Von Sahra Barkini – Stuttgart. Etwa 110 Personen beteiligten sich am Samstag, 26. Juni, in Stuttgart an einer Bündniskundgebung zum 80. Jahrestag des Überfalls Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion. Auf einem Transparent der DKP war zu lesen: „Frieden mit Russland und der VR China! Raus aus der Nato! Abrüsten statt Aufrüsten!“ KundgebungsteilnehmerInnen trugen Fahnen der Didf, SDAJ, VVN-BdA und der DKP, außerdem Regenbogen-Pace-Fahnen. Von der Stadt Stuttgart wurde eine neue Erinnerungskultur gefordert. Das Leid der Zwangsarbeiter aus Russland und Polen dürfe nicht in Vergessenheit geraten.
“Nie wieder sollte Krieg von deutschem Boden ausgehen: Das war nach 1945 Konsens in der deutschen Bevölkerung. Wir haben heute die besondere Verpflichtung gegenüber den Menschen in Russland, dafür Sorge zu tragen, dass von deutschem Boden Friedenspolitik ausgeht“, erklärte Christa Hourani in ihrer Begrüßungsrede. In einer weiteren Rede beleuchte der Historiker und VVN-BdA-Vorsitzende Lothar Letsche die historischen Hintergründe. Günther Balz (evangelischer Pfarrer im Ruhestand) sprach über die Verantwortung von Christen für den Frieden, Jürgen Wagner von der IMI (Informationsstelle Militarisierung) befasste sich mit der heutigen Friedensbedrohung, und Verdi-Geschäftsführer Cuno Brune-Hägele sprach über die Aufgaben der Gewerkschaften in der Friedenspolitik.
Für die musikalische Umrahmung der Gedenkveranstaltung sorgten „Die Marbacher“.
- DKP: „Frieden mit Russland …“
- Pfarrer Günther Balz
Die Samstagskundgebung war der Abschluss einer ganzen Reihe von Veranstaltungen rund um den Jahrestag. Bereits am eigentlichen Jahrestag, dem 22. Juni, gab es am Hauptfriedhof (Steinhaldenfeld) in Bad Cannstatt eine Kranzniederlegung und eine Kundgebung beim Denkmal der Zwangsarbeiter von Daimler. Beides war organisiert von der DKP.
„Nie dagewesene Grausamkeit“
Lothar Letsche bezeichnete in seiner Rede den Überfall auf die Sowjetunion unter Bruch eines Nichtangriffsvertrags als Verbrechen. Was damit begann, er zitierte den Bundespräsidenten, „war die Entfesselung von Hass und Gewalt, die Radikalisierung eines Krieges hin zum Wahn totaler Vernichtung. Vom ersten Tage an war der deutsche Feldzug getrieben von Hass: von Antisemitismus und Antibolschewismus, von Rassenwahn gegen die slawischen und asiatischen Völker der Sowjetunion. Die diesen Krieg führten, töteten auf jede erdenkliche Weise, mit einer nie dagewesen Brutalität und Grausamkeit. Die ihn zu verantworten hatten, die sich ihrem nationalistischen Wahn gar noch auf deutsche Kultur und Zivilisation beriefen, auf Goethe und Schiller, Bach und Beethoven, sie schändeten alle Zivilisation, alle Grundsätze der Humanität und des Rechts. Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion war eine mörderische Barbarei.“
Verbrecherisch waren auch die Kriegsziele. Das Verhungernlassen von 30 Millionen Menschen war von vornherein einkalkuliert. Ein Verbrechen war auch die Kriegsführung der Wehrmacht, der barbarische Terror gegen die Zivilbevölkerung, der sogenannte Kommisarbefehl. Die fast dreijährige Belagerung von Leningrad (St Petersburg), wo 1 Million Menschen starben. Verbrecherisch war auch der Plan der Nazis, „das Judenproblem zu lösen“, wie sie es nannten. Dieser Plan trat mit dem Überfall auf die Sowjetunion in ein entscheidendes Stadium. Noch lange vor Auschwitz wurde hier mit den Massenmorden an Juden und Jüdinnen begonnen.
„Einer der schlimmsten Schlächter, der sich hier hervortat, war der Stuttgarter Gestapo-Chef Walter Stahlecker, so Letsche. Der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war der vorletzte Baustein vor dem Überfall der Japaner auf die Flotte der USA in Pearl Harbor am 7. Dezember 1941, der den zweiten Weltkrieg zu einem solchen machte.
