Von Sahra Barkini – Stuttgart. Der 1. Mai wurde dieses Jahr in Stuttgart überschattet von nicht nachvollziehbarer Polizeigewalt. Die Demo-Sanitätsgruppe Süd-West zählte 94 Verletzte, davon 28 bei der Demo des deutschen Gewerkschaftsbundes. „Ungebrochen Solidarisch“ war das Motto der diesjährigen Demonstrationen des DGB. Wie schnell es vorbei ist mit Solidarität, wurde in Stuttgart jedoch deutlich, als die Polizei den antikapitalistischen Block bei der Gewerkschaftsdemonstration stoppte. Grund für diesen Stopp war ein Rauchtopf und eine Papierwand, durch die DemonstrantInnen rennen wollten, um so quasi Symbole des Kapitalismus zu zerstören. Die Polizei reagierte mit Pfefferspray und Tritten gegen die DemonstrantInnen. Bei der Revolutionären 1. Mai Demo im Anschluss eskalierte die Polizei die Situation dann völlig (siehe auch unten den Kommentar von Ferry Ungar).
Der Demonstrationszug durfte unter sehr fadenscheinigen Gründen nicht starten. So wurden zu lange Banner oder medizinische Masken als Verstoß gegen die Auflagen gewertet. Im Lauf des Tages gab es zu mehreren Festnahmen und verletzten DemonstrantInnen. Bernd Riexinger, Bundestagsabgeordneter der Linken, verurteilt das Vorgehen der Polizei aufs Schärfste.
Die Gewerkschaftsdemonstration zum Kampftag der ArbeiterInnenklasse startete in Stuttgart auf dem Marienplatz und endete auf dem Marktplatz. Etwa 3000 Menschen nahmen teil. Viele verschiedene Gewerkschaftsgruppen, ArbeiterInnen, KommunistInnen, AnarchistInnen, KlimaaktivistInnen, KurdInnen, IranerInnen, Junge und Ältere zogen in einem bunten Demonstrationszug durch die Innenstadt. Die massive Polizeipräsenz in der Stadt und die PolizeibeamtInnen, die auf Höhe des antikapitalistischen Blocks über weite Teile Spalier liefen, waren ein Vorgeschmack für das, was noch kommen sollte.
Nur bedingt solidarisch
In der Hauptstätter Straße gab es den ersten Übergriff der Polizei auf den antikapitalistischen Block. Von den AktivistInnen wurde ein Rauchtopf gezündet. Dies rief die PolizistInnen auf den Plan, sie stoppten den Demonstrationszug und zogen weitere Kräfte heran. Sie benutzten das erste Mal an diesem Tag Pfefferspray. Der vordere Teil der Demo blieb einige Zeit solidarisch stehen. Allerdings nahm der DGB wohl sein eigenes Motto „ungebrochen solidarisch“ nicht besonders ernst. So zogen die Demo-TeilnehmerInnen weiter, obwohl ein großer Teil des Zuges noch blockiert war. Im Nachhinein wurden dann Entsolidarisierungen des DGB bekannt. Wahrscheinlich ist dem DGB nicht bewusst, dass auch im antikapitalistischen Block viele aktive Gewerkschaftsmitglieder sind, und er sich somit auch von eigenen Leuten entsolidarisiert hat.
Inzwischen waren beim antikapitalistischen Block auch eine Reiterstaffel und weitere Polizeikräfte im Einsatz. Und das, obwohl per Lautsprecherfahrzeug durchgesagt wurde, die DemoteilnehmerInnen dürften weiterlaufen, wenn alles ruhig bleibt. Es blieb ruhig – weiter ging es dennoch nicht. Ein Polizeipferd war von Beginn an extrem nervös. So hatte die Reiterin alle Mühe, das tänzelnde Pferd einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Ein weiterer Grund, warum der Block gestoppt war, war eine Papierwand. Diese, bemalt mit Symbolen des Kapitalismus, wollte die Demo offenbar einrennen. Grund genug für die Polizei, etwa drei Viertel der DGB-Demo über eine halbe Stunde festzuhalten. Während in Stuttgart das Einrennen dieser Papierwand angeblich eine Gefahr darstellte, hatte die Waiblinger Polizei bei der dortigen DGB-Demo damit kein Problem. Dort durften die AktivistInnen die Aktion durchführen.
Polizei vereitelt auch Revolutionäre Demo
Als der Demonstrationszug nach langer Polizeiblockade weiterziehen konnte, kam es kurz nach dem Charlottenplatz erneut zu einem Eingreifen der Polizeikräfte. Sie zogen zwei DemonstrantInnen aus der Demonstration und setzten sie kurzzeitig fest. Zumindest von einer Person ist bekannt, dass sie einen Platzverweis erhielt. Im Anschluss konnte der antikapitalistische Block weiter zum Schlossplatz. Dort sollte auch die Revolutionäre 1. Mai-Demo der Revolutionären Aktion Stuttgart beginnen. Hier nahmen laut VeranstalterInnenangaben 700 Menschen teil. Nach den Vorkommnissen bei der DGB-Demo herrschte zuerst wieder eine etwas entspanntere Stimmung. Es lief Musik, und die TeilnehmerInnen unterhielten sich.
