Von Alfred Denzinger – Stuttgart. Der Vorwurf klang kolossal: vorsätzliche Körperverletzung durch gewalttätigen Widerstand. Gegen den Strafbefehl in Höhe von 3000 Euro legte die junge Feministin Einspruch ein. Schließlich verurteilte die Amtsrichterin die Angeklagte am Montag, 15. August, zu 2000 Euro zuzüglich Kosten. Die „vorsätzliche Körperverletzung“ soll sich am 8. März dieses Jahres ereignet haben. Bei einem Zwischenfall, den das Aktionsbündnis 8. März in seiner damaligen Pressemitteilung so beschrieb: „Einige Frauen von uns standen auf dem Platz vor dem Gewerkschaftshaus, andere räumten noch die letzten Sachen auf, als die Polizei plötzlich mit unzähligen Einsatzkräften den Platz stürmte und uns angriff“ (siehe hierzu „Gewalt gegen Frauen am Frauenkampftag„).
Vor Beginn der Gerichtsverhandlung versammelten sich vor dem Amtsgericht über 50 Menschen, um sich mit der Angeklagten zu solidarisieren. In den Redebeiträgen (siehe Videos unten) wurden der Angeklagten eine große Sympathie und eine breite Solidarität bekundet. Die Polizei und die Sicherheitskräfte der Justiz sorgten für eine Außenwirkung, die das Szenario einem „Terroristenprozess“ ähneln ließ. Vergitterter Eingang zum Hof des Amtsgerichts. Großes Aufgebot von Polizei und Justizkräften. Verbale Einschüchterungsversuche gegen Pressevertreter. Kontrolle der Besucher im Amtsgericht.
Einsatzleiter: Groß und kräftig, aber offenbar sehr empfindlich
Laut Staatsanwaltschaft soll die Anklagte vor dem Stuttgarter Gewerkschaftshaus beim Bekleben eines Straßenschildes beobachtet worden sein. Bei der darauf folgenden Polizeikontrolle soll sie sich vom „Polizeigriff losgerissen“ haben. Die Staatsanwältin sah darin einen „gewalttätigen Widerstand“.
Der damalige Einsatzleiter, ein kräftiger, großer – geschätzt um die 100 Kilo – Mann, berichtete im Zeugenstand über die Ereignisse. Nach Beendigung der Demonstration (wir berichteten) habe ihn ein Funkspruch erreicht, „dass da Leute an einem Straßenschild was machen“. Wegen des Verdachts auf Sachbeschädigung habe er eine Personenkontrolle durchführen wollen. Trotz Aufforderung, stehen zu bleiben, sei die Angeklagte weitergelaufen. Er habe sie am Ärmel festgehalten. Danach will er von etwa 15 Personen umringt worden sein. Die Angeklagte habe mehrfach versucht sich loszureißen. „Ich hatte sie am Ärmel – am Stoff. Sie hat massiv gezogen. Es kam so eine Gewalt auf. Ich musste dann irgendwann loslassen“, schilderte der bullige Polizeibeamte. Er habe dadurch eine Zerrung erlitten. Der 44-jährige polizeiliche Einsatzleiter will anschließend zwei bis drei Tage Schmerzen gehabt haben, Dienstunfähigkeit bestand freilich nicht, und natürlich wurde auch kein Arzt konsultiert.
Der Beamte will auch Angst um die Angeklagte gehabt haben, welche er eindeutig erkannt haben will. Auf die Frage von Rechtsanwältin Michaela Spandau, ob die Person eine Maske trug, antwortete der Polizist: Weiß ich nicht mehr genau. 95 Prozent keine Maske“. Was hatte die Person an? „Winteranorak. Rest weiß ich nicht mehr“. Frisur? „Weiß ich nicht mehr“. Aber: „Es war eindeutig die Angeklagte“ – „an was ich sie erkenne, kann ich nicht sagen“. Später habe er als Einsatzleiter schließlich die „Festnahme freigegeben“.
Polizeizeuge will Angeklagte an „lila Sachen“ erkannt haben
Ein weiterer Polizeizeuge (Polizeihauptkommissar, 29 Jahre) will den Vorfall beobachtet und die Angeklagte erkannt haben. Er will sie auch auf einer Leiter am Verkehrsschild gesehen haben. Lila Schuhe und sonstige „lila Sachen“ seien ihm besonders aufgefallen, und „daran habe ich sie wiedererkannt“. Die Angeklagte habe einen Zopf oder Pferdeschwanz getragen, so der Kommissar. Polizeiliche Videoaufnahmen von der Festnahme der Angeklagten bestätigten diese Aussage nicht.
Das Verkehrsschild, das der Grund für den Einsatz war, sei nicht überprüft worden. Auf die Frage von Rechtsanwältin Landau, ob die Farbe lila bei dieser Kundgebung öfter zu sehen gewesen sei, antwortete der Beamte mit „ja, das war oft auf der Kundgebung zu sehen“. Landau hakt weiter nach: „Wie kommt es, dass sie bei ihrer dienstlichen Einlassung (Anmerkung der Redaktion: Aussage direkt nach dem Einsatz) nicht erwähnten, dass die Angeklagte auf der Leiter war?“ „Weiß ich nicht mehr. Kann ich nicht sagen. Ich saß hinten links im Vito, da habe ich gesehen, wie die Person von der Leiter stieg und sich in Richtung des Gewerkschaftshauses bewegte“, so der Zeuge.
Richterin geht über die Forderung der Staatsanwältin hinaus
Die Staatsanwältin sah es als erwiesen an, dass die Angeklagte sich im Sinne der Anklage schuldig gemacht habe. Sie forderte ein Geldstrafe von 50 Tagessätzen à 30 Euro (1500 Euro) plus Kosten wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Widerstands. Rechtsanwältin Spandau forderte Freispruch, da die Zeugenaussagen nicht überzeugend gewesen seien.
Der ursprüngliche Strafbefehl beinhaltete 60 Tagessätze à 50 Euro, somit 3000 Euro. Die Richterin verurteilte die Feministin zu 2000 Euro zuzüglich Kosten (50 Tagessätzen à 40 Euro).
Der Strafantrag wurde nicht nur vom Einsatzleiter, welcher verletzt worden sein will, gestellt, sondern auch von dessen Vorgesetztem, Markus Eisenbraun. Der Stuttgarter Stadtrat Luigi Pantisano sagte nach der antifaschistischen Demonstration am 2. Juli 2022 in Stuttgart-Bad Cannstatt über Eisenbraun: Es sähe so aus, „als wolle der neue Polizeichef Markus Eisenbraun zeigen, wo der Hammer hängt.“ Siehe hierzu auch „Polizei vereitelt Anti-AfD-Demonstration„). Seit 1. August ist Eisenbraun als Stuttgarter Polizeipräsident im Amt.
Videos / Audios
Folge uns!