Von Sahra Barkini und der Redaktion – Stuttgart. Es war die beeindruckende Demonstration eines breiten Bündnisses gegen Wohnungsnot, Leerstand und Spekulation durch die Stuttgarter Innenstadt mit an die 5000 TeilnehmerInnen. Doch dann griff die Polizei am Samstag, 6. April, ohne ersichtlichen Grund mehrfach und massiv mit Schlagstöcken und Pfefferspray ein. Eine Pressemitteilung zu ihrem gewaltsamen Vorgehen gab es nicht. Mit einiger Verzögerung ließ die Polizei am Montag Medien wie die „Stuttgarter Zeitung“ auf Anfrage wissen, sie habe eine mögliche Hausbesetzung verhindern wollen.
Die Demo-Sanitätsgruppe Südwest behandelte am Samstag nach eigenen Angaben 55 verletzte DemonstrantInnen – die meisten wegen der Folgen des Pfefferspray-Einsatzes. Es gab außerdem zwei chirurgische Verletzungen und zwei internistische Versorgungen. Zwei Beamte haben wohl in der Polizeischule beim Thema Pressefreiheit nicht aufgepasst – sie behinderte unseren Reporter und einen weiteren Pressevertreter beim Filmen. Nach der Demo kam es zu einer Besetzung des Hofbräuareals in der Böblinger Straße. Die Polizei war zwar mit mehreren Einsatzwagen vor Ort, griff aber nicht ein.
Am 6. April 2019 wurde in vielen deutschen und europäischen Städten gegen den Mietenwahnsinn und die Wohnungsnot demonstriert. In Stuttgart fiel der Startschuss um 14 Uhr auf dem Schlossplatz. Mit Schildern und Transparenten machten die etwa 5000 Menschen ihrem Ärger über die eklatante Wohnungsnot und die überteuerten Mieten in ihrer Stadt Luft.
Durch die etwa anderthalbstündige Auftaktkundgebung führten Sidar Carman, Gewerkschaftssekretärin von Verdi, und Joe Bauer, ehemaliger Kolumnist der „Stuttgarter Nachrichten“ und Stadtflaneur. Unter dem Schlagwort „#DruckimKessel“ hätten sich so viele Organisationen wie nie an dem Bündnis beteiligt – darunter Verdi, der Verein Trott-war, die Caritas, die Grünen, die Linke und die SPD. Es sei Zeit, gegen die verheerende Wohnungsnot auf die Straße zu gehen.
„Der Kessel steht unter Druck“
Joe Bauer gab auch die Parole des Tages aus: „Mieten runter – sonst gibt’s Zunder“. Sie wurde von den DemonstrantInnen bei der Kundgebung und während des Demozuges immer wieder skandiert. Bauer prangerte auch an, dass die Stadt Stuttgart in der Vorwoche das am 9. März besetzte Haus in der Forststraße 140 räumen ließ. Und zwar mit der Begründung, „es stört die öffentliche Ordnung“. Die Menschen würden aus der Stadt hinausgebaut. Irgendwann stünden so viele Häuser leer, dass die Stadt mit Räumen gar nicht mehr nachkomme.
Der Freestyle-Rapper MC Toba Borke machte mit seinen Beats Stimmung auf der Kundgebung und während der Demo. „Der Kessel unter Druck, die Mieten gehen hoch, das Gehalt wird geschluckt und Du schaffst wie ein Idiot“ war der Refrain des Kampagnen-Songs zur „Mieten runter“ Demo. Er sprach wohl vielen aus dem Herzen.
„Profitmaximierung ist kein Grundrecht“
Rolf Gaßmann vom DMB-Mieterverein und Christa Reuschle-Grundmann von der AG Freie Träger der Wohnungsnothilfe thematisierten die massiven Schwierigkeiten vieler Menschen, in Stuttgart bezahlbaren Wohnraum zu finden, die Mietenexplosion und den Leerstand. Gaßmann sagte: „Profitmaximierung ist weder ein Grund- noch ein Menschenrecht, bezahlbare Wohnungen dagegen schon.“ Bettina Öding von den Mieterinitiativen Stuttgart bemängelte, dass der Tenor oft „Häuser sind wie Menschen, nach 70 Jahren ist Schluss dann folgt der Abriss“ laute. Zwischendurch gab es Musik von der Ska Band „No Sports“.
Adriana Uda vom BesetzerInnen-Kollektiv „Wilhelm-Raabe-Straße 4“ stellte eine Frage an den Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn, der nicht anwesend war, obwohl die Grünen zu den BündnispartnerInnen zählten: „Wo sind die versprochenen Sozialwohnungen?“ Sie prangerte an, dass sich Parteien wie die Grünen im Wahlkampf zwar an solchen Bündnissen beteiligten, sonst aber keine große Hilfe von ihnen zu erwarten sei. Sie berichtete auch, dass die Besetzung im vergangenen Jahr viel Zuspruch aus der Mitte der Gesellschaft erfuhr und für viel Wirbel sorgte. Daran erkenne man die Dringlichkeit des Problems.