Es wurde jedoch schnell klar, dass die Polizei offenbar nicht wirklich die Absicht hatte, die Demonstration starten zu lassen. BeamtInnen standen schon während der Auftaktkundgebung mitten in der Kundgebungsfläche und zogen sich auch nach Aufforderung nicht zurück. Und auch die Demostrecke war durch Polizeikräfte blockiert. Dies könnte man als Provokation sehen. Es wurde mittels Lautsprecherwagen und während einer Rede mitgeteilt, dass medizinische Masken als Vermummung gewertet würden. Seitentransparente dürften nur 1,50 Meter lang sein, und zwischen den Seitentransparenten müssten 2 Meter Platz sein.
Als man dachte, die Demonstration werde endlich starten, zerrten die PolizistInnen nur eine weitere Person aus der Demonstration. Nach über einer Stunde entschlossen sich die DemonstrantInnen, die revolutionäre Demo selbstbestimmt zu beginnen. Sie versuchten, einen Demonstrationszug über die Königstraße Richtung Rotebühlplatz zu starten. Hierbei kamen sie nicht weit, und es kam zu massivem Einsatz von Pfefferspray, gepaart mit Schlägen und Tritten durch Polizeikräfte. Und die DemonstrationsteilnehmerInnen standen wieder.
Neben Polizeipferden auch Hunde
Inzwischen wurde auch das sehr nervöse Polizeipferd ausgetauscht. Es hatte die anderen Pferde mit seiner Unruhe angesteckt. Statt nur nervöser Pferde hatten die PolizistInnen nun auch noch aggressive Hunde im Einsatz. Nach einiger Zeit sah es dann so aus, als dürften die DemonstrantInnen doch noch ihren Demonstrationszug durchführen. Die Demonstration setzte sich vom Schlossplatz Richtung Stauffenbergplatz in Bewegung. Doch nach wenigen Metern war dort wieder Schluss. Es gab wieder gewalttätige Zugriffe der Polizei. Und verletzte Personen.
Am Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus ließen die Polizeikräfte die DemosanitäterInnen nicht zu einer verletzten Person. Dies kritisierte der Stuttgarter Stadtrat Luigi Pantisano (die FrAktion) in den sozialen Medien. Nach Redebeiträgen brach der Versammlungsleiter die Demonstration ab. Allerdings wurde auch die Abreise der TeilnehmerInnen der Demonstration durch Polizeikräfte verhindert. So wollte die Polizei nicht, dass die DemonstrantInnen in größeren Gruppen zur nahen Stadtbahnhaltestelle gehen. Das Weggehen dürfe keinen „Aufzugscharakter“ haben. Schließlich konnten die TeilnehmerInnen der Demonstration doch noch den Karlsplatz verlassen. Einige von ihnen fuhren zum Internationalistischen Fest ins Lilo-Herrmann-Haus nach Heslach.
Dort startete noch eine Spontandemonstration in Richtung linkem Zentrum, aber auch hier zog die Polizei Kräfte zusammen und verhinderte sie. Und es kam wieder zu Verletzungen durch Pfefferspray.
Wieder einmal war in Stuttgart eine Leistungsschau der Polizei zu bewundern. Neben Reiterstaffel, BFE, Hundertschaften, Hundestaffel waren Drohnen im Einsatz. Die Demonstrationen wurden gefilmt und einzelne Porträtaufnahmen angefertigt.
Scharfe Kritik am Vorgehen der Polizei
Der Stuttgarter Linken-Bundestagsabgeordnete Bernd Riexinger veröffentlichte am 2. Mai eine Pressemitteilung, in der der den Polizeieinsatz kritisierte: „Die Polizei hat am 1. Mai in Stuttgart grundlos und ohne jegliche Verhältnismäßigkeit über den Tag verteilt Gewalt gegen die friedlichen Demonstrationen ausgeübt. Das Tragen von medizinischen Masken, die Maße von Banner und das Zünden von farbigem Rauch rechtfertigt eine solche Eskalation von Seiten der Polizei nicht. Gegen junge und ältere DemonstrantInnen wurden Schlagstöcke und Pfefferspray eingesetzt. Ich habe selbst mit angesehen, wie die Polizei grundlos auf die DemonstrantInnen einschlägt. Diese Gewalt von Seiten der Polizei verurteile ich aufs Schärfste.“
Neben Pantisano, Hannes Rockenbauch und Riexinger berichtete auch Ralf Blankenfeld (die Stadtisten) auf seiner Facebookseite über seine Eindrücke bei den Demos. So schrieb er: die Polizei, „die sich offensichtlich vorgenommen hatte, die aberwitzigen Versammlungsauflagen der Stadt Stuttgart bis aufs letzte Komma umzusetzen“, sei „unnötig aggressiv“ aufgetreten. Weiter kritisierte er, dass bei anderen Demonstrationen Auflagenverstöße toleriert wurden. Dies zeige eine „willkürliche Machtdemonstration“. Man denke nur an die vielen Versammlungen der sogenannten „Querdenker“ die sich an keinerlei Auflagen hielten und zu 15 000 durch Stuttgart zogen, aber weder Abstände einhielten noch Mund-Nasen-Schutz trugen obwohl es Auflage war. Die Polizei freilich griff damals nicht ein. Sie war damit beschäftigt, 250 AntifaschistInnen einzukesseln, damit sie den Querdenker- und Nazi-Aufmarsch nicht stören konnten. In den großen Stuttgarter Zeitungen wurde wie so oft nur die Pressemitteilung der Polizei veröffentlicht. Diese verschweigt die mindestens 94 Verletzten, die vom Team der DemosanitäterInnen behandelt wurden.