Jürgen Wagner (IMI) sagte: „Wir sind heute hier, um gegen den Umbau der Bundeswehr in Richtung Großmachtkriege zu protestieren! Und wir sind hier, um gegen den militärischen Aufmarsch an der russischen Grenze zu protestieren.“ Er sprach auch über ein Bataillon in Litauen unter deutscher Führung, das momentan durch Hitlerverehrungen durch deutsche Soldaten von sich reden macht.
Cuno Brune-Hägele sagte: „Rassismus in seiner brutalsten und umfassenden Form diente als Begründung für die Ermordung und das Aushungern von Millionen und für die Vertreibung von Dutzenden Millionen Slawen und Juden, schließlich auch für die Ausbeutung von Millionen verschleppter Männer und Frauen als Arbeitssklaven im Deutschen Reich und innerhalb der Weltmacht.“ Ziel sei die ausnahmslose Ausrottung der jüdischen Bevölkerung, die Vernichtung sämtlicher Führungskräfte in Wirtschaft, Verwaltung und Politik der Sowjetunion gewesen.
„Abrüsten ist das Gebot der Stunde“
Die Gräuel und Verbrechen der deutschen Wehrmacht, der SS und anderer militärischer und paramilitärischer Einheiten seien bekannt. Am 8. Mai 1945 hatte dieser Wahnsinn ein Ende. Dennoch sind bis zu diesem Zeitpunkt 27 Millionen BürgerInnen der Sowjetunion diesem faschistischen Wahnsinn zum Opfer gefallen. „Dieser gedenken wir heute“, sagte Brune-Hägele: „Aus der Geschichte lernen heißt Frieden bewahren.“ Aber auch während der Corona Pandemie seien die Rüstungsausgaben nahezu verdoppelt worden. Es handle sich um mindestens 30 Milliarden Euro, die im zivilen Bereich – etwa bei Kitas, Schulen, o, sozialem Wohnungsbau, in Krankenhäusern, beim öffentlichen Nahverkehr etcetera – fehlten.
Diese stetig wachsende Militarisierung zeige die wahren Prioritäten der Regierungen dieser Welt. Doch für GewerkschafterInnen müsse die Forderung lauten: „Keine weitere Erhöhung der Rüstungsausgaben, senkt die Rüstungsausgaben, keine nukleare Teilhabe, Abrüsten ist das Gebot der Stunde, und dazu gehört ein klares Nein zu Rüstungsexport und Auslandseinsätzen der Bundeswehr.“ Er schloss seine Rede mit den Worten: „Frieden schaffen ohne Waffen, das steht auf unserem Banner. Denn es hat nie geheißen, ‚Arbeiter aller Länder zerbombt euch!‘ Mir, Druzhba – für Frieden, Freundschaft und Völkerverständigung“.
Das Bündnis verfasste einen Brief an den Stuttgarter Oberbürgermeister Dr. Frank Nopper und den Gemeinderat. Das Schreiben wurde auf der Kundgebung verlesen. In ihm kritisiert das Bündnis, dass sowjetische Denkmäler kaum gekennzeichnet und nicht gepflegt seien. So drohten Erinnerungen zu verblassen. Die Unterzeichner fordern in diesem Brief, der nachfolgend im Wortlaut zu finden ist, eine andere Erinnerungskultur.
Der Brief des „Bündnis 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion“ im Wortlaut:
„Werter Herr Oberbürgermeister, werte Damen und Herren des Stuttgarter Gemeinderats,
von unserer Kundgebung zum 80. Jahrestag des Überfalls von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion wenden wir uns mit einem dringenden Brief an Sie.
Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht trotz des Nichtangriffsvertrags die Sowjetunion. Die Nazi-Truppen töteten bereits in den ersten Monaten Millionen sowjetischer Soldaten und Zivilisten oder verschleppten sie als Arbeitssklaven. Der faschistische Angriff scheiterte zum Glück, hinterließ jedoch unendliche Verwüstungen – und die Arbeitssklaven landeten auch in Stuttgart.