Starker Beifall für Christine Prayon
Sidar Carman erzählte von eigenen Erlebnissen bei der Wohnungssuche. Meldete sie sich am Telefon unter ihrem eigentlichen Namen, waren die Wohnungen angeblich meist vermietet. Rief sie nochmals wegen der selben Wohnung an und stellte sich als „Frau Schmitt“ vor, war plötzlich ein Besichtigungstermin möglich.
Carman kritisierte, dass Rechte kräftig Stimmung gegen MigrantInnen und Geflüchtete machten, die es ohnehin auf dem angespannten Wohnungsmarkt extrem schwer haben. „Die Stadt gehört uns allen, wir werden uns durch rechte Propaganda nicht spalten lassen“, betonte sie. Joe Bauer erklärte, dass der Demozug zum Marienplatz führen werde, der früher „Platz der SA“ hieß. Man müsse an diesen Tagen „immer an unsere eigene Geschichte erinnern, damit sich diese nicht wiederholt“. Auch die Kabarettistin Christine Prayon, bekannt als Birte Schneider aus der „Heute Show“, erhielt viel Beifall für den Slogan „Drinnen wohnen“.
Da sich zu Beginn der Kundgebung der frühere AfD-Politiker und Stadtrat Heinrich Fiechtner, jetzt Bündnis Zukunft Stuttgart 23 (BZS23), und der rechtsradikale Fellbacher Aktivist Michael Stecher auf dem Schlossplatz aufhielten, schadeten solch mahnende Worte sicher nicht.
Pfefferspray-Einsatz in der Heusteigstraße
Gegen 15.30 Uhr setzte sich der Demonstrationszug in Bewegung. Die Route führte vom Schlossplatz über die Planie zum Olgaeck und durchs Heusteigviertel bis zum Marienplatz. Vom oberen Parkdeck des Züblin-Parkhauses stieg blauer Rauch auf, und es wurde ein Transparent „Leerstand, Mietenwucher, Wohnungsnot. Das Problem heißt Kapitalismus“ enthüllt.
Gegen das Gebäude von Vonovia flogen Farbbeutel mit einer Granulat-ähnlichen roten Substanz. Damit wollten die DemonstrantInnen ihrem Unmut über die Geschäftspraktiken des Wohnungsunternehmens Vonovia zum Ausdruck bringen. Während des gesamten Demozuges gab es von PassantInnen und AnwohnerInnen durchweg positive Reaktionen.
Als in der Heusteigstraße an einem leerstehenden Geschäft Flyer mit Klebestreifen angebracht wurden, setzte die Polizei zum ersten Mal Pfefferspray ein. Die beiden Polizisten wirkten übernervös und schienen mit der Situation völlig überfordert zu sein. Auch in Sachen Pressefreiheit scheinen sie noch erheblichen Nachschulungsbedarf zu haben. Beide Beamte behinderten Pressefotografen bei ihrer Dokumentation.
Polizei stoppt Spontandemo mit Schlagstock und Pfefferspray
Am Marienplatz wurde die Demonstration offiziell beendet. Etwa 150 Personen formierten eine Spontandemo, wohl um zum Zentrum Lilo Hermann zu ziehen. Sie skandierten „Unser Viertel, unser Viertel“. Doch die Polizei hielt den Zug schon nach wenigen Metern auf. Sie setzte Pfefferspray aus nächster Nähe und Schlagstöcke gegen die DemonstrantInnen ein, obwohl sich auf der Straße auch PassantInnen, AnwohnerInnen und Kinder befanden, die nichts mit der Demonstration zu tun hatten. Ein am Rand stehendes Kind, das das Geschehen mitbekam, fragte sichtlich betroffen: „Warum macht die Polizei das, die Menschen weinen ja schon.“
Zeitweise war die Straße von beiden Seiten durch eine Polizeikette versperrt. Auch ein Anwohner, der vom Einkaufen kam und sich ausweisen konnte, durfte den Kessel nicht verlassen. Als die DemonstrantInnen der polizeilichen Aufforderung zum Marienplatz zurückzukehren folgten, wurden sie auch von dieser Seite aus durch die Polizei mit massivem Pfefferspray-Einsatz und Knüppeln angegriffen (siehe auch Videos unten).
Die Demosanitäter Südwest erklärten in ihrer Mitteilung, dass das Dunkelfeld bei der unübersichtlichen Situation deutlich höher als bei den verzeichneten 51 Verletzen durch Pfefferspray liegen könnte. Als sich die Situation beruhigt hatte, die Verletzten versorgt waren und der Kessel aufgelöst wurde, zogen die DemonstrantInnen zur Straßenbahnhaltestelle.
Hoffest auf dem Hofbräu-Areal
Am Abend luden einige AktivistInnen dazu ein, das seit mehreren Jahren leerstehende Gebäude der Hofbräu Brauerei in der Böblingerstraße in Heslach zu besichtigen. Sie besetzten es für einige Stunden symbolisch und luden zu einem spontanen Hoffest ein. Aldi hat das Areal von der Brauerei Stuttgarter Hofbräu gekauft. Dort soll der Verwaltungssitz der Firma untergebracht werden, und es sollen mehrere Eigentumswohnungen, darunter wohl nur vier Sozialwohnungen, entstehen.