Die Pressemitteilung der DemosanitäterInnen in Auszügen:
„(..)Bereits zu Beginn der DGB-Demonstration am Marienplatz war ein massives Polizeiaufgebot vor Ort. Im Verlauf wurde der antikapitalistische Block plötzlich ohne erkennbaren Grund vorübergehend durch die Polizei am Weiterlaufen gehindert und kurz darauf mit Pfefferspray angegriffen, sodass wir eine zweistellige Zahl an Patient*innen behandeln mussten. (28x Pfefferspray, 1x chirurgisch)(..) Nachdem die Polizei auch nach einer längeren Wartezeit den Demonstrierenden ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit verweigerte, setzte sich die Demonstration trotzdem in Bewegung. Es folgten mehrere heftige Angriffe der Polizei auf die friedliche Demonstration. Dabei wurden zahlreiche Demonstrierende, vor allem durch Pfefferspray, verletzt (38x Pfefferspray, 5x chirurgisch, 1x internistisch, 4x psychisch | 1x Krankenhausbehandlung notwendig). Aufgrund des massiven Gewalteinsatzes der Polizei, musste die Demonstration am Karlsplatz nur wenige Meter von der Auftaktkundgebung entfernt für beendet erklärt werden.
Bei der Ankunft vieler Demonstrierender am 1. Mai Fest am Linken Zentrum Lilo Herrmann in Stuttgart-Heslach ereignete sich kurz darauf der dritte unerfreuliche Vorfall. Auch hier tauchte die Polizei mit einem Großaufgebot auf und griff unerwartet Teilnehmer*innen an. Es kam erneut zu einem Pfeffersprayeinsatz (16 Pfefferspray, 1x internistisch).
Die Sanitätsgruppe Süd-West e.V. ist sprachlos angesichts des eskalativen Vorgehens der Polizei und der massiven Gewalt, die von den Polizeieinsatzkräften gegen friedliche Demonstrant*innen eingesetzt wurde. Im Sinne einer Prävention künftiger Ereignisse dieser Art mit vielen Verletzten kritisieren wir das Verhalten der Polizei scharf und fordern sie auf, zukünftig die Grundrechte von Demonstrierenden zu wahren.
Gesamtzahlen Verletzter: 82x Pfefferspray, 6x chirurgisch, 4x psychisch, 2x internistisch
Insgesamt 94 Behandlungen. Eine Krankenhausbehandlung war notwendig. Von einer hohen Dunkelziffer Verletzter ist auszugehen. (Hier die vollständige Pressemitteilung.)
Kommentar von Ferry Ungar:
Weder Freund und Helfer, noch Kollege!
Sag mal „Kollege“ Polizist, geht’s noch?!
Du siehst Dich als Teil des DGB, Du gibst vor, unsere Werte zu schützen, Du forderst, dass man Dich respektiert und achtet. Das kann ich zunächst natürlich verstehen. Aber Achtung und Respekt muss man sich verdienen.
Bei Deinem Auftritt am 1. Mai in Stuttgart, dem Kampftag unserer Klasse, benahmst Du Dich – vermummt und gewalttätig – wie die Axt im Wald. Du schlägst ohne Notwendigkeit auf demonstrierende GewerkschaftskollegInnen ein und verletzt diese. Du verhinderst ihr grundgesetzlich geschütztes Recht auf Demonstrationsfreiheit.
Es reicht! Du bist weder Freund und Helfer, noch bist Du ein Kollege. Du bist ganz einfach ein williger Handlanger des kapitalistischen Systems! In Deiner Pressemitteilung behauptest Du dann auch noch, Du seist von den DemonstrantInnen angegriffen worden und hättest erst dann mit Gewalt darauf reagiert; quasi aus Notwehr. Jede und jeder, der/die das am 1. Mai in Stuttgart erlebt hat, erkennt, was von Dir wirklich zu halten ist. Der DGB sollte Dich endlich ausschließen, denn Du bist keiner von uns. An Deiner Stelle würde ich mich in Grund und Boden schämen!
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