger durch Gegen-Kundgebung
Zudem seien während der Demonstration „vereinzelt bengalische Feuer und Rauchbomben gezündet“ worden. Auch seien „Einsatzkräfte mit Gegenständen, darunter auch mit mutmaßlich mit Kot gefüllten Beuteln, beworfen worden“ – andere Bericht sprachen von Farben. Gewalttätige Ausschreitungen habe es nicht gegeben und nach Erkenntnissen der Polizei auch keine Verletzten – was sich keinesfalls mit den Erkenntnissen der Demosanitäter deckt.
Die Polizei legte am Samstag erkennbar keinen Wert auf Deeskalation. Immer wieder heizten die Beamten am Vormittag die Stimmung an, indem sie AfD-Parteigänger auf dem Weg zum Kongresszentrum provokativ durch die angemeldete Gegenkundgebung schleusten, statt sie zu einem der anderen Eingänge zu bringen. Überdies ritt die Reiterstaffel in die Kundgebung hinein. Auch ließen Beamte Demonstrierende nicht zu genehmigten Mahnwachen durch.
Pfefferspray und Schikanen
Beim jeweils einsetzenden Gerangel agierten die Beamten großzügig mit Pfefferspray und etwas verhaltener mit Schlagstöcken. Sie setzten am Samstag auch Diensthunde gegen die DemonstrantInnen ein. Nach Angaben eines Polizisten gegenüber dem Demo-Sanitätsdienst Südwest wurde am frühen Morgen auf einem Feld CS-Reizgas verwendet. Die über Tage hinweg heraufbeschworene Eskalation wie bei der Eröffnung der Europäischen Zentralbank EZB in Frankfurt entstand dennoch nicht. Die vorgefahrenen Wasserwerfer blieben außer Betrieb. Ihr Einsatz hätte sich kaum rechtfertigen lassen.
Für seine um 10 Uhr beginnende Kundgebung hatte das Aktionsbündnis gegen den AfD-Parteitag den Fernbusbahnhof als Versammlungsort zugewiesen bekommen und das Verwaltungsgericht eine einstweilige Verfügung dagegen abgewiesen. Neben der Polizeigewalt beim Eskortieren von AfD-Anhängern gab es bei der Kundgebung auch Schikanen. So ließ die Polizei den Transporter, der die vom veranstaltenden Bündnis georderten Toilettenhäuschen hätte liefern sollen, nicht durch.
Polizei stört Kundgebung
Aus unerfindlichen Gründen unterbrach sie auch um 11 Uhr einen Kundgebungsredner mit der Durchsage von ihrem Lautsprecherwagen, der AfD-Parteitag hätte nun begonnen. Die 1500 Protestierenden auf dem Messegelände seinen „von der Polizei massiv in ihren Grundrechten eingeschränkt“ worden, kritisierte das Aktionsbündnis.
Die Kundgebung endete nach einer Stunde. Die TeilnehmerInnen machten sich auf den Weg in die Stuttgarter Innenstadt – ein Teil von ihnen mit einer Spontan-Demo zur S-Bahn-Station im Flughafen. Dort erschraken viele Passagiere, als sie die Masse von Polizisten sahen.
Polizei beharrt auf Kurz-Transparenten
Die angemeldete Demonstration begann mit einer Auftaktkundgebung in der Lautenschlagerstraße gegenüber vom Hauptbahnhof. Die Polizei berichtete von 1800 TeilnemerInnen. Wir zählten von einer Brücke aus mehr als doppelt so viele. Das veranstaltende Aktionsbündnis sprach von über 4000.
Zunächst ließ die Polizei den Demozug nicht loslaufen. Das begründete sie damit, dass Transparente zu lang oder miteinander verknotet seien. Die DemonstrantInnen wurden schließlich von den USK-Einheiten in einem engen Kessel über den City-Ring begleitet.
Strafverfolgungsbehörden leiten Verfahren ein
Es gab eine Zwischenkundgebung am Rotebühlplatz, bei der die baden-württembergische VVN-Sprecherin Janka Kluge in Vertretung des angekündigten Mitglieds des Bundesvorstands Cornelia Kerth ein Grußwort hielt.
Die Polizei berichtet, dass bei den Auseinandersetzungen an der Messe drei Beamte leicht verletzt worden seien. Man haben „etliche Strafverfahren wegen Landfriedensbruch, Beleidigung, Nötigung, Körperverletzung, Widerstand, gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr und Verstöße gegen das Versammlungsgesetz“ eingeleitet.
Die Erklärung der dju im Wortlaut:
dju in ver.di kritisiert Inhaftierung von Pressefotografen bei Protesten gegen AfD-Parteitag in Stuttgart
Scharf kritisiert die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di die Inhaftierung von drei Pressefotografen bei den Protesten gegen den Parteitag der Alternative für Deutschland (AfD) am 30. April 2016: „Zwei Kollegen wurden für elf Stunden in Gewahrsam genommen, obwohl sie sich zweifelsfrei als Journalisten ausweisen konnten. Die Vorwürfe gegen sie sind lächerlich: Ihnen wird „ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr“ zur Last gelegt, weil sie an einem von Demonstrierenden blockierten Abschnitt der Zufahrt zum Parteitagsgelände ihrer Arbeit nachgingen. Dafür wurden sie nicht nur unverhältnismäßig lange fest gehalten, sondern dabei auch mit Kabelbindern gefesselt. Dieses Vorgehen der Einsatzkräfte ist skandalös und wird Konsequenzen haben“, kündigte die Bundesgeschäftsführerin der dju in ver.di, Cornelia Haß, an. Die dju in ver.di prüfe ein rechtliches Vorgehen gegen die Polizei und gewähre ihren Mitgliedern in solchen Fällen Rechtschutz. Der dritte Fotograf habe offenbar kurz nach seiner Festnahme einen Kreislaufzusammenbruch erlitten und befände sich noch im Krankenhaus.
Die Fälle waren publik geworden, nachdem Kollegen über die Festnahmen bei „Demowatch“ darüber berichtet hatten, einem Service der dju in ver.di, mit dem betroffene Journalistinnen und Journalisten über Zwischenfälle und Übergriffe bei Demonstrationen informieren und sich untereinander vernetzen können.
Die Erklärung der vier festgenommenen Fotografen im Wortlaut:
Am Vormittag des 30. April 2016 wurden im Bereich der Landesmesse Stuttgart während der Proteste gegen den AfD-Parteitag vier Fotojournalisten von der Polizei festgenommen. Dieser Vorfall wird von uns aufs Schärfste kritisiert und verurteilt. Als Vorwürfe stehen die Beteiligung an einer Sitzblockade auf der A8, schwerer Eingriff in den Straßenverkehr, Nötigung und Landfriedensbruch im Raum.
Drei der vier Kollegen wurden auf der Plieninger Seite des „Bosch-Parkhauses“ von der Polizei festgesetzt und für mindestens 11 Stunden in Gewahrsam gebracht. Einer der Kollegen erlitt noch während der Erfassung seiner Daten in der Gefangenensammelstelle in Messe-Halle 9 einen Kreislaufzusammenbruch und wurde in ein Krankenhaus gebracht. Die beiden verbliebenen Kollegen wurden mit Kabelbindern gefesselt und in eine aus Bauzäunen errichtete Zelle in der Halle gesperrt. Immer wieder wiesen sie darauf hin, dass sie einer journalistischen Tätigkeit nachgegangen sind und sich auch zweifelsfrei als Journalisten ausweisen können.
Im Laufe des Vormittags kam ein vierter Fotograf in die Gefangenensammelstelle. Er wurde zuvor mehrere Stunden auf einem nahe gelegenen Feld festgehalten. Diesem wurde angeboten, sein Fotomaterial heraus zu geben, um auf eine verfrühte Entlassung aus dem Gewahrsam hoffen zu können. Die Herausgabe wurde jedoch verweigert. Bei Journalisten handelt es sich nicht um Gehilfen der Polizei, welche den Beamten vermeintliches Beweismaterial zur Verfügung stellen müssen.
Kurze Zeit später wurden zwei der drei Inhaftierten einer Haftrichterin vorgeführt. Dieser war es scheinbar egal, dass es sich bei den drei Personen um Journalisten handelte und betonte, dass es einen Grund haben müsse wenn die Polizei sie festgenommen hat, welcher in den Unterlagen vermerkt wurde. Die Kollegen verweigerten ohne anwaltliche Beratung jedoch die Aussage zu den Vorwürfen. Darauf hin wurde von der Richterin ein „schöner erster Mai hier bei uns“ gewünscht, mehrere Stempel und Unterschriften durch die Richterin geleistet und die Anhörung beendet.
Einer der Fotografen wurde komplett erkennungsdienstlich behandelt. Portrait- und Profilfotos wurden erstellt, Fingerabdrücke genommen sowie eine Personenbeschreibung durchgeführt. Ein anderer wurde zusammen mit einem Aktivisten in eine Gewahrsamzelle im Flughafen gebracht. Dort mussten sich beide bis auf Socken, Unterhose und T-Shirt ausziehen. Auf die Frage nach dem Grund dieser Maßnahme, sagte der Polizeibeamte :“Weil ich es sage.“
Nach insgesamt etwa 12 Stunden waren alle inhaftierten Journalisten wieder entlassen. Der dritte verbliebene Fotograf musste in der Gefangenensammelstelle ärztlich behandelt werden. Er klagte über Übelkeit und Kopfschmerzen. Es konnten Herzrhytmusstörungen festgestellt werden, worauf hin er ebenfalls in ein Krankenhaus verlegt wurde. Alle vier Kollegen waren an diesem Tage fast komplett zum Untätigsein verdammt und konnten ihrer Arbeit, der Berichterstattung über die Proteste und den Polizeieinsatz, nicht nachgehen. Für alle vier Kollegen wurde ein Platzverweis bis 1. Mai 2016 20 Uhr ausgesprochen. Hierbei handelt es sich um gleich mehrere Verstöße der Polizei an diesem Tag. Der schwerwiegendste ist sicherlich der erhebliche Eingriff die Pressefreiheit.
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