Polen und Russen wurden anders als die „Westarbeiter“, die zum Teil in Privatunterkünften wohnten und sich zumindest anfangs frei bewegen konnten, in umzäunten und bewachten Lagern untergebracht. Bei Daimler war der oberste, am stärksten gefährdete Stock der Luftschutzräume für „Ostarbeiter“ bestimmt. Ähnlich war es bei den Arbeitszeiten: Arbeiteten die meisten ausländischen Kräfte bei Daimler-Benz 66 Stunden, ab 1944 72 Stunden in der Woche, so war die 80-Stundenwoche für sowjetische Arbeiter bereits seit 1942 Routine. Eine russische Arbeiterin: „Es gab eine Vesperpause, aber da wir nichts zu essen hatten, gingen wir auf die Toilette, um die Deutschen nicht essen sehen zu müssen.“
80 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion müssen wir das Gräberfeld von 651 sowjetischen Zwangsarbeitern auf dem Hauptfriedhof in Steinhaldenfeld nach wie vor suchen. Es gibt kein Hinweisschild am Eingang oder vor Ort. Auf dem Übersichtsplan am Eingang ist der Ort mit den Worten „Ostarbeiter Ehrenfeld“ gekennzeichnet. Das ist alles. Das auf der Website der Stadt Stuttgart propagierte Denkmal für die Zwangsarbeiter auf dem Hauptfriedhof gibt es nicht. Erinnerungskultur oder gar Vergangenheitsbewältigung geht anders. Es gibt weitere Gräberfelder dort wie das „Ehrenfeld Fliegeropfer“ für die „Opfer aus schwerer Zeit“ oder eins für die „Opfer der Gewalt“, wo es sich offensichtlich um KZ-Häftlinge aus Buchenwald, Dachau und so weiter handelt.
Es fehlen jegliche Erklärungen. um Beispiel warum war die Zeit „schwer“? In einer Gesellschaft, die sich sehr ihrer Werte rühmt, können wir so nicht weitermachen. In Zuffenhausen gab es drei große Zwangsarbeiterlager auf der Schlotwiese, Gehrenäcker, Seedamm und viele weitere kleine Unterkünfte. Keines existiert mehr. Nur beim Lager Schlotwiese gibt es ein Denkmal zur Erinnerung und Stolpersteine für ermordete Zwangsarbeiter – allerdings nur durch private Initiative. Es wäre an der Zeit, diese Orte des Schreckens kenntlich zu machen und würdig der Opfer zu gedenken. Auch in anderen Stadtteilen sind diese Orte nur für Eingeweihte erkennbar. Erklärungen gibt es keine. Gerade für jungen Menschen wären aber solche Erinnerungsstätten und Erklärungen notwendig, damit dieses düstere Kapitel nicht einfach verschwindet.
Auf der Homepage der Landeshauptstadt Stuttgart wird auf der Unterseite „Denkmäler und Gedenkstätten“ das Mahnmal „Tag und Nacht“ zur Erinnerung und zur Mahnung an die Zwangsarbeiter bei der Daimler-Benz AG aufgeführt. Angegeben wird, dass das Mahnmal derzeit nicht öffentlich zugänglich sei.
Seit Ende 2018 steht das Mahnmal frei zugänglich in der Mercedes-Jellinek-Straße in Stuttgart gegen-über dem Mercedes-Benz-Museum. Auf der Website sollte umgehend der richtige Standort des Mahnmals genannt werden. Bei dieser Korrektur darf auf keinen Fall, wie auf der Gedenkplatte des Mahnmals „Tag und Nacht“, der Hinweis auf die Zwangsarbeit bei der Mercedes-Benz AG entfallen. Von Seiten des Daimler-Vorstandes wurde bereits 2005 versprochen, dieses Mahnmal beim neuen Daimler-Museum aufzustellen. Leider wurde dieses Versprechen nicht eingehalten, und es steht versteckt hinterm Museum. Wir fordern die Stadt auf, auf den Daimler-Vorstand einzuwirken, dass das Mahnmal seinen prominenten Platz vor dem neuen Daimler-Museum bekommt.
80 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion stellen wir fest: Wieder übt die Nato für den großen Krieg. Mit dem aktuellen Manöver „Defender europe 2021“ geht es mit 30 000 Soldaten wieder in Richtung Osten. Das Eucom in S-Vaihingen spielt als US-Kommandozentrale bei den Kriegsplanungen der Nato eine entscheidende Rolle. 80 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion fordern wir von der Stadt Stuttgart eine Erinnerungskultur, die auch die Hintergründe „der Gewalt“ beleuchtet, und ein Ende der Verdrängung und Verharmlosung der Verbrechen, die von diesem Land ausgingen. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!
Wir erinnern uns an Willi Bleicher, der auch auf dem Hauptfriedhof begraben ist. Er sagte: „Vergessen wir niemals die Erkenntnis, dass, wer für den Frieden ist, gegen den Krieg kämpfen muss.“
Mit antifaschistischen und Friedensgrüßen
Norbert Heckl,
Stuttgart, 26. Juni 2021″
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