Von Tape Lago – Pforzheim. In der Innenstadt von Pforzheim im Nordwesten Baden-Württembergs demonstrierten am Samstag, 11. Mai, 1500 Menschen gegen einen Aufmarsch der neonazistischen Kleinpartei „Die Rechte“ mit rund 90 Neonazis, die offen dem Nationalsozialismus huldigen und seine Rückkehr in Deutschland fordern durften. Sie brüllten durch leere Straßen „Deutschland den Deutschen, kriminelle Ausländer raus – und der Rest auch. Nationaler Sozialismus jetzt“. Gegen den Naziaufmarsch waren direkte Proteste in Hör- und Sichtweite nicht möglich, weil die Polizei den Versammlungsort der Hitler-Getreuen am Hauptbahnhof und vor allem deren Demoroute in der östlichen Innenstadt hermetisch und weiträumig abschirmte.
Zu den Protesten gegen die Neonazis hatten Antifa-Gruppen, die Initiative gegen Rechts Pforzheim, das Bündnis „Pforzheim Nazifrei“, der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), weitere Organisationen der Zivilgesellschaft und die Kirche aufgerufen.
Die Polizei war mit über 1300 Kräften im Einsatz. Sie ließ den Protest gegen die Anhänger des Nationalsozialismus im Keim ersticken, schränkte die Pressefreiheit ein und setze Pfefferspray und Schlagstöcke gegen AntifaschistInnen und NazigegnerInnen ein. So konnten sich die Neonazis wohl und sicher fühlen und anschließend gegen AntifaschistInnen, Linke und Minderheiten hetzen.
- Polizeilicher Schutz …
- … für Neonazis …
- … mit allen Mitteln
Verletzte NazigegnerInnen
Nach den Protesten gegen den Aufmarsch der neonazistischen Kleinpartei „Die Rechte“ meldete die Demosanitäter-Sanitätsgruppe Süd-West 19 verletzte GegendemonstrantInnen. Die NazigegnerInnen seien durch den Einsatz von Pfefferspray und Schlagstöcken verletzt worden.
Acht DemonstrantInnen erlitten chirurgische Verletzungen, meist durch Schlagstockeinsatz. Zehn weitere Protestierende mussten wegen Pfefferspray behandelt werden. Eine weitere Person soll sich aufgrund einer „internistischen Problematik“ in Behandlung begeben haben. Zwei der verletzten Personen mussten mit dem Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht werden, teilte der Einsatzleiter der DemosanitäterInnen mit.
Während die Einsatzkräfte der Demosanitäter den Tag über ohne Behinderung ihrer Arbeit nachkommen konnten, soll es zum Ende des Einsatzes doch noch zu einer unerfreulichen Situation gekommen seien. Polizeikräfte hätten einen Sanitäter eine Treppe hinunter gestoßen und mit dem Schlagstock geschlagen.
Der Sanitäter wurde nicht verletzt, weil er von anderen Personen aufgefangen wurde. Ein solches Vorgehen gegen Sanitäter im Hilfseinsatz sei völlig inakzeptabel und zu verurteilen, erklärte die Demosanitäter-Sanitätsgruppe Süd-West in einer Pressemitteilung. Die Zahl der Verletzten sei bislang der Polizei angeblich nicht bekannt. Grund: Die Verletzten hätten sich bei der Polizei nicht gemeldet.
Angriff auf die Pressefreiheit
Mehr als 1300 Polizeikräfte waren im Einsatz, um einen störungsfreien Naziaufmarsch zu ermöglichen und rund 90 Neonazis vor angeblichen gewaltbereiten GegendemonstrantInnen zu schützen. Doch die Polizei schaffte es nicht, die Pressefreiheit zu respektieren und konsequent zu schützen. Stattdessen schrieb sie PressevertreterInnen vor, wie sie sich zu verhalten hätten, um Übergriffe von Neonazis auf sie zu vermeiden.
Statt den Neonazis klar zu machen, dass die Pressefreiheit ein hohes Gut ist und FotografInnen und andere JournalistInnen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht angegriffen und behindert werden dürfen, schränkte die Polizei selbst die Freiheit der Berichterstattung ein.
So wurden PressevertreterInnen von der Polizei aufgefordert, 10 Meter Abstand zum Demonstrationszug der Neonazis zu halten und sich den Anhängern des Nationalsozialismus nicht weiter zu nähern. Unser Team, das während des Naziaufmarsches unter Beobachtung stand, wurde immer wieder von PolizistInnen behindert.
Ein BN-Fotograf wurde von einer Polizistin aufgefordert, die Neonazis nicht zu provozieren. Auf Nachfrage, was sie denn damit genau meinen würde, kam von dieser Pressesprecherin der Polizei eine überraschende Begründung. Unser Fotograf hätte ein sehr großes Objektiv, das provozierend wirken würde. Er dürfe auch auf keinen Fall Porträtaufnahmen von Personen machen, da dies nicht erlaubt sei. Nachdem unser Kollege dieser offenbar unwissenden Beamtin die tatsächliche Rechtslage ausführlich dargelegt hatte, gab sie ihre Belehrungsversuche schließlich auf.
BN-Chefredakteur mit Platzverweis bedroht
Abseits der Neonazi-Abschlusskundgebung packte eine Pressesprecherin der Bundespolizei einen Fotografen der Beobachter News mit Gewalt am Rucksack und drohte ihm mit einem „Rausschmiss“. Unser Kollege wollte nur hinter eine Gruppe von PolizistInnen gehen, um sich dort das Gesicht abzutrocknen. Er wollte nicht von Neonazis fotografiert werden. Seine Handlung wurde von der „übermotivierten“ Polizistin als „Verstoß gegen die Polizeiregeln“ bewertet.
Bei der Abreise der Neonazis kam es zu Pfefferspray- und Schlagstockeinsatz der Polizei gegen AntifaschistInnen, die es auf den Bahnsteig der wartenden Neonazis geschafft hatten, um dort gegen sie zu protestieren. Sie wurden von Polizisten die Treppe gewaltsam hinunter geschubst. Die angreifenden Polizisten sollen keine Rücksicht auf Verluste genommen haben. Es gab Verletzte. Eine Gegendemonstrantin musste ins Krankenhaus gebracht werden, um dort weiter behandelt zu werden.
Als das Team der Beobachter News die Geschehnisse in der Bahnhofsunterführung dokumentieren wollte, wurde Chefredakteur Alfred Denzinger und sein Mitarbeiter von derselben Bundespolizistin mit einem Platzverweis bedroht. Denzinger bat um eine Begründung für die Androhung des Platzverweises. Offenbar meinte die Beamtin über hellseherische Fähigkeiten zu verfügen. Sie gab an, aus Erfahrung zu wissen, dass es bei der Pressearbeit zu Behinderungen der „polizeilichen Maßnahme“ kommen würde. In der Unterführung behandelten und versorgten DemosanitärInnen verletzte GegendemonstrantInnen.
Die Polizei hielt weitere Gegendemonstranten dort fest, durchsuchte sie und stelle ihre Identität fest. Als unser Chefredakteur einen schriftlichen Platzverweis von der Polizistin verlangte und von einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen sie sprach, verzichtete die Polizeibeamtin auf den Platzverweis.
Riesenaufwand für den Schutz von rund 90 Neonazis
Vor Beginn der Proteste gegen die Neonazis sperrte die Polizei das Bahnhofsviertel, die Nordstadtbrücke und die Naziroute im östlichen Teil der Innenstadt hermetisch und weiträumig ab. Sie mobilisierte über 1300 BeamtInnen und schweres Gerät, um rund 90 Neonazis der Kleinpartei „Die Rechte“ einen störungsfreien Aufmarsch zu ermöglichen.
Die neonazistische Partei hatte 200 TeilnehmerInnen angemeldet. Doch gekommen waren weniger als die Hälfte. Die Polizei habe so viele Kräfte mobilisiert, weil die Kommunal- und Europawahlen bevorstünden und man keine Partei habe benachteiligen wollen – auch die Neonazi-Partei nicht, so ein Polizeisprecher.
Der Aufwand für den Schutz der Neonazis, die offen Israel als Unglück betrachten und Deutschland in seiner jetzigen Form ablehnen und als Staat abschaffen wollen, war enorm. So wurde die Stadt von der Polizei in Ausnahmezustand versetzt. Zuletzt war die neonazistische Partei mit ihren Wahlplakaten aufgefallen, auf denen sie unter anderem erklärten: „Wir hängen nicht nur Plakate“.
AntifaschistInnen und Linke als „Feindbild“
Schon bei ihrer Ankunft am Hauptbahnhof wurden AntifaschistInnen aus Karlsruhe und Landau in der Unterführung von der Polizei ohne erkennbaren Grund festgesetzt. Ziel der Polizei sei es gewesen, die Personalien aller Reisenden festzustellen und sie zu durchsuchen. Nachdem die Polizei ihre Maßnahme bei drei Personen durchgeführt hatte, schritt ein Anwalt ein, um die „illegale Praxis“ zu beenden.
Auch AntifaschistInnen aus Stuttgart und dem Rems-Murr-Kreis mussten sich gegen eine solche Maßnahme bei ihrer Ankunft am Hauptbahnhof wehren. Zu diesem Zeitpunkt war der Bahnhofsvorplatz bereits weiträumig abgesperrt. Neben dem Bahnhofseingang hatte die Polizei einen Wasserwerfer postiert. Zudem soll es auch in der Innenstadt Personenkontrollen und Identitätsfeststellungen gegeben haben. Die NazigegnerInnen fühlten sich von der Polizei schikaniert und kriminalisiert.
Demonstration zum Abschiebegefängnis
Der Protesttag startete kurz nach 11 Uhr mit einer Demonstration des Antirassistischen Netzwerks Baden-Württemberg. Ziel der Demonstration war es, noch vor Beginn des Protests gegen die Neonazis ein starkes Zeichen gegen die Abschiebepraxis der Bundesregierung, das Lagersystem, Nationalismus und rassistische Hetze zu setzen.
Nach einer kurzer Auftaktkundgebung auf der Rückseite des Hauptbahnhofs zog die Demonstration mit rund 150 TeilnehmerInnen zum Abschiebegefängnis. Dort wurde bei der Zwischenkundgebung ein Redebeitrag per Mobiltelefon aus dem Gefängnis gehalten.
Augenzeugenberichte zufolge stürmten rund 50 Polizisten das Abschiebegefängnis, um ein mutmaßlich „eingeschmuggeltes“ Telefon zu beschlagnahmen. Nachdem sich die Situation wieder beruhigt hatte, setzte sich der Demonstrationszug in Richtung Hauptbahnhof in Bewegung. Die TeilnehmerInnen skandierten lautstarke Parolen gegen Rechts und forderten einen Stopp der Abschiebungen und das Bleiberecht für alle Geflüchtete.
Neonazis: „Israel ist unser Unglück! Schluss damit!“
Als die antirassistische Demonstration um die Mittagszeit am Bahnhof ankam, standen dort bereits rund 50 Neonazis, abgeschirmt von einer starken Polizeimannschaft und geschützt von einem Wasserwerfer. Neben Vertretern des Landesverbands Baden-Württemberg war auch Florian Grabowski, Anführer des Landesverbands Südwest / Kameradschaft Rheinhessen und die Gruppierung Nationaler Widerstand Zweibrücken anwesend. Auch „Der Dritte Weg“ war mit einem Mitglied oder Sympathisanten vertreten.
- Wasserwerfer links hinten …
- … zum Schutz von Neonazis
- Dritter-Weg-Käppiträger
Auf dem Lautsprecherwagen war ein Plakat mit der Aufschrift „Israel ist unser Unglück! Schluss damit!“ auszumachen. Einige TeilnehmerInnen der rechtsextremen Partei hielten dasselbe Plakat in der Hand. Damit machten die Neonazis klar, wofür und wo sie politisch stehen. Die Neonazis seien von Grund auf Antisemiten und Rassisten. Sie würden, wenn sie die Macht hätten, Israel und die JüdInnen vernichten, so einige antifaschistische GegendemonstrantInnen.
- Klare Positionierung durch Wahlplakat
- Siegfried Borchardt, genannt SS-Siggi
Ein Gruppe von rund 40 Neonazis aus NRW – angeführt von Siegfried Borchardt, genannt SS-Siggi – traf wegen Problemen im Zugverkehr und eines Brands im Kabelschacht auf der Straßenbahnstrecke nach Pforzheim verspätet ein. Sie konnte an der Auftaktkundgebung nicht teilnehmen.
Polizei verhindert Proteste in Hör- und Sichtweite
Kurz nach dem Start des Naziaufmarsches setze sich der Gegendemonstrationszug mit mehreren Hundert Teilnehmerinnen Richtung Innenstadt in Bewegung. Daraufhin wurde eine Gegendemonstrantin ohne ersichtliche Gründe mit einem Schlagstock attackiert und musste ins Krankenhaus gebracht werden.
AntifaschistInnen, die versuchten, ihren Protest in Hör- und Sichtweite der Neonazis zu tragen, wurden von der Polizei mehrfach mit Pfefferspray und Schlagstöcken angegriffen. Währenddessen durften die Neonazis gegen Geflüchtete, MigrantInnen, Linke, PolitikerInnen, die EU und Israel hetzen. Der hassgeprägte Naziaufmarsch stieß auch auf Protest der Kirche. Glockengeläute machten deutlich, dass die Neonazis der Kleinpartei „Die Rechte“ unerwünscht seien.
Der Naziaufmarsch stand unter dem Motto „Festung Europa – für den Erhalt unserer Kulturen“. Dabei warb die rechtsextreme Partei um Wählerstimmen bei der Europawahl am 26. Mai für ihre Spitzenkandidatin Ursula Haverbeck, eine nationalsozialistische Aktivistin und Holocaust-Leugnerin, die eine zweijährige Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede verbüßt. „Die Rechte“ will Haverbeck aus dem Gefängnis nach Brüssel ins Europäische Parlament holen. Am Ende des Demotages zeigten sich die NazigegnerInnen wütend auf den „repressiven Polizeieinsatz“. Auch die Stadt Pforzheim steht in der Kritik.
Folgende Organisationen beteiligten sich an den Protesten gegen den Naziaufmarsch:
Antifaschistische Aktion (Aufbau) Stuttgart
Antifaschistische Aktion Karlsruhe
Antifaschistisches Aktionsbündnis Stuttgart und Region (AABS)
Antirassistischen Netzwerk Baden-Württemberg
Antifaschistische Jugend 76 (Karlsruhe)
Kandel gegen Rechts (KgR)
Offenes Antifaschistische Treffen (OAT) Karlsruhe
Offenes Antifaschistische Treffen (OAT) Landau
Offenes Antifaschistische Treffen (OAT) Rems-Murr
SJD Die Falken Pforzheim
VVN-BdA Kreisvereinigung Karlsruhe
Antifaschistische Aktion Südliche Weinstraße
Initiative gegen Rechts Pforzheim
Bündnis „Pforzheim Nazifrei“
Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB)
Omas gegen Rechts
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