Allerdings wurde der Baubeginn bereits für Frühjahr 2018 angekündigt. In der nebenan liegenden ehemaligen Filiale der Drogerie Schlecker soll eine Filiale von Aldi entstehen. Bisher stehen die Gebäudeteile aber leer. Die Einsatzkräfte beobachteten die symbolische Besetzung aus der Ferne, schritt aber nicht ein.
„Polizei wollte neue Hausbesetzung verhindern“
Die Polizei bestätigte am Samstag zunächst nur den „kurzen“ Einsatz von Pfefferspray. Aus ihrer Sicht habe es keine großen Auseinandersetzungen gegeben, betonte sie. Erst am Montag lieferte sie mit Verspätung eine auf viele Beobachter höchst originell wirkende Begründung für ihren Pfefferspray-Einsatz nach – und zwar auf Anfrage der „Stuttgarter Zeitung“ und ohne offizielle Pressemitteilung.
Polizeisprecher Stefan Keilbach zufolge haben die Beamten am Samstag drei Mal Pfefferspray eingesetzt. Unter die DemonstrantInnen gegen Wohnungsnot hätten sich nämlich „auch andere druntergemischt, die an diesem Tag wohl noch etwas anderes vorhatten“. In der Katharinenstraße seien Beutel mit roter Farbe gegen ein Haus geworfen und blaue Rauchbomben gezündet worden. In der Heusteigstraße habe die Polizei Posten vor einem leer stehenden Wohngebäude bezogen, um Demonstranten den Zugang zu verwehren, und erstmals Pfefferspray eingesetzt. So hätten die Polizisten „womöglich eine neue Hausbesetzung verhindert“.
Als sich nach Ende der Veranstaltung am Marienplatz die Spontandemonstration – laut Polizei mit etwa „50 Personen aus dem linksextremen Spektrum“ bildete, habe die Gruppe, in der sich auch „polizeibekannte gewaltbereite Personen“ aufgehalten hätten, keinen Versammlungsleiter benennen wollen. Allerdings ist uns auch unklar, auf welcher Rechtsgrundlage sie das hätte tun müssen. Bei einer Spontanversammlung gibt es keinen Versammlungsleiter. Laut Polizei habe wegen „vereinzelter Scharmützel“ im Bereich der Böblinger- und Tannenstraße zum zweiten Mal Pfefferspray „eingesetzt werden müssen“, so der Polizeisprecher.
Als die Gruppe zurück in Richtung Marienplatz gedrängt wurde, habe die Polizei verhindert, dass einzelne Teilnehmer „ausbrechen und neue Aktionen starten“ können. Hier habe zum dritten Mal „Pfefferspray zum Einsatz kommen müssen“, so Polizeisprecher Keilbach.
Die Fraktionsgemeinschaft SÖS/Linke-plus hält den Polizeieinsatz hingegeben für „vollkommen unverhältnismäßig“ und fordert eine Untersuchung.
„Der Polizeieinsatz bei der Mietendemo am Samstag wirft ein paar Fragen auf, die wir von der Stadt schriftlich beantwortet haben wollen:
1. Wie rechtfertigt die Polizei Stuttgart den Einsatz von Pfefferspray gegen Personen, die friedlich bedruckte Papierzettel an die Fassade des leerstehenden Gebäudes in der Heusteigstraße 74 angebracht haben?
2. Wie erklärt sich die Polizei Stuttgart die Anzahl von 55 durch Pfefferspray und Schlagstöcke verletzten und durch die Sanitätsgruppe Süd-West e.V. ärztlich versorgten TeilnehmerInnen der spontanen Demonstration in der Böblinger Straße nach Auflösung der offiziellen Veranstaltung am Marienplatz?
3. Aus welchen Gründen wurde die spontane Demonstration durch den unmittelbaren Einsatz von Pfefferspray und Schlagstöcken nach wenigen Metern von bewaffneten Polizeikräften gestoppt, anstatt diese weiterlaufen und von den sich vor Ort befindenden Polizeikräften begleiten zu lassen?
4. Bezeichnet die Stadt den massiven Schlagstock- und Pfeffersprayeinsatz durch die Polizeikräfte als verhältnismäßig und unvermeidbar?
5. Gab es am Samstag, 6. April im Laufe der Demonstration und danach PolizeibeamtInnen, die verletzt wurden? Wenn ja wie viele und wodurch?“
Die Bürgerrechtsorganisation Demobeobachtung-Südwest prangerte in ihrem Bericht über die Demonstration die „unnötige Gewaltanwendung der Stuttgarter Polizei“ heftig an und stellt die Frage: „Möchte die Polizei wirklich behaupten, sie habe vor der Alternative „Schießen oder Sprühen“ gestanden?“
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