Von Alfred Denzinger – Stuttgart. Nach sechs Monaten mit 20 Verhandlungstagen ging der Prozess gegen zwei junge Männer wegen einer Auseinandersetzung zwischen AntifaschistInnen und Mitgliedern der rechten Scheingewerkschaft „Zentrum Automobil“ zu Ende. In den Räumen des Oberlandesgerichts in Stammheim wurde am Mittwoch, 13. Oktober, das Urteil gegen die beiden Antifaschisten gesprochen. Das Urteil gegen den 20-jährigen Jo lautet viereinhalb Jahre, und gegen den seit 11 Monaten in Untersuchungshaft sitzenden 25-jährigen Dy fünfeinhalb Jahre Gefängnis wegen gefährlicher und schwerer Körperverletzung sowie schwerem Landfriedensbruchs. Vor dem Gerichtsgebäude hatten sich rund 100 AntifaschistInnen zu einer Solidaritätskundgebung versammelt und quittierten das Urteil mit lautstarkem Protest.
Das Landgericht unter Vorsitz des Richters Johannes Steinbach war davon überzeugt, dass die beiden Männer schuldig sind, am 16. Mai 2020 am Rand einer „Querdenker“-Kundgebung auf dem Cannstatter Wasen eine rechtsradikale Gruppe angegriffen und drei ihrer Mitglieder erheblich verletzt zu haben. Einer der Rechten, Andreas Z., erlitt dabei so schwere Kopfverletzungen, dass er einige Wochen im Koma lag. Nach Zeugenaussagen war Z. allerdings bewaffnet – unter anderen mit einem Schlagring.
Empörung über die Verurteilung
Nach der Verurteilung empörte sich Anja Sommerfeld vom Bundesvorstand der Roten Hilfe e. V.: „Mit seinem Urteil hat das Oberlandesgericht Stuttgart einmal mehr deutlich gemacht, dass es bei der Verfolgung von AntifaschistInnen nicht um eine rechtliche Würdigung der Beweislage geht, sondern um Abschreckung mit allen Mitteln. Durch derartig hohe Haftstrafen, die rein politisch motiviert sind, soll die antifaschistische Bewegung eingeschüchtert und AktivistInnen von ihrem Engagement gegen Nazis abgehalten werden. Ähnliche Methoden sehen wir unter anderem in Sachsen, wo die Ermittlungsbehörden die antifaschistischen Strukturen sogar als ‚kriminelle Vereinigung‘ verfolgen und drei Antifas um Lina vor Gericht zerren.“ Abschließend erklärte Sommerfeld: „Wir solidarisieren uns mit Jo und Dy und stehen an ihrer Seite. Wir fordern die sofortige Freilassung aller inhaftierten AntifaschistInnen und anderen politischen Gefangenen.“
Die Beweislage ist mehr als dürftig. Niemand konnte die Angeklagten im Gerichtssaal identifizieren. Das wäre auch mehr als seltsam gewesen, denn tatsächlich gesehen hat die beiden Angeklagten keiner bei dem Vorfall neben der Stuttgarter Arena. Der Prozess stützte sich nur auf wenige Indizien. So wurde in einer am Tatort gefundenen Tierabwehrpistole ein Haar von Dy gefunden. Ob mit der Pistole allerdings vor dem Auffinden jemals geschossen wurde, lässt sich nicht mehr feststellen. Denn die zuständigen Beamten haben vor dieser erheblichen Untersuchung zuerst mal selbst mit der Waffe geschossen – dies könnte der Jungfernschuss gewesen sein.
Auf einem Handschuh von Jo wurde eine DNA-Spur von Andreas Z. gefunden. Bei dieser Spur konnte im Prozess nicht ausgeschlossen werden, dass sie durch offenkundig gewordene schlampige Arbeit der Ermittlungsbeamten entstand. So hatte zum Beispiel ein Polizeibeamter am Tatort ohne die vorgeschriebenen Handschuhe die sichergestellten Gegenstände eingesammelt und zunächst gemeinsam gelagert. Folgerichtig argumentierte Rechtsanwalt Christos Psaltiras als Verteidiger, dass die DNS auch durch Spurenübertragung auf den Handschuh gekommen sein kann.
„Ich kenne einen, der kennt einen, der hat gehört …“
Den Hauptbeweis gegen Dy lieferte eine angeblich vorhandene „V-Person“. Diese Person, umgangssprachlich „Polizeispitzel“ genannt, soll von irgendjemandem aus der „linken Szene“ gehört haben, dass Dy am Angriff beteiligt gewesen sein soll. Dieser Phantomzeuge könne aber aus Schutzgründen nicht persönlich aussagen, so der „V-Person-Führer“, ein Staatsschutzbeamter, im Zeugenstand. Schließlich müsse man ihn ja vor einem Outing schützen. Auch eine Aussage per Videoaufzeichnung wurde vom Staatsschutz abgelehnt. Auf die Frage von Rechtsanwalt Andreas Baier, ob die „V-Person“ für ihre Aussage Geld bekam, antwortete der Staatsschützer: „Dafür habe ich keine Aussagegenehmigung“.
Klingt irgendwie wie „Südkolobatrisch“?!
Ein weiterer Beweis soll sein, dass ein Nebenkläger gehört haben will, dass ein Täter Kurdisch gesprochen habe. Zunächst habe er es als Serbisch eingestuft, aber dann habe er einen Arbeitskollegen gebeten, etwas auf Kurdisch zu sprechen, und das habe genau so geklungen, wie das, was er da am Tatort gehört habe.
Die Schlussplädoyers
Staatsanwältin Silke Busch forderte eine Verurteilung wegen gefährlicher und schwerer Körperverletzung sowie Landfriedensbruch in besonders schwerem Fall – eine Tötungsabsicht sei nicht nachzuweisen. Das Strafmaß setzte sie bei Jo auf 5 Jahre und bei Dy auf 6 Jahre Gefängnis an. Dieser Forderung schloss sich der CDU-Landtagsabgeordnete Reinhard Löffler als Nebenklageanwalt an.
„Dass die Staatsanwaltschaft jetzt dermaßen hohe Haftstrafen fordert, passt genau in dieses Schema einer Gesinnungsjustiz, die sich bewusst gegen linke und fortschrittliche Kräfte richtet“, erklärte Anja Sommerfeld von der Roten Hilfe am Rand des Prozesses zur Forderung der Staatsanwaltschaft.
Dubravko Mandic, ehemaliges AfD-Mitglied und Anwalt des Hauptgeschädigten Andreas Z., sah eine Verschwörung von Antifa und Politik gegen sich und seinen Mandanten. Die Justiz habe bewusst die Ermittlungsarbeit behindert, da von Seiten der baden-württembergischen Landesregierung ein politisches Interesse an der Bekämpfung von „Querdenkern und Andersdenkenden“ bestehe. Alle, die in der Gruppe mitgelaufen seien, hätten eine Tötungsabsicht gehabt. Es sei versuchter Mord gewesen, weshalb das von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafmaß zu niedrig sei. Mandic forderte für Jo 10 Jahre und für Dy 11 Jahre Haft wegen versuchten Mordes.
Rechtsanwalt Baier betonte, dass es sich um einen reinen Indizienprozess handle. Eine Verurteilung setze aber „tragfähige Tatsachengrundlagen“ voraus, also „harte Fakten“. Es gebe aber nur zwei Tatsachen. Zum einen, dass der Staatsschutzbeamte Müller im August 2020 zu einer „V-Person“ Kontakt hatte. Diese Person soll gesagt haben, „ich habe mitbekommen …“. Baier: „Ja von wem denn? Vielleicht von einem Jugendlichen … vielleicht wie in der Kinderpost?“ Es sei nicht vertretbar, dieses juristisch zu verwerten. Da es keine ernsthaften Tatsachen seien, müsse dieses Beweismittel außen vor bleiben. Der Beweiswert sei „praktisch Null“, so Baier. In Bezug auf das gefundene Haar im Lauf der Waffe stellte er die Frage: „Was beweist das?“ Es beweise vielleicht, dass sein Mandant vor Ort war. Aber letztlich sei auch das nur eine Vermutung. Es sei schließlich bekannt, dass Dy Freunde im linken Spektrum habe. Vielleicht habe sich Dy die Waffe irgendwann angeschaut, und später sei ein anderer mit ihr am Tatort gewesen. Letztendlich gebe es aber nur diese beiden Indizien, deshalb sei sein Mandant freizusprechen.
Rechtsanwalt Psaltiras forderte für seinen Mandanten Jo ebenfalls Freispruch. Er stellte die Frage, was denn zu Beginn „der angebahnten Tat“ gewesen sei? Ein verbaler Austausch? Ein Schlagabtausch? Möglicherweise sei es dann zur Bewaffnung des Andreas Z. mit dem Schlagring gekommen, und erst dann kam es vielleicht zur eigentlichen Tat. Eine Zeugenaussage und die DNA hätten bewiesen, dass Andreas Z. diesen Schlagring an der Hand gehabt habe. Auch müsse es bei einem Indizienprozess eine Indizienkette geben. Es gebe aber nur ein Indiz, nämlich das DNA-Ergebnis. Doch dieses sei nun einmal nicht eindeutig. Es sei genau das passiert, „was passieren kann“: Es habe sich DNA-Material übertragen. So gehe Beweisführung nicht.
Das letzte Wort der Angeklagten nutzte am Ende des 20. Prozesstags Jo für eine Prozesserklärung, die hier nachgelesen werden kann.
Auf der Internetseite „Antifaschismus bleibt notwendig“ wird zu einer Solidaritätsdemonstration mit den verurteilten Antifaschisten aufgerufen. Sie soll am Samstag, 23. Oktober, um 16 Uhr, am Stuttgarter Hauptbahnhof beginnen.
Kommentar
Das Schicksal von Nazis ist mir komplett gleichgültig, aber …
Der Rechtsstaat hat sich mit diesem Urteil keinen Gefallen getan. Wieder einmal zeigte die Justiz, dass man sich auf eine faire Prozessführung und auf ein faires Urteil nicht verlassen kann. Zumindest nicht, wenn man sich zum Antifaschismus bekennt. Dabei sollte eine antifaschistische Grundhaltung für jeden Menschen eine absolute Selbstverständlichkeit sein. Für die staatlichen Institutionen an vorderster Stelle, da in unserem Grundgesetz der Antifaschismus verankert ist. Eine Verurteilung ohne handfeste Beweise ist für einen Rechtsstaat mehr als unwürdig.
Die Geschichte mit dem (womöglich bezahlten) Polizeispitzel – den es real vielleicht gibt oder auch nicht – ist so erbärmlich, dass ich mich als deutscher Staatsbürger für ein Urteil auf Basis dieses angeblichen „Hauptbeweises“ zutiefst schäme. Ich gehöre jedenfalls nicht zu diesem Volk, in dessen Namen dieses Urteil gesprochen wurde. „Im Zweifel für den Angeklagten“ muss für alle Menschen gelten, selbstverständlich auch für AntifaschistInnen.
Fest steht, dass es zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei politisch konträren Gruppen kam. Einerseits eine Gruppe von Neonazis, die der rechtsradikalen Pseudo- und/oder Scheingewerkschaft „Zentrum Automobil“ zuzurechnen sind. Andererseits eine Gruppe von jungen AntifaschistInnen. Beide Seiten waren wohl teilweise bewaffnet. Wohlgemerkt: Beide! Es kam zu einer Art Schlägerei. Die Neonazis zogen dabei offenbar den Kürzeren. Das Ergebnis war jedenfalls, dass es drei verletzte Rechte gab. Bestimmt gab es auch verletzte AntifaschistInnen. Darüber ist allerdings nichts wirklich bekannt. Hätte es aber nicht auch andersrum ausgehen können? Hätte nicht etwa auch ein Antifaschist – oder mehrere AntifaschistInnen – am Boden liegen können? Wer das „Opfer“ Andreas Z. jemals real erlebt hat – ob im Gerichtssaal, bei Demonstrationen oder vor dem Stuttgarter Arbeitsgericht -, der kann keinerlei Zweifel haben, dass auch diese Variante möglich gewesen wäre. Also hätte auch ein Linker statt dieses Rechten im Koma liegen können.
„Das Schicksal von Nazis ist mir komplett gleichgültig; ob sie hungern, frieren, bettnässen, schlecht träumen usw., geht mich nichts an. Was mich an ihnen interessiert, ist nur eins: daß man sie hindert, das zu tun, was sie eben tun, wenn man sie nicht hindert: die bedrohen und nach Möglichkeit umbringen, die nicht in ihre Zigarrenschachtelwelt passen.“ Dieses Zitat des früh gestorbenen Autors und Satirikers Wiglaf Droste deckt sich mit meinen Gefühlen für die Opfer und ihre Gefolgschaft.
Aber letztlich stellt sich für mich eine Grundsatzfrage: Was nutzt dem Antifaschismus in unserem Land?
Die antifaschistische Bewegung muss in erster Linie breiter werden. Das bedeutet, dass man Überzeugungsarbeit in der Bevölkerung leisten muss. Man muss über die Machenschaften und die Ziele von rechtsradikalen, rechtsextremen, faschistischen Gruppierungen und Einzelpersonen aufklären. Man muss Veranstaltungen und Demonstrationen gegen die braune Brut organisieren. Wenn es möglich ist, dann muss man ihre Aufmärsche mit Massenblockaden verhindern. Antifaschistische (Alltags-)Arbeit ist sicher mühsam und oftmals auch „langweilig“. Aber ich bin davon überzeugt, dass eine körperliche Auseinandersetzung (ausgenommen Notwehr) mit dem politischen Gegner der antifaschistischen Bewegung und ihrem Ziel, breite Bevölkerungsschichten zu erreichen und zu gewinnen, absolut im Wege steht.
In diesem Sinne:
Man sieht sich… auf der Straße!
Siehe auch „Solidarität heißt zusammenstehen“